Ich erreiche Marin Alsop per Skype in Brüssel, wo sie im Finale des Königin-Elisabeth-Klavierwettbewerbs dirigiert. Normalerweise bevorzugt sie in ihren Konzerten ein breitgefächertes Repertoire; musste sie dort jetzt immer wieder dasselbe Stück dirigieren? »Dreimal Prokoviews zweites, dreimal Rachmaninoffs drittes Klavierkonzert, aber sonst jedes Stück nur einmal«, sagt sie und lacht erleichtert. Seit 2007 leitet Alsop das Baltimore Symphony Orchestra. Seit 2012 ist sie gleichzeitig Chefdirigentin des Orquestra Sinfônica do Estado de São Paulo (OSESP). Im September 2019 wird sie Nachfolgerin von Cornelius Meister als Chefdirigentin des Radio-Symphonieorchester Wien.
VAN: Sind Sie ein Fan der Fernsehserie The Wire?
Marin Alsop: Ich habe tatsächlich gerade angefangen, sie zum zweiten Mal zu gucken. Wirklich eine unglaublich gute Serie. Für jeden in Baltimore ist sie ein zweischneidiges Schwert: Einerseits ist es traurig, dass viele die Stadt nur wegen der Serie kennen und dass die Handlung in vielem so sehr der Realität entspricht. Andererseits sind wir glücklich, dass die Leute nun überhaupt mehr über Baltimore wissen.
Kannten Sie die Serie schon, als sie 2007 musikalische Leiterin des Baltimore Symphony Orchestra wurden?
Nein, ich habe erst danach angefangen zu gucken.

Sie haben in Baltimore das Education-Programm OrchKids ins Leben gerufen, von dem zu lesen ist, dass es von El Sistema inspiriert sei. Stimmt das?
Sowas sagen Journalisten gerne, vielleicht weil es eine einfache und bekannte Referenz gibt. Ich kenne aber El Sistema gar nicht gut genug, um es mir zum Vorbild zu nehmen. Ich glaube, die Idee, Musik für jüngere Menschen zugänglich zu machen, ist generell eine großartige. OrchKids basiert im Gegensatz zu El Sistema mehr auf kleineren Ensembles, wo auch populäre Musik gespielt wird. Wir haben zum Beispiel eine Jazzband. Es ist nicht unser Ziel, ein großartiges Orchester aufzubauen, auch wenn dagegen nichts einzuwenden wäre. Wir wollen den Kindern ein Gefühl dafür geben, was alles möglich ist im Leben; wir wollen, dass sie sich Dinge vorstellen können, die sie sich bisher vielleicht nicht einmal erträumt haben. Geiger oder Anwalt, Arzt oder Softwarentwickler – it’s all good for me.
Ein Autor des Baltimore Magazine hat Sie für einen Beitrag zu Hause besucht, in einer renovierten Kirche. Leben Sie dort noch?
Nicht mehr, wir sind mit der Familie vor einiger Zeit in ein größeres Haus umgezogen. Die Wohnung in der alten Abtei nutze ich jetzt als Büro, es ist wirklich wunderschön dort.
Wünschen Sie sich wegen der Atmosphäre auch für das Orchester manchmal so einen cathedral sound mit langem Nachhall?
(lacht) Nein, ich glaube nicht. Aber ich mag alte Dinge. Meine Eltern, die beide Profimusiker waren, renovierten gerne alte Häuser – sie handelten auch mit antikem Zeug. Ich liebe die Verbindung aus Tradition und Schönheit.
Haben Sie in São Paulo schon einen gleichwertigen Arbeitsraum gefunden, wenn Sie dort mit dem OSESP arbeiten?
Nein, ich bin da unten immer in Hotels. Sie waren noch nie in São Paulo, oder?
Nein. Ich hatte einmal vor, nach Rio zu fahren, aber mein Antrag auf ein Touristenvisum wurde abgelehnt, weil ich damals nicht genügend Geld hatte.
Die ganze Visumssache ist wirklich nervig. Alle 90 Tage muss ich mein Arbeitsvisum erneuern und dafür jedes Mal herausfinden, wie und wann ich am besten meinen Pass einschicke.
São Paulo ist … also, wenn du das erste Mal mit der Stadt konfrontiert wirst, denkst du: ›damit werde ich nicht fertig‹. Aber gleichzeitig sind die Menschen dort so zauberhaft. Sie haben zuletzt große politische Umbrüche erlebt, es gibt Demonstrationen mit anderthalb Millionen Menschen auf der Straße, die komplett friedlich verlaufen. Das ist eine Schönheit der Menschlichkeit, die ich so noch nirgendwo anders gesehen habe.
Welche Bedeutung hat es für das OSESP vor dem Hintergrund des politischen Aufruhrs, im Sommer durch Europa zu touren?
Es ist natürlich großartig für das Orchester, aber auch für São Paulo und das ganze Land, Brasilien auf so prestigeträchtiger Bühne zu vertreten und einige Menschen dabei vielleicht mit der Qualität des Orchesters, seiner Leidenschaft, Musikalität und Kompetenz zu überraschen. Die Leute können sehen, dass Brasilien mehr ist als all diese politischen Skandale; dass die Brasilianer in Wahrheit ein anspruchsvolles und kultiviertes Volk sind. Das ist es, was die Tour vermitteln kann. Vielleicht nicht in so vielen Worten. Viele Menschen, die uns zum ersten Mal zuhören sagen: ›Wow, ich hatte ja keine Ahnung, dass das Orchester so fantastisch ist!‹ Es ist in der Lage, einige der Stereotype über Brasilien aufzubrechen, die es reduzieren wollen auf Fußball und Samba, oder heutzutage: auf den politischen Sumpf, das Zika-Virus oder welchen Eindruck auch immer die Leute gerade haben.

Hartmut Welscher hat in VAN einen Artikel darüber geschrieben, wie groß der Kontrast ist zwischen dem Innenleben des Sala São Paulo, der Heimstätte des OSESP, und der Gegend, in der er sich befindet. Wie ist Ihre Wahrnehmung davon?
Es ist vermutlich eine der krassesten Ausprägungen von etwas, von dem jeder weiß, dass es existiert: die große wirtschaftliche Ungleichheit, eine Ungleichheit der Lebensverhältnisse. Der Konzertsaal an sich ist traumhaft, aus der Sicht eines Musikers einer der schönsten und akustisch besten der Welt. Aber er liegt auch in einer sehr sehr benachteiligten Gegend. Es ist schon ein extremer Kontrast, wenn man aus dem Konzertsaal hinaus auf die Straße tritt.
Wer besucht die Konzerte des OSESP?
Das ist ein bisschen schwierig zu sagen. Man muss wissen, dass circa 60 Prozent unserer Tickets kostenlos sind. Das Publikum gehört schon eher zur Mittelschicht, was normal ist, aber wir versuchen, die Konzerterfahrung für möglichst viele Menschen zugänglich zu machen. Das Preisniveau der Karten, die verkauft werden, ist auch sehr viel niedriger als in Europa oder den USA. Es ist eine Erfahrung, die für viele erschwinglich ist. Wir haben das Mandat und die Mission, für so viele Menschen wie möglich zu spielen, auch weil wir finanzielle Unterstützung vom Staat bekommen.
An Orten wie Südamerika besitzt klassische Musik auch ein kolonialistisches Erbe. Haben Sie das Gefühl, diesbezüglich besonders vorsichtig sein zu müssen?
Oh, das geht ein bisschen zu weit, würde ich sagen. São Paulo fühlt sich nicht an wie ein Außenposten. Wir vergeben jedes Jahr fünf Auftragswerke an brasilianische Komponist/innen, was glaube ich ziemlich einmalig ist. An das OSESP angeschlossen ist auch ein kleiner Verlag, der unbekanntere oder verloren geglaubte Werke brasilianischer Musik restauriert, ausgräbt, unterstützt. Von allen Orchestern, die ich auf der Welt kenne, spielen wir, glaube ich, die breiteste Repertoireauswahl: angefangen bei brasilianischer Musik, natürlich Villa-Lobos, aber auch Komponisten wie [Francisco] Mignone, [Camargo] Guarnieri, von denen ich vorher noch nie gehört hatte, bis hin zum Schönberg-Schwerpunkt.
Was sind denn die interessantesten Entdeckungen, die Sie dabei gemacht haben?
Ich habe viel mehr Musik von Villa-Lobos kennengelernt. Ich fühle mich jetzt auch seiner Seele viel näher. Wenn du in und mit einer Kultur lebst, fängst Du irgendwann an, dich zu ihr in Bezug zu setzen. Die größte Überraschung waren für mich aber Mignone und Guarnieri, die sind aus dem frühen 20. Jahrhundert.
Ich bin immer auf der Suche nach neuen, jungen brasilianischen Komponisten. Auf der Tour spielen wir aber das Stück eines Älteren, Marlos Nobre, er ist schon über 70. Seine Sachen sind sehr cool, hochrhythmisch, was ihm diese Prise Villa-Lobos, aber auch was von der brasilianischen Variante populärer Musik verleiht. Ich liebe es, Musik kennenzulernen, die diesen Faden – ich weiß nicht ob es ein »Folk«-Element ist? – weiterspinnt. ¶