Mit den Nomaden des Mahler Chamber Orchestra nach Hause
Orchester ohne festen Wohnsitz: Das Mahler Chamber Orchestra (MCO) ist ein nomadisches Kollektiv. Es ging 1997 aus Claudio Abbados Gustav Mahler Jugendorchester hervor und ist ungefähr 200 Tage im Jahr auf Tour. Der einzige geographische Fixpunkt ist das norditalienische Städtchen Ferrara, wo das MCO seit 1998 regelmäßig probt und konzertiert – zuletzt mit Daniele Gatti und Beethovens Sinfonien 8 und 9. Barbara Doll war in Ferrara und beim Gastspiel in Turin dabei; sie berichtet für VAN, was Ferrara für das MCO bedeutet, wie die dauerreisenden Musiker/innen drauf sind und was sie gerade zusammenhält.
Ferrara empfängt mich mit einer klatschenden Watschn. Ankunft am Bahnhof, raus aus dem Zug und durch den Bahnhofs-Vorraum in den Schreibwarenladen. Vielleicht gibt es ein kleines Notizheft, das alte wird wohl nicht reichen. Es gibt eins, wunderbar, und dann ist da dieser junge Mann, der nicht locker lässt, bis ich ihm sage, wo ich herkomme. »Sweden?« No. »Germany?!« Yes. »Go out, go out, go out!« Böse, laut, aggressiv. Oh, Ferrara! Stadt, in der Frescobaldi zur Welt kam und De Chirico malte.

Schnell vom Bahnhof ins Zentrum, dort ist alles wunderhübsch und freundlich, das MCO probt im Teatro Comunale Claudio Abbado. Der Dirigent hatte sich nach dem schlimmen Erdbeben 2012 stark für die Sanierung des 1798 eröffneten Theaters eingesetzt.

In Ferrara heißt das MCO nur: »La Mahler«. Für die Musiker/innen bedeutet die Stadt Heimat. Beidseitige Identifikation. Zur öffentlichen Generalprobe kommen viele junge Leute, das MCO klingt wach, knackig, transparent. Danach werden die Instrumente verladen und für das Konzert am darauffolgenden Tag nach Turin gefahren. Ein Teil des Orchesters marschiert über das knubbelige Kopfsteinpflaster Richtung Stammlokal, das versteckt am Rande der Altstadt liegt und von außen wenig einladend aussieht. »Il Frantoio«, erzählt der französische Geiger Geoffroy, war ein Tipp von Claudio Abbado höchstpersönlich. Abgewetzte, urige Holztische, schummriges Licht, Backstein-Weinregale, karierte Tischdecken – und die Ferrareser Spezialität Cappellacci, kleine Teigtaschen mit Kürbis-Füllung.
Die Residenzen in Ferrara fühlen sich an wie »being away from the world«, sagt Geoffroy – Gründungs- und Vorstandsmitglied des MCO, exzellenter Orchester-Fotograf – und zugleich wie »being at home«. Über Claudio Abbado kam einst die Verbindung mit dem Veranstalter Ferrara Musica zustande, und gerade hier in Ferrara, sagt Geoffroy, könne er Abbado noch immer vor sich sehen. »Er hat einen immer so fokussiert«, sagt er und beugt sich nach vorne, »du hattest das Gefühl, er schaut direkt in dich rein.« Von Abbado hätten die Musiker/innen gelernt, aufeinander und auf die richtigen Dinge zu hören. Kammermusik – das funktioniert demnach auch in einem großen Orchester.

Aber Angst in Musiker-Augen? Bei Abbado keine Chance. Er soll auch gnadenlos aussortiert haben. Bei ihm konnte man lernen, mit Lampenfieber umzugehen. Geoffroys persönliches Lampenfieber-Teufelchen heißt Bob, und manchmal ist Bob noch immer auf der Bühne dabei. Dann versucht Geoffroy, innerlich mit ihm zu reden: »Ok, Bob, du bist jetzt da. Aber sitz’ bitte neben, nicht auf mir!« Bei der berühmtesten Lampenfieber-Patientin der Musikwelt dürfte eine solche Beschwörung nicht helfen: Die Pianistin Martha Argerich, erzählt Geoffroy, wollte einst bei einem Konzert mit Abbado nach dem ersten Satz aufstehen und gehen. Abbado konnte sie davon abhalten – mit einer kleinen, beruhigenden Geste.

Das Programm am nächsten Vormittag: knapp fünf Stunden Busfahrt nach Turin. Einpacken, auspacken, am Bus anstellen, warten, fahren, lesen, dösen, aus dem Fenster schauen. Gemeinsam in die Autobahn-Raststätte einfallen, an der Kasse warten, Espresso trinken, zum Bus zurückpilgern, weiterfahren. Draußen die Po-Ebene, öd und weit. Es sind immer wieder dieselben Situationen, die das Leben auf Tour mit sich bringt. Gedulds- und Warte-Rituale, die zermürben können. Es gibt genügend Kollegen, sagt ein Musiker im Bus, die haben sich irgendwo eine feste Stelle gesucht, die waren nicht gemacht fürs Wanderleben.

Wie in jeder Gruppe gibt es im MCO solche und solche Charaktere: die Entflammten, die sich mit Haut und Haar dem Orchester verschrieben haben, die Neutralen – und einzelne Nörgler, die ein bisschen schimpfen. Wozu so eine lange Fahrt und am nächsten Tag dieselbe Strecke wieder zurück? Überhaupt Ferrara: Wenn man hier zwei, drei Wochen festsitzt – wie früher bei Opernproduktionen mit Abbado –, kann es ziemlich eng werden in der kleinen Stadt. Aber die Stimmung ist gut in den Bussen. Eine Geigerin, die zum ersten Mal dabei ist, sagt: »Es fühlt sich an, als würde man mit Freunden Urlaub machen.«

Auch Tour-Realität: Man kommt irgendwo an, hat noch ein paar Stunden bis zum Konzert und würde gerne was von der Stadt sehen – stellt aber fest, dass man weitab des Zentrums sitzt und sich der Weg nicht lohnt. In Turin gibt es immerhin ein grausam trostloses Shopping Center neben dem Hotel: Juventus-Turin-Shop ohne Kundschaft, Karussells und Trampoline ohne Kinder. Der Konzertsaal, das Auditorium Giovanni Agnelli, ist auch in dem riesigen Komplex untergebracht – dem ehemaligen Fiat-Fabrik-Gebäude im Stadtteil Lingotto, vom Architekten Renzo Piano neu gestaltet und modernisiert.

Busfahren macht müde, Espresso in der Konzertpause wäre gut. Allein: Die Schlange vor dem Ausschank ist lang, sehr lang. Und die Massenabfertigung funktioniert hier nicht so maschinell flott wie anderswo. Die vier Baristas schaffen es mit aller Lässigkeit und Charme nicht, alle Leute zu versorgen, so dass es aber wiederum ziemlich hinreißend ist. Als das Signal zur zweiten Hälfte kommt – das passiert hier nicht per Klingel, sondern mit Hinauf- und Hinunterdimmen der Lampen im Foyer –, macht ein Drittel der Schlange kehrt, aber das keineswegs schimpfend, sondern völlig entspannt. Ich bekomme noch meinen Espresso, schaffe ihn aber nicht mehr ganz und sprinte zurück in den Saal.

Das MCO spielt mit Charme und Größe, auch wenn der Saal mit seiner mulmigen Akustik vieles verschluckt. Jedes Musiker-Gesicht ist wach und präsent, man hört bis dato unbekannte Details aus den Beethoven-Sinfonien heraus. Die Bläser-Soli: flüssig, klar, auf den Punkt. Individualisten, die auch Schrullen zeigen, bilden in diesem Orchester ein Ganzes – genauso wie im Publikum. Der ältere Herr mit der zerfledderten Partitur, die er kein einziges Mal aufschlägt, aber versonnen mitdirigiert. Der andere ältere Herr, der seine gleichaltrige Frau alle Augenblicke hingerissen von der Seite mustert.
Daniele Gatti holt einen großen, warmen Klang aus dem Orchester, sein Arbeiten scheint dem MCO gut zu tun. Deshalb bekommt er später am Abend im Hotel offiziell die neu geschaffene Position des »Artistic Advisor« übertragen: Damit will das MCO Gatti zeigen, dass sein Rat ihm wichtig ist – und dass es künftig regelmäßig bei ihm anklopfen will. Da es ja keinen Chefdirigenten gibt, soll es jemanden geben, der als Korrektiv und als Anlaufstelle bei künstlerischen Auseinandersetzungen dient. Seit einer Lulu-Produktion bei den Wiener Festwochen 2010 arbeitet Gatti immer wieder mit dem MCO zusammen, das Orchester, sagt er, sei »ein kleines Juwel« im Musikbetrieb.
Ein paar Schritte weiter treffe ich Jaan an der Hotelbar. Jaan ist Klarinettist, kommt ursprünglich aus Belgien und lebt im Taunus, er spielt im Ensemble Modern, er komponiert und unterrichtet. Ich frage ihn, wie es eigentlich ist, zum gefühlt 200. Mal Beethovens Neunte zu spielen – und werde überrascht: »Die Neunte habe ich heute zum ersten Mal gespielt, die Achte dafür schon ungefähr 130 Mal.« Wir überlegen, wer mehr Bier verträgt – der belgische Klarinettist oder die bayerische Journalistin – und bestellen das erste. Menabrea.
Jaan, was hält die MCO-Musiker zusammen? »Ich glaube, dass wir alle eine gute Schule hatten – Abbado, Harding – und eine Phase, in der wir ziemlich fest geübt haben. Was ich hier so schätze, ist, dass wir immer Kammermusik machen, dass wir einander aufmerksam zuhören.« Demokratie und Eigenverantwortung, darum geht es im Orchester, »es ist eine Gesellschaft in klein«. Kein Platz für arrogante Maestros, dafür umso mehr für selbstbewusste Musiker. Ja, ein Dirigent könne dirigieren, »aber ich bin auch gut auf meiner Tröte«, sagt Jaan. Von den Maestros kommen wir auf überhebliche Menschen im Allgemeinen und wie man diesen am besten begegnet (Jaans Ansatz: einfach barfuß erscheinen) – von dort auf seine Klezmer-Band, den Psalm »De profundis«, die Bach-Kantate »Aus der Tiefen …« und die Frage, ob Leopold Stokowskis romantisierende Bach-Bearbeitungen eigentlich kitschig oder faszinierend sind. Sie sind beides. Am Ende schlägt Belgien Bayern in Sachen Menabrea 3:2.

Wieder Autostrada, Bus, Raststätte. Es geht zurück nach Ferrara, heimwärts. Michiel sagt, er habe bei 35 bis 40 Probenphasen in Ferrara schon mindestens ein Jahr seines Lebens in der Stadt verbracht. Wer wie er ein Drittel des Jahres unterwegs ist, braucht eine feste Basis: Der Geiger lebt in Amsterdam in dem Haus, in dem er geboren wurde, und genauso wie Jaan ist er seit Beginn im Orchester dabei. Früher habe man sich noch die Hotelzimmer teilen müssen, und ja, auch die Partys waren mal wilder. Norberto, der Wirt des »Da Settimo« – das zweite MCO-Stammlokal neben »Il Frantoio« – grillte ihnen Spanferkel, ließ sie Drinks mixen und gab ihnen den Schlüssel zum Zusperren, wenn er todmüde war und sie noch weiterfeiern wollten. »Heute ist schon mehr Disziplin«, sagt Michiel, außerdem habe man mehr Verantwortung: Im Zweier-Sitz gegenüber sitzt sein zwölfjähriger Sohn. Er hat Hip Hop auf den Kopfhörern, liest Karl May und mag Fußball. Klassik? Nicht so. Was er cool findet, sind die Reisen, die schönen Hotels, das Fliegen.

Genau das ist auch ein zentrales Merkmal der Orchester-DNA. »Touring is the only way«, sagt Michiel. Wäre das MCO an einem Ort ansässig, würden die Strukturen erstarren und die Musiker träge, es gäbe nicht diese spezielle Energie. Die MCOler kommen aus 20 verschiedenen Ländern und haben jenseits der Projektphasen kaum Kontakt. Wenn sie dann wieder zu einer Tour zusammenkommen, haben sich viele neue Ideen und Gesprächsstoff angesammelt. Außerdem ist die Konzentration stärker, weil sie komplett aus ihrem Alltag raus sind: kein Zahnarzttermin, kein Behördengang, keine Hausaufgabenbetreuung. Nur Musik.
»Ich kenne sie alle«, sagt Antonio, »ich habe gesehen, wie sie sich entwickelt haben, wie sie geheiratet und Kinder gekriegt haben.« Der kleine, runde Mann faltet zufrieden die Hände und grinst. Er arbeitet an der Rezeption im Hotel Touring, dem Lieblings-Hotel vieler MCO-Spieler/innen, einige schlafen ausschließlich im Hotel Touring. Antonio kennt das Orchester seit fast 20 Jahren. Er sieht die Musiker, wenn sie losziehen Richtung Theater, mit Frack und glänzenden Schuhen, er spürt ihre Spannung vor dem Konzert. Manchen richtet er noch schnell die Krawatte. Er erinnert sich an die wilden Zeiten, als Musiker auf dem Heimweg von »Da Settimo« den Hoteleingang verpasst haben; er hat sie dann zurückgelotst. Wenn Antonio über die Musik, das MCO und Abbado (»a teacher for life«) redet, wird sein Tonfall ehrfürchtig, er flüstert fast. Mit einer Musikerin habe er einmal die halbe Nacht über die Parallelen zwischen Isaac Newton und Bach philosophiert. Antonio kommt aus einer musikliebenden Familie, eigentlich ist er Kapitän.

Er liebt das MCO, »weil die Leute sich mögen und bei Problemen unterstützen«. Weil sie stets Neues entdecken wollen und Neues in die Stadt bringen. Deshalb, sagt Antonio, sei es auch höchste Zeit, dass im Rathaus von Ferrara ein Bild des MCO aufgehängt wird. Er kennt den Bürgermeister und hat schon alles klar gemacht. Auf dem Bild will er dann auch drauf sein – in der ersten Reihe. Beim Konzert am Abend kann Antonio zwar nicht dabei sein, aber er wird danach an der Rezeption sitzen und die Musiker empfangen – mit dieser Herzenswärme, die für Ferrara viel typischer ist als die Watschn am Bahnhof. ¶