Eine tansanisch-deutsche Musiktheaterproduktion stößt die Debatte über die Aufarbeitung eines der größten deutschen Kolonialkriege in Afrika an.

Text · Fotos Nils Klinger / Staatstheater Kassel · Datum 10.5.2017

Im Stück Maji Maji Flava widmen sich die Cellistin und Performerin Lisa Stepf und ihre Kompanie Flinn Works in Kooperation mit der tansanischen Gruppe Asedeva dem Maji Maji Krieg im ehemaligen Deutsch-Ostafrika, bei dem verschiedene Bevölkerungsgruppen 1905-1907 gegen die deutsche Gewaltherrschaft kämpften. Es war einer der größten Kolonialkriege in Afrika, der bislang jedoch noch keinen Weg ins deutsche kollektive Gedächtnis gefunden hat. Dies könnte sich nun möglicherweise ändern: Kurz nach der Aufführung des Stückes in Daressalam im Januar 2017 kommt es im tansanischen Parlament zu Diskussionen über Reparationszahlungen. Erstmalig, nach 110 Jahren Schweigen. Plötzlich sprechen deutsche Medien über den »vergessenen Krieg der Deutschen«. Unerwähnt bleibt der Auslöser der Debatte – ein transnationales Musiktheaterprojekt zwischen Kassel, Berlin und Daressalam.

»Das Cello musste auf die Bühne, auch als Symbol für die klassische Hochkultur.« Im Eingang von Lisa Stepfs Wohnung in Berlin Kreuzberg steht ein zerbrochenes Instrument, Risse im Resonanzkörper, abgeschlagene Wirbel. Es sieht aus wie gefoltert – und genau das wurde es auch, in einem Stück über Kriegsverbrechen im Kongo vor ein paar Jahren. Für ihr letztes Projekt in Tansania musste sie wegen der klimatischen Bedingungen vor Ort ein lokales Cello auftreiben. Mit Lackstift bemalt und ansonsten ziemlich nackt kam es dann über mehrwöchige Umwege aus Sansibar irgendwann nach Daressalam. »Ich glaube, es gibt noch Bilder davon, wie ich es zum ersten Mal sehe, es war in einem desolaten Zustand.«

Foto Sophia Stepf
Foto Sophia Stepf

Dass ihre Liebe zum Cello nicht in die klassische Karriere führen würde, war Lisa Stepf früh klar. Lieber macht sie die Aufnahmeprüfung an einer Clownsschule, eine Yogalehrerausbildung, studiert ästhetische Praxis. Mit Mitte zwanzig gründet sie das Streichquartett Quartett plus 1 und übernimmt mit ihrer Schwester Sophia Stepf die künstlerische Leitung von Flinn Works: Musiktheater mit »zeitgenössischen Stücken zu unserer globalisierten Welt«. Zusammen mit weiteren Künstler*innen betreiben sie Feldforschungen in Nigeria und in der Textilindustrie in Bangladesch, arbeiten selbst eine Zeit lang als Näherinnen. Gerade kommen sie zurück aus Kiev von einer Undercover-Recherche zum Thema transnationale Leihmutterschaft. Die Projekte der Kompanie lesen sich wie Kristallisationspunkte einer aus den Fugen geratenen Welt. »Die Themen sind Inspiration für uns«, erzählt Stepf. »Auch die Differenzen und Reibungen, die in den international zusammengesetzten Teams entstehen, sind künstlerisch total interessant.« Worum geht es denn jetzt, um Kunst oder Politik? »Um Kunst.«

Auf den Maji Maji Krieg stoßen Sophia Stepf und Konradin Kunze von Flinn Works 2007, bei einem Theaterworkshop des Goethe Instituts in Tansania. Auch sie erfahren hier erstmalig von diesem gemeinsamen Stück Geschichte und entscheiden, zusammen mit dem tansanischen Choreographen Isack Peter Abeneko irgendwann ein Projekt dazu zu machen. Im Januar 2016 ist es soweit: Gefördert vom Turn Fonds der Bundeskulturstiftung kann die Arbeit beginnen, mit einem mehrwöchigen »Skills Exchange« zwischen Flinn Works und der Kompanie Asedeva in Tansania sowie Mitgliedern des Kasseler Staatstheaters. Anders als einige andere Nord-Süd Projekte – auch Schlingensiefs Operndorf steht immer wieder deswegen in der Kritik – vermeiden sie den Fehler, die lokale Szene zu wenig oder mehr theoretisch als praktisch einzubinden. Beide Kollektive arbeiten von Anfang bis Ende gemeinsam, setzen sich mit allen politischen und künstlerischen Fragen intensiv auseinander. »Das war natürlich nicht immer einfach, wir kommen auch ästhetisch aus ganz anderen Richtungen«, so Lisa Stepf. »Aber es ging uns auch nicht um komplette Einigkeit. Wir wollten bewusst auch die Differenzen, die verschiedenen Perspektiven auf dieses gemeinsame Stück Geschichte sichtbar machen. In vielen Punkten bleibt es dann einfach offen.«

Eine Musiktheaterproduktion stößt die Aufarbeitung eines dt. Kolonialkrieges in Afrika an. https://www.van-magazin.de/mag/maji-maji via @vanmusik

Als Teil einer ausführlichen, gemeinsamen Recherche besuchen sie Kriegsschauplätze, reisen in den Süden des Landes, wo die Auswirkungen des Krieges bis heute am deutlichsten spürbar sind. Sie sprechen mit Journalisten, mit Historikern und direkten Nachfahren. Eine ältere Frau erzählt ihnen, wie ihre Großmutter irgendwann Steine kochte, als der Hunger zu groß wurde. Große Teile des Landes waren mit der Strategie der »verbrannten Erde« unfruchtbar gemacht worden, um die Bevölkerung auszuhungern. Viele andere tansanische Kämpfer, die sich unter dem Schlachtruf »Maji Maji« gegen die Besetzer auflehnten, wurden gehängt oder mit Schnellfeuergewehren erschossen. Ein Mythos besagte, dass sich die Gewehrkugeln der Deutschen in Wasser verwandeln würden. 15 Toten auf deutscher Seite stehen bis zu 300.000 afrikanischen Opfern gegenüber. Eine Asymmetrie, die sich auch im globalen Gedächtnis fortsetzt: Während in Tansania jedes Schulkind die Geschichte von Maji Maji kennt und die tansanischen Kämpfer bis heute als Widerstandskämpfer verehrt werden, steht der Krieg in Deutschland weder auf dem Lehrplan noch ist er im kulturellen Bewusstsein angekommen. Selbst die deutsche Fassung von Wikipedia betitelt ihn noch immer mit dem Euphemismus »Aufstand«.

Video Julia Gechter

Und eine weitere Frage stellt sich dem Team in den Recherchen: »Wird hier Entwicklungshilfe als Schweigegeld bezahlt, um das Thema Aufarbeitung nicht mehr anzugehen?« Immer wieder begegnen sie Tansaniern, die sich aus Angst vor solch versiegenden Quellen gegen eine Klage aussprechen.

Auf diesem Boden komplex verwachsener, neokolonialer Strukturen entsteht ein Stück, das ästhetisch wie politisch weder Konsens noch Ethnoromantik sucht, sondern die Vielstimmigkeit erträgt. Alte, rassistische Lieder, »wie oft bin ich geschritten auf schmalem Negerpfad«, harmonisch vom Cello begleitet, werden unterbrochen, weil sie nicht mehr ertragen werden können. Als historische Instanz wird ein Grammophon eingesetzt, das die vor Exotismen und Rassenlehre triefenden Texte aus der Kolonialzeit wiedergibt, die keiner mehr lesen wollte. Das Cello wird in einer Hinrichtungsszene zum leblosen Körper. Harte Szenen, abstraktes Theater, aber auch Bongo Flava, Afropop.

»Do you feel sorry for what happened?« Zum Schluss der Aufführungen in Kassel und Berlin Ende Dezember 2016 richten sich die tansanischen Künstler mit dieser Frage direkt ans Publikum. »Sie können den Saal auch verlassen«, ruft ein anderer Performer hinterher und erklärt, dass man sich nicht auf ein gemeinsames Ende einigen konnte. Wut und Scham sind die Hauptreaktionen im spürbar bewegten Saal. Einige wenige gehen, die meisten bleiben. »I can’t really handle my feelings, I’m sad, I’m ashamed, I feel sorry.« »The German government should apologize.« »Germany should give a comment about that.«

Als Videobotschaften werden die Reaktionen des deutschen Publikums dem tansanischen Publikum übermittelt. Viele Tansanier sind bei den Aufführungen im Januar 2017 schockiert über die formulierte Unwissenheit und die völlige Abwesenheit des Maji Maji Krieges im Schulunterricht. Mit diesem Kunstgriff beginnt das Projekt politisch ungemütlich zu werden. »Ich habe mich gefragt, ob es die Stimmen aus dem Publikum waren, die das alles ausgelöst haben«, fragt sich Lisa Stepf. Genau der direkte Dialog, den die deutsche Regierung aktuell den Nachfahren der Herero in Namibia verweigert, findet nun rund um das Projekt zwischen tansanischem und deutschem Publikum statt. Trotzdem verneint das Stück sehr gezielt allzu leichte Lösungen, die den Dialog überschreiten. Es fordert lediglich, dass sich das Publikum, darunter in Tansania auch Lokalpolitiker und der deutsche Botschafter, in irgendeiner Form verhält.

Als sich dann nach den Aufführungen in Daressalam das National Arts Council of Tanzania meldet, wird das Kunstprojekt mit Diskurseinladung zum Auslöser realpolitischer Entscheidungen: Die Produktion Maji Maji Flava habe eine Debatte im tansanischen Parlament entfacht, sagt man Lisa Stepf. Erstmalig werde diskutiert, ob Tansania Reparationszahlungen für die Verbrechen des Kolonialkriegs fordern und Deutschland um eine Anerkennung der Schuld bitten soll. Kurz darauf gibt Verteidigungsminister Hussein Mwinyi dann offiziell bekannt, dass er das Außenministerium gebeten habe, Verhandlungen mit der deutschen Bundesregierung aufzunehmen. »Maji Maji War in the spotlight«, titeln die Parliament News.

Jürgen Zimmerer von der Universität Hamburg, der als Kolonialexperte und Afrika-Historiker derzeit von einer Diskussion zur nächsten jagt, ordnet die Entwicklung ein: »Das Stück kam genau zum richtigen Zeitpunkt. Die Nachfahren der Herero in Namibia klagten kurz vorher. Die Produktion Maji Maji Flava hat dann in Daressalam den lokalen Funken zum globalen Trend geschlagen.«

Ob die Forderung nach Reparationszahlungen tatsächlich an die deutsche Regierung herangetragen und Erfolg haben wird, ist laut Zimmerer schwer vorherzusehen. »Aber der Rechtsweg ist ja nur ein möglicher.« Viel bedeutender scheinen ihm die im Stück diskutierten Ansätze von Diskurs und Reflexion. Das Narrativ der angeblich so gelungenen Aufarbeitung des Holocausts überschatte noch immer, welche Verbrechen in der Kolonialzeit begangen wurden. »Unser gesamter Wohlstand, unser Gedankengut, unsere klassische Kultur sind auf einer Basis erwachsen, die auf Ausbeutung und Kolonialismus fußt, der ja zum Teil bis heute anhält. Das muss uns klar werden. Diese Aufarbeitung hat bislang nicht stattgefunden. Und die Frage ist: Wie verzerrt das eigentlich unser europäisches Selbstbild?«

Dass ein Trigger dieses Diskurses wiederum aus der Kunst kommt, überrascht Zimmerer wenig. »Ist doch immer so, oder nicht?« Manchmal muss eben ein Cello zu Bruch gehen. ¶

... hat französische und deutsche Literatur sowie Kulturmanagement in Bonn, Paris und Hamburg studiert. Heute arbeitet sie als freie Journalistin, Kuratorin und Dramaturgin im Bereich klassischer Musik. Unter anderem ist sie für die Donaueschinger Musiktage oder die Elbphilharmonie tätig, kuratiert die Philosophiereihe »Bunkersalon« mit dem Ensemble Resonanz, entwickelt die globale Konzertreihe »Outernational« und schreibt für das VAN Magazin.