Man weiß erst, was man hatte, wenn man es verloren hat.
Kalenderspruch des Monats, nein, des ganzen verflixten Corona-Jahres 2020 bisher: Man weiß erst, was man hatte, wenn man es verloren hat. Das ist eine dieser elenden Weisheiten, die den stechenden Schmerz des Liebeskummers zwar nicht lindern, ja ihn vielleicht sogar noch schlimmer machen. Und doch ist sie irgendwie tröstlich, weil sie zumindest Ordnung in den Schmerz bringt.
Mein derzeitiger Liebeskummer gilt (wie wohl das stumme Lamento vieler Konzertgänger) der verlorenen öffentlichen Aufführung von Musik in den Zeiten der Pandemie.
Für Musiker, die nicht mehr vor Publikum spielen dürfen, bedeutet der schlagartige Verlust des Partners Publikum oft blanke Existenznot: als handfestes materielles Problem, aber auch als bohrende Sinnfrage. Denn wozu ist man Musiker, wenn nicht, um zu musizieren – und zwar vor Zuhörern? Ebenso gilt aber: Wozu ist man Zuhörer und Konzertgänger, wenn man nicht mehr ins Konzert gehen und zuhören kann? Die aus der Not gewuppten Streaming-Konzerte sind zweifellos eine ehrenwerte Sache, und vielen Musikfreunden mögen sie über die schwierige Zeit helfen (auch wenn die gebeutelten Musiker damit meistens kein Geld verdienen). Aber mir als Hörer bringen sie, ehrlich gesagt, nichts. Denn mir fehlt da fast alles, was ein »echtes« Konzert ausmacht.
Alte Pilatesfrage: Was ist denn »echt«? Die meditative Antwort lautet bekanntlich: Schwierig, schwierig … Das Paradox meines Konzerterlebnisses besteht jedenfalls zu einem wesentlichen Teil darin, dass ein öffentliches Konzert für mich eine Art geschützten persönlichen, ja intimen Raum darstellt. Wenn ich unter tausenden Menschen im Konzert sitze, bin ich im besten Fall ganz allein mit der Musik und somit völlig bei mir. Während in der Intimität des Zuhauses derzeit ja alles öffentlich ist: Familie und Homeoffice um einen herum, ein einziger Taubenschlag – eine Situation, die einem Schlag um Schlag versetzt und einen geradezu taub machen kann…
Event und Andacht
Aber ein asoziales Ereignis sollte und kann ein Konzert natürlich selbst für den introvertiertesten, abgekapseltsten Hörer nicht sein. Denn Konzerte sind nun mal gesellschaftliche Erlebnisse, seit es sie gibt: annähernd in unserem heutigen Sinn seit dem achtzehnten Jahrhundert. Will sagen, als Musik pur, ohne Anlass wie Krönung oder Gottesdienst oder Bankett. Stattdessen Zuhören ohne Zweck – außer eben zuzuhören. Oder zumindest so zu tun, als hörte man zu; was bekanntlich eine Kunst für sich ist.
Wobei die quasi-religiöse Komponente, die später im andachtsvollen Hören des verrückten neunzehnten Jahrhunderts dazu trat, schon in den Anfängen zu finden ist – wenn auch nur verborgen, als kurioser Hintergrund. Als nämlich 1725 im Paris des Ancien régime die ersten öffentlichen Konzerte außerhalb der Académie Royale stattfinden durften, galt die Bedingung: Musik nur an Tagen, an denen die Oper nicht spielt; und das waren die katholischen Feiertage. Von denen es, dem Musikgott sei Dank, ja nicht gerade wenige gibt. So entstand der Name Concerts spirituels, auch wenn im Tuilerienpalast (der 1871 in den Flammen der Pariser Kommune versinken sollte) gar nicht vorwiegend geistliche Musik gespielt wurde, sondern beispielsweise Concerti grossi von Corelli und andere Instrumentalmusik.
Allzu spirituell ging es bekanntlich früher im Konzertsaal nicht zu, eher spirituosig und verplaudert, wie wir aus zahlreichen Berichten und Anekdoten wissen. Zu den abgedroschensten gehört sicherlich die von Ludwig van Beethoven, der angeblich vom Klavier aufsprang und das Publikum anschnauzte: »Für solche Schweine spiele ich nicht!« Dass da ein geschwätziger junger Graf mehr Augen (und vielleicht sogar Hände) für seine schöne Begleiterin hatte als Ohren für die Musik, das hätte Beethoven als einschlägiger Frauen-Nachgucker vielleicht sogar noch verstanden – wenn’s nicht gerade um seine Musik gegangen wäre… Und obwohl der Eklat nicht in einem »echten« Konzertsaal stattfand, sondern in einem Salon vor adligem Publikum, zeigt es Beethovens rigorosen Anspruch: zuhören, nicht quatschen – denn das ist keine Salonmusik! Auch in dieser Hinsicht war er wohl ein entscheidender Wegbereiter, dieser Komponist, den wir 2020 zuschanden gefeiert hätten, wenn Covid-19 dem Beethovenjahr nicht in die Quere gekommen wäre.

Zu Mozarts und Haydns Zeiten hätte es wohl arge Verwunderung ausgelöst, wenn jemand wie heutzutage wütend um Ruhe im Saal gezischt hätte (auch ich, confesso, habe das schon getan), weil sein Nachbar während des Streichquartetts mit den Füßen scharrt oder mit dem Programmzettel blättert. Und was heißt schon Saal, Kammermusik wurde ja damals oft in Gasthäusern aufgeführt.
Fasziniert sind wir, wenn wir heute die kraut-und-rübenhaften Konzertprogramme zu Beethovens Zeiten lesen – erst eine Arie, dann ein solistisches Klavierstück, dann eine Sinfonie, dann irgendwas. Von der exorbitanten Länge damals ganz zu schweigen. Mit der Etablierung eines bürgerlichen Konzertbetriebs entstanden knackigere Programmabläufe; und was uns heute als der konventionelle, manchmal vielleicht sogar verknöcherte Ablauf schlechthin erscheint, war damals eine Neuerung und ein Ausbund an Stringenz: Ouvertüre. Solo-Konzert. Symphonie. (Zählen Sie doch mal im Jahresprogramm der Elbphilharmonie nach, wie viele Konzerte dieser beliebten Struktur folgen! Sie funktioniert halt.)
Wie das bürgerliche Musikleben vom Adel Standesbewusstsein und Repräsentationswillen übernahm, so vom Klerus die Andacht (oder, wie gesagt, zumindest so zu tun). Versenkung ins Gehör statt ins Gebet. Und vielleicht kann man die Schaffung großer Konzertsäle (von 1842 im Leipziger Gewandhaus bis zum Amsterdamer Concertgebouw, eröffnet 1888) als den Kirchenbau des neunzehnten Jahrhunderts bezeichnen. Der so abstruse wie faszinierende Höhepunkt der musikalischen Kunstreligion ist gewiss der Wagnertempel zu Bayreuth, diese seltsame Akropolis des Gesamtkunstwerks. Aber das ist natürlich ein Sonderfall.
Wenn der Bau von Konzerthäusern sich damals an religiösen Ideen orientierte und von diesen abstieß, wie ist es dann heute – etwa im Fall der Elbphilharmonie? Das architektonisch Spektakuläre vielleicht, das Wahrzeichenhafte und Ikonische anstelle des Sakralen
Wie dem auch sein, in den Kunsttempeln nahmen die »alten Meister« immer größeren Raum ein. Die übermächtige Präsenz älterer Musik sei das fundamental Neue in der Musikkultur, formulierte der Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus ein Paradox, das vielleicht gar keins ist. Die Neigung des klassischen Musikbetriebs zum »Museum«, wie ein beliebtes böses Wort das nennt, reicht also weit zurück. Und vielleicht sollte man dieses böse Wort auch mal hinterfragen, wie es ja überhaupt sinnvoll ist, auch gegenüber Kritik kritisch zu sein: Denn erstens ist Museum ja nur für stumpfsinnige Menschen ein Schimpfwort. Museen sind doch etwas Wunderbares! Dabei ist die Tatsache unbenommen, dass man selbstverständlich auch die Museen der Gegenwartskunst besuchen sollte – und dass ebenso selbstverständlich zeitgenössische Musik auch in die großen Sinfoniekonzerte gehört.
Zweitens aber (und das ist für den leidenschaftlichen Konzertgänger wohl das Entscheidende) wird jeder alte Klangschinken in seiner jeweiligen Aufführung fundamental neu. Immer wieder. Jedenfalls, wenn es eine gelungene Aufführung ist. Der olle Beethoven kann uns dann anspringen wie Brahms oder Tschaikowsky oder Anton Webern, Fanny Hensel wie Lili Boulanger, Ligeti wie Lutosławski: in unserem Hier und Jetzt und unserem eigenen, mitunter sorgengeplagten Sein. So geschlagen und taub wir ins Konzert kommen, so geheilt und hörend verlassen wir es wieder. Wenn es ein gutes Konzert war.
Kalter Entzug
Und darum trifft der kalte Entzug durch die Aufführungsverbote den leidenschaftlichen Konzertgänger so hart. Er versteht natürlich, warum das alles epidemiologisch so zu sein hat, denn er ist ja kein Verschwörungstheoretiker oder Alternativfaktler oder Menschenfeind. Trotzdem leidet er gerade wie ein Hund. Er hat schweren Liebeskummer.
Dabei ist er ja Liebeskummer anderer Art gewöhnt: etwa die ewigen Hörstörungen durch unaufmerksame, raschelnde, tuschelnde, hustende und knisternde Nachbarn. Und doch braucht er zum Hören unbedingt den großen Raum, in dem der in ebendiesem Moment entstehende Klang sich entfaltet und in seinen ganzen Körper eindringt, bis in jede Pore der Haut. Baden und Atmen in Klang. Und (aber ja doch) er braucht auch die vielen fremden Menschen um sich herum. So sehr ihn einzelne davon manchmal auch nerven und stören mögen! Wenn die Musik ihn erreicht und er die Musik, dann sitzt er in der Menge und ist doch allein: eine Kapsel im Kollektiv, geschützt und glücklich.
Eine Gemeinschaft allein mit der Musik. Neulich habe ich mich im Video-Chat mit einem leidenschaftlichen Konzertgänger unterhalten, einem wahrhaften Klassikfreak, ja Junkie, der normalerweise fast jeden Tag ins Konzert oder in die Oper geht. Und er sinnierte darüber, was ihm gerade am meisten fehle. Auf das Publikum um ihn herum könne er ja gern verzichten, begann er, aber es sei ihm unendlich wichtig, sich dem Erlebnis der Musik auszuliefern. Nicht flüchten zu können!, rief er. Er sitze dann da und könne nicht weg, und alles, was er machen könne, sei: die Musik zu hören. Und das fehle ihm am meisten – sich der Sache aussetzen zu müssen. Die Entscheidung zu treffen, sich zwei Stunden irgendwo reinzusetzen, wo nur das stattfinde. Kein Twittern nebenher, kein Facebook, kein Nix – nur Musik.

Die gleichermaßen körperliche wie geistige Glückserfahrung namens »Konzert« beginnt für mich schon mit dem Einstimmen des Orchesters. Und sie endet noch nicht mit dem Beifall nach der Musik – jenem Applaus, der für den einen Hörer geradezu eine körperliche Entladung sein kann, nachdem die Musik ihn derart durchgerüttelt hat, für den anderen Hörer hingegen eine lästige Störung der Stille, die er sich wünschen würde, um die Musik darin weiterklingen zu lassen… Denn je länger ein Konzert nachklingt, desto größer das Glück.
Und dann gibt es natürlich auch die Hörer, für die der Applaus der Weckton oder der leichte Frühsport nach einem seligen, erholsamen Schlaf ist. Warum nicht? Auch das kann ja eine beglückende körperliche Erfahrung sein. Und so ist gegen den Konzertschlaf ebenso wenig einzuwenden wie gegen jenen Typus Konzertbesucher, für den das Ganze doch eher eine soziale Erfahrung ist: Man begleitet vielleicht einen lieben Menschen und trifft alte Bekannte, und überhaupt ist es, wie es schon in der Schule war: Das Schönste sind immer die Pausen. Na, und was zwischen den Pausen kommt, das kann man sich ja mal anhören…
Für den einen also der Konzertbesuch als gesellschaftliches Ereignis, für den anderen als quasireligiöse Andacht (und der Preis fürs jährliche Abonnement eine Art Kirchensteuer): Das sind zwei Haltungen, die beide ihre historischen Wurzeln haben. Und sich in der Realität natürlich oft und in unterschiedlichen Anteilen miteinander vermischen.
Denn es gibt ja ebenso viele Formen von Konzertglück, wie es Menschen gibt. Und jede dieser Formen ist in Ordnung. Das gehört ja übrigens auch zu den schönen Seiten des klassischen Konzerts heutzutage, dass die Äußerlichkeiten so viel entspannter geworden sind. Vorbei die Zeiten, da ein bestimmter Typus Konzertbesucher über das korrekte Verhalten und ordentliche Erscheinungsbild im Konzert wachte. Auch ein Jugendlicher mit Flipflops wird heute kaum mehr vom wohlbetuchten Abonnenten angemurrt. Wer dagegen lieber im Großen Gesellschaftsanzug mit Schwalbenschwanz geht, tut halt das. Anything goes, im besten Sinn.
Hauptsache Zuhören. Oder so tun. Und wer weiß, manchmal ereignet sich das Zuhören sogar von selbst, während man nur so tut…
Für alle glücklichen Zuhörer aber gilt: Man weiß erst, was man hatte, wenn man es verloren hat. Die gute Nachricht immerhin lautet: Es wird alles zurückkommen. Dann wird aus der Liebeskummererklärung wieder eine Liebeserklärung werden. Vergessen wir dann nicht, was wir daran haben – an unserer Liebe zum Konzert, am Konzertglück! ¶