Giovanni Antonini und sein harmonischer Garten, das Originalklang-Ensemble »Il Giardino Armonico« waren gerade mit Patricia Kopatchinskaja auf Tour. Vivaldi und zeitgenössische, italienische Kompositionen haben sie verbunden zu einem feinsinnigen Programm mit wildfreien Kadenzen. Ob das jetzt ein Match ist – das Barockensemble und der ungebremste Feuervogel? »Everyone is an artist of his own garden«, sagt Kopatchinskaja in ihrem entwaffnend ehrlich-schrägen Promovideo »Being Pat«. Eine aufspringende Passionsblume ist dabei zu sehen, die florale Metaphorik also stimmt schon einmal. Bei allen Unterschieden treffen mit Kopatchinskaja und dem Flötisten und Dirigenten Antonini zwei Geister der Reibung aufeinander, die mit dem Hochglanzbetrieb hadern – und doch mittendrin stecken. Deren Verlangen nach Barfuß-Spiel und rauem Sound längst zum merkantilen Alleinstellungsmerkmal stilisiert ist. Und die sich trotzdem eine eigene Art von Freiheit bewahrt haben. Vor dem Konzert in der Elbphilharmonie hat Antonini im so genannten »Green Room« des Hauses, gleich neben der Bühne, ein wenig Zeit. Er schließt die Tür und wir reden uns eine halbe Stunde durch den Garten, das Programm, das überflutete Venedig und das Ende der Menschheit. Er spricht leise und mit wachen Augen.

VAN: ›I would love to become a plant in this incredible crazy genial garden!‹, hat Patricia Kopatchinskaja im Juni 2015 gepostet. Nun seid ihr gemeinsam auf Tour – Wien, Zürich, Berlin, Hamburg – mit ›What’s next Vivaldi‹. Auf den ersten Blick kommt ihr eher aus verschiedenen Welten. Was verbindet Euch?

Antonini: Wir haben in der Tat ganz andere Hintergründe – Patricia spielt ein sehr breites Repertoire und ihr Herz schlägt für die zeitgenössische Musik, sie hat aber auch einen starken Hintergrund in der ungarischen und moldawischen Volksmusik, ihr Vater ist ja ein großer Zymbal-Virtuose. Aber wir haben auch viel gemeinsam. Vor allem: die Lust am Entdecken. Am Abenteuer. Am Risiko. In ihrer Spielweise, dieser tiefen, volksmusikalische Seele gibt es Verwandtschaft zu unserer Aufführungspraxis. Ich bin niemand, der diese Verbindungen zu schnell zieht – ich finde das oft ganz schwierig, diese Mode, Jazz und Barock oder Volksmusiken und Barock zusammenzustecken und fertig. So einfach ist es nicht. Ich glaube zum Beispiel nicht, dass Vivaldi gespielt hat wie ein irischer Fiddler, und das meine ich nicht despektierlich. Es gibt Elemente, die vergleichbar sind oder Verwandtschaften aufzeigen, rhythmischer Natur, aber auch in der Artikulation und der Verzierung. Aber wenn man diese Elemente zusammenbringt, dann muss man erst einmal darüber nachdenken, wo es wirkliche Verbindungen gibt. Und die arbeiten lassen. Was Patricia da in die Kadenzen einbringt, finde ich hochspannend.

Vivaldi ist ja bei vielen als easy listening verschrien. Eure gemeinsame Interpretation von La tempesta di mare wiederum klingt zwischendrin wie eine Uraufführung. Hast du bei Vivaldi noch stärker als bei anderen viel Gehörten das Bedürfnis nach Erweckung?

Ich finde diese weit verbreitete Haltung, Vivaldi sei zu leicht, zu gut gelaunt, snobbish. Seine Musik ist unfassbar reich. Wie er zum Beispiel die Psychologie des Hörers mitdenkt, da ist er ein bahnbrechender Vorläufer. Das ist etwas, was unter anderem auch Haydn von ihm übernahm. Aber auch die Intervalle, die Kunst der Nuance, die Harmonie. Ohnehin ist dieses Denken von Musik in 1. oder 2. Klasse fremd für mich. In jeder Zeit gibt es herausragende Komponisten mit unterschiedlichen Qualitäten. Diese Qualität interessiert mich. Das kann für mich Barock sein oder guter Pop.

Für das Programm habt ihr italienische Komponisten beauftragt, Interludien zu seinen Werken zu schreiben. Eine neue Erfahrung für Euch, die Arbeit mit den Lebenden?

Das ist in der Tat eine recht neue Erfahrung für Il Giardino, wir haben als Alte-Musik-Ensemble ja bislang kaum Berührungspunkte mit zeitgenössischer Musik. Ich glaube aber, dass heutige Komponisten immer mehr verstehen müssen, wie unterschiedlich die Klangqualität bei Originalinstrumenten ist, was die Stärke dieser Instrumente ist und was sie von modernen Instrumenten unterscheidet. Es gibt ja Repertoire aus den letzten 40 Jahren auch für Flöte, sogar Barock- und Traversflöte – von Luciano Berio bis Louis Andriessen. Mich würde aber interessieren, noch viel mehr mit lebenden Komponisten zu arbeiten, sich auszutauschen. Nach dem Besonderen zu suchen, dem Kratzen, dem Schreien, dem Ausdruck. Es ist ein alter Hut, dass sich sehr alte und sehr neue Musik viel zu sagen haben. Aber die Besonderheiten im Klang der Originalinstrumente und der Spieltechniken auf zeitgenössische Weise auszuloten, das ist noch Neuland.

Gibt es noch eine andere musikalische Frage, die dich derzeit beschäftigt? Die Zeit der Revolution in der Alten Musik ist ja inzwischen vorbei, alle Kämpfe für eine historische Aufführungspraxis scheinen gefochten… Wonach suchst du heute?

Ja, die Zeiten sind vorbei. Ich suche eigentlich seit Jahren nach der richtigen Ausgestaltung der langen Linie. Ich starte hier – dann passiert ganz viel – und hier höre ich auf. Dabei Berge und Täler zu überwinden und doch die Spannung zu halten, mal leicht, mal stärker, das ist für mich – so banal es ist – das Geheimnis. Diese horizontale Denkweise. Für mich ist das eine übergeordnete Kategorie, wichtiger als Brands oder Labels wie modern, barock, alt und neu. Ich bin gelangweilt davon! Musik ist Atem. Und je besser du diese Energie kontrollieren kannst, je langsamer sie fließt, desto weiter kannst du kommen. Ein Beispiel für mich ist Arturo Benedetti Michelangeli, der hat eine Klarheit und einen Fokus auf den langen Linien. Der ist für mich horizontal. Vieles in der Musikwelt wird immer fragmentierter, vertikaler. Übrigens auch in dem, was wir heute Barock nennen.

Liegt dieses Fragmentierte, Vertikale auch an der Entwicklung der Aufnahme? Patricia Kopatchinskaja hat sie lange verteufelt, dann aber doch damit angefangen, auch die Aufnahmen von Il Giardino sind nicht am Echo Klassik vorbeigekommen. Wie denkst Du über das Thema?

Es macht vieles sehr viel schwieriger, wenn du ein Mikrofon vor dir hast. Und es hat auch einen Einfluss auf die Wahrnehmung des Ensembles – es nimmt ihr den Horizont. Jeder Spieler, jede Stimmgruppe mit einem Mikrofon über sich bekommt eine andere Wahrnehmung. Das Zusammenspiel wird zur abstrakten Idee – und sobald du darüber nachdenkst, zusammen zu spielen, bist du es nicht mehr. Weil du es mechanisch versuchst. Die Musik verliert ihre Energie.

Und jetzt?

Wir können ja auch nicht zurückgehen, ich wüsste nicht wie…

Mit Il Giardino Armonico macht ihr, so scheint es, gerade so viele Aufnahmen, wie eigentlich in den letzten 30 Jahren nicht…

Aber ich denke permanent darüber nach. Ich überlege zum Beispiel, nur noch Live-Aufnahmen zu machen. Aber ich habe keine Lösung. Für mich ist es aber auch eine Frage, die mit unserem Schönheitsbegriff zu tun hat. Für mich geht es viel um Zufall, alles, was passieren kann, was ich nicht vorher plane. Oder nachher wieder korrigieren kann.

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Kopatchinskaja drückt es etwas pragmatischer aus: ›Die meisten Musiker bringen einen schönen Kuchen mit auf die Bühne, fertig gebacken, alles korrekt nach Rezept. Ich nehme bloß die Zutaten mit und backe den Kuchen auf der Bühne!‹

Ich würde es so sagen: Auch ein schlechter Klang ist schön, wenn er etwas ausdrückt. Ich sehne mich nach dem Nichtperfekten. Aber man braucht viel Mut dafür. Das ist ein großes Problem unserer Zeit. Dieser Hang zur Sicherheit. Vieles ist für mich nicht zu verstehen. Ich habe kein Facebook. Ich verstehe nicht, was sie da tun. Was man alles auf sich nimmt, nur um sich zu zeigen. Um kontrolliert zu werden, damit sie wissen, was du willst, und was du noch wollen könntest, von dem du noch gar nichts weißt. Wir leben in einer Geschwindigkeit, die nicht mehr zu begreifen ist, mit so vielen Eindrücken und Inputs, die unser Gehirn verändert haben. Und es gibt so viel, was du mit diesem Gerät da (zeigt auf das aufnehmende Smartphone) nicht sagen kannst, was sich auch nicht vermitteln wird, wenn du es aufschreibst. Wir haben so viel verloren, oder? Aber ich glaube, dass wir bald in eine Art Over-Situation kommen. Und sich vieles ändern wird.

Das Programm heute Abend dreht sich ja auch um Venedig, eine Stadt, die diese Ambivalenz ganz gut verdeutlicht. Die Stadt ist gerade zu 75% überschwemmt, Touristenmassen waten mit Shoppingtaschen durch die Fluten.

Venedig ist Disneyland. Aber das war es streng genommen sogar zu Vivaldis Zeiten schon – im 16. Jahrhundert war es der europäische Pilgerort schlechthin. Es gab ›Grand Tours‹ von Deutschen, Engländern, Franzosen. Es war auch die Zeit der Krise, des Glücksspiels, bis hin zu Casanova… es hatte dieses Dreckige. Und es war auch immer schon eine von Meeresstürmen gebeutelte Inselstadt, auch Vivaldi kam dort bei einem Erdbeben zur Welt und hat dann ja nicht ohne Grund La tempesta di mare komponiert.

Heute ist es natürlich viel schlimmer. Bald ist die Stadt komplett unter Wasser. Und seit 40 Jahren gibt es Diskussionen, wie man das in den Griff bekommt, welches System man bauen kann. Aber es ist eine Frage, die ganz Italien betrifft. Wir leben in einem Land mit zwei Vulkanen, dem Etna und dem Vesuv. Beide können jederzeit ausbrechen – und auf beide werden heute Häuser gebaut. Ist das kein Sinnbild? Für mich gibt es keine Hoffnung, was unsere Menschheit betrifft.

Warum oder wie machst du trotzdem weiter?

Ich glaube bei aller Vergiftung an das Schöne – und das ist, da bin ich bei Harnoncourt, immer nah am Abgrund. Das kann auch mal drüber sein und danebengehen, aber es ist echt. Danach suche ich. Ob es ein Violinkonzert aus dem 18. Jahrhundert ist oder eine jahrhundertealte Mauer. Aber auch im Heutigen versuche ich mich darauf zu besinnen. Scelsis L’âme ouverte, das wir heute Abend spielen zum Beispiel, das besteht ja kaum mehr als aus einer einzigen Note. Es ist wie ein indisches Mantra, eine Meditation. Da verliere ich die Zeitlichkeit. Wir sollten weniger reden, und mehr hören. ¶

... hat französische und deutsche Literatur sowie Kulturmanagement in Bonn, Paris und Hamburg studiert. Heute arbeitet sie als freie Journalistin, Kuratorin und Dramaturgin im Bereich klassischer Musik. Unter anderem ist sie für die Donaueschinger Musiktage oder die Elbphilharmonie tätig, kuratiert die Philosophiereihe »Bunkersalon« mit dem Ensemble Resonanz, entwickelt die globale Konzertreihe »Outernational« und schreibt für das VAN Magazin.