Als im Zuge der Corona-Pandemie Mitte Februar sämtliche Konzerte in Deutschland abgesagt wurden, ging die Sopranistin Laura Aikin nicht ins Internet und beantragte Soforthilfe. Sie ging stattdessen zu Rewe – um dort zu arbeiten, um dabei zu helfen, die Regale einzuräumen, und um weiter Geld zu verdienen. Die Erfahrung, die sie dort als Aushilfe zum Mindestlohn-Preis machte, sitzt nach wie vor tief.
VAN: Warum sind Sie zu Rewe gegangen und haben sich dort als Aushilfe beworben? Sie hätten staatliche Hilfe beantragen können.
Laura Aikin: Ich bin gar nicht auf die Idee gekommen, Arbeitslosengeld zu beantragen, weil ich dachte, das bekommen nur Festangestellte. In Amerika gibt es das nicht, in Italien auch nicht. Dort habe ich nie irgendeine Hilfe vom Staat bekommen. Die Idee, dass Deutschland so etwas tut, fand ich irre.
Und wie war es mit den Hilfsgeldern? Die waren ja später ganz klar für Freischaffende gedacht.
Das ist der Witz dabei: Ich war schon nach einer Woche von der harten Arbeit als Einräumerin ziemlich erschöpft, mein Körper war die Belastung nicht gewohnt und war total kaputt. Als ich von der ersten offiziellen Corona-Hilfe gehört habe, war ich zu platt, um mich überhaupt dafür zu bewerben.
Sie haben schon früh kommen sehen, dass die Situation sehr schwer werden würde …
Ja, es fing bei mir schon früh an, weil ich Konzerte in Italien hatte, die schon abgesagt wurden, als in Deutschland noch alles offen war. Hier war alles noch normal, als in Italien schon die Hamsterkäufe losgingen, mit endlosen Schlangen vor den Supermärkten und ohne Klopapier. Ich war damals gerade in München als einer Station auf dem Weg nach Torino für einen Einspringer, da wurde das Konzert abgesagt und das ganze Land gesperrt. Eine Stunde später wäre ich in Torino gewesen – ich weiß nicht, ob ich hätte zurückkehren können oder ob ich dort hängengeblieben wäre. Da habe ich peu à peu verstanden: Okay, das wird schlimm.
Ihre Bewerbung bei dem Supermarkt ging dann ganz schnell.
Als meine Tochter ihre letzte Reitstunde hatte, war ich einkaufen und habe beim Rewe das Plakat gesehen, dass sie Mitarbeiter:innen suchen. Ein paar Tage später habe ich schon dort gearbeitet. Die waren einfach verzweifelt, weil sie so viele Leute brauchten, um den Hamsterkäufen standzuhalten, die gerade losgingen.
Wie war es, in dieser extremen Anfangsphase in einem Supermarkt zu arbeiten?
Es herrschte Chaos. Die Firma, über die ich dort eingesetzt war – CMB GmbH –, sagte uns, wir sollten vor allem schnell, schnell, schnell arbeiten. Auf der anderen Seite wollte Rewe natürlich, dass alles super ordentlich eingeräumt ist. Und dazwischen die vielen Leute, die einkaufen wollten und manchmal auch Beratung brauchten. Dabei war mein Job nur: Regale einräumen und Müll wegmachen. Ich habe mich pausenlos bewegt. Manchmal habe ich echt geschwitzt. Das war wie mein tägliches Fitnessstudio, ich habe sogar tatsächlich abgenommen. Aber irgendwann kamen auch die Schmerzen. Ich habe schon sehr früh, bevor es verpflichtend wurde, eine Maske getragen, was alles erschwert hat: Wenn ich viel laufen, heben, tragen musste, wurde mir schwindelig und der Blutdruck ging sehr hoch. Irgendwann haben dann auch meine Knie angefangen zu leiden. Deshalb höre ich jetzt, nach dreieinhalb Monaten, dort auf – aus gesundheitlichen Gründen.
Wussten die Kolleg:innen im Supermarkt eigentlich, dass Sie Opernsängerin sind?
Ja, alle haben das gewusst, aber groß beeindruckt waren die nicht.
Wer waren denn die Menschen, mit denen Sie dort zusammen ausgeholfen haben?
Die meisten kamen gerade vom Gymnasium, waren 23 Jahre oder jünger, ganz liebe Menschen, die zwischen Schule und Studium standen. Es gab aber auch ein paar ältere, die Geld brauchten, oder Väter, die noch einen Drittjob angenommen haben, um ihre Familie zu versorgen. Wirklich eine ganz interessante Gruppe, und ich bereue nicht, dass ich das getan habe – obwohl es eher Energie gekostet als gebracht hat.
Wie viel haben Sie dort verdient?
Den Mindestlohn, 9 Euro pro Stunde. Immerhin war das mehr als nichts, und ich habe den Leuten irgendwie geholfen.
Dachten Sie manchmal, es war ein Fehler, nicht zu Hause geblieben zu sein?
Ja, manchmal kam der Gedanke. Aber das muss man dann loslassen.
Aus gesundheitlichen Aspekten war es aber auch nicht unbedingt die klügste Entscheidung, oder?
Überhaupt nicht. Gerade in der Anfangszeit, als noch niemand Maske getragen hat, war es im Grunde echt gefährlich – social distancing, das geht in einem Lebensmittelgeschäft nicht. Es ist ein Wunder, dass ich nicht krank geworden bin. Ich hatte jeden Tag mit Hunderten Leuten Kontakt. Ich werde 56, ich bin keine 70, aber es war wahrscheinlich dumm von mir. Meine Ärztin, mit der ich gesprochen habe, war auch überhaupt nicht begeistert von der Entscheidung.
Haben Sie aus der Zeit dennoch etwas für sich mitgenommen, etwas gelernt?
Ja. Mir war immer bewusst, dass ich Glück im Leben hatte, dass ich einen sehr privilegierten Job ausüben darf. Jetzt habe ich gelernt, wie Menschen durch so einen Job plötzlich ganz klein gemacht werden. Ich möchte nicht über den Arbeitgeber meckern, ich spreche hier über das System. Die Kund:innen in diesem Rewe waren extrem lieb, aber wenn man diesen Job macht, schnell, schnell, schnell und so unter Druck, und man hat die Schmerzen im Körper und sieht die jungen Menschen, die ihren Weg im Leben noch suchen und diese Arbeit machen – da ist es schwer, zwischen den 9 Euro Lohn und dem Selbstwert als Mensch zu trennen. Ich habe das mit Tränen in den Augen beobachtet: Ein junger Kollege hat einmal gesagt, er verdiene nur 9 Euro die Stunde, und deshalb erwarte er keinen Respekt von den Menschen. Das ist ein echtes Zitat, von einem jungen Mann. Und ich habe ihm gesagt: Das SOLLST du verlangen! Du SOLLST Respekt verlangen! Aber es ist eben so.

Für Menschen, die in Supermärkten, aber auch in Krankenhäusern oder Pflegeheimen oder bei der Post, in den sogenannten systemrelevanten Berufen, arbeiten, wurde zeitweise von den Balkonen herabgeklatscht. Was denken Sie über diese Äußerung von Wertschätzung?
Ja, man hat gesagt, dass diese Jobs sehr wichtig sind. Aber Regale einräumen bei Rewe ist trotzdem nur ein Mindestlohnjob. Die Krankenpfleger:innen bekommen auch nur einen kleinen Lohn und definitiv nicht so viel, wie sie verdienen sollten. Irgendetwas stimmt da nicht. Viele, die in dieser Zeit nach draußen gegangen sind und gearbeitet haben, haben das aus Not gemacht. Selbst Angela Merkel spricht in ihrer ersten Rede, die sie zu Corona im Fernsehen gehalten hat, von den Einräumer:innen in den Lebensmittelgeschäften, nach 7 Minuten und 10 Sekunden. Ich habe das gehört und gedacht: Ja, wir setzen da unser Leben aufs Spiel. Natürlich ist das überhaupt kein Vergleich zu den Krankenhäusern und anderen Berufen, natürlich, aber ich habe teilweise wirklich Angst gehabt! Ich habe jeden Tag meine Sachen gewaschen und alles getan, weil man nicht wusste, wie schlimm es eigentlich war. Und wenn ich dann daran denke, dass wir trotzdem nur Mindestlohnmenschen sind – das ist schwierig. Mir fehlen die Worte. Wir werden nicht nur am schlechtesten bezahlt, sondern auch am schlechtesten behandelt, und das in diesem Land, wo man denkt, es gibt so viele Möglichkeiten, sich zu bilden und aufzusteigen. Ich bin so begeistert und dankbar, hier in Deutschland leben zu dürfen, und auch meine Kinder sind hier glücklich. Aber gerade fühlt es sich an, als sei die Welt wie eine Tüte, die man kräftig geschüttelt und auf den Boden geschmissen hat, um zu sehen, was eigentlich drin ist.
Was machen Sie denn jetzt, wo Sie bald wieder singen können?
Ich rede so wenig über Musik, das ist komisch! Verträge habe ich bis 2022, also werde ich bestimmt singen. Aber ich gehe davon aus, dass es anders wird. Wenn weniger los ist, werden die Häuser vielleicht nicht immer auf mich kommen, sondern eher auf die jüngeren Kolleg:innen, was ich verständlich und richtig finde. Es ist wichtig, dass man vor allem die neue Generation unterstützt.
Also werden Sie vor allem wieder unterrichten?
Damit habe ich nach und nach wieder angefangen, aber erst einmal gratis. In den ersten sechs bis acht Wochen war es bei vielen schwer genug, überhaupt die Lust aufs Singen zu mobilisieren. Denn auf einmal war man zu Hause eingesperrt, manche mit kleinen Kindern, und gleichzeitig sind auch die Nachbarn die ganze Zeit da. Manche haben sich die Mühe gegeben, mit ihren Nachbarn auszuhandeln, dass sie die eine Stunde zu Hause üben können. Aber seit einiger Zeit bezahlen die ersten wieder, wie und was sie können. Und jetzt im Juli habe ich wieder meine erste Studio-Class.
Wie sieht es aus mit Freiluftkonzerten?
Ich habe regelmäßige Tea-Time-Konzerte in einem Altersheim hier in der Nähe organisiert, wo wir jeden Freitag ein richtiges Programm machen, 40 Minuten mit Duetten und Arien zu einem Thema. Wir singen draußen, was richtig Spaß macht. Die Leute haben Freude daran, kommen auf den Balkon. Die Ärzt:innen und Betreuer:innen hören auch zu, und die Leute, die im Bett liegen, bei geöffneten Fenstern. So kommt die Stimme dann auch mal raus, und das ist irrsinnig wichtig und etwas, was Sänger:innen machen sollten: Bei schönem Wetter die Troubadoure rauslassen! Auch während der Pest haben die Menschen Musik gemacht und Schauspiel gezeigt. Das kommt so gut an. Wir brauchen echt keine Angst zu haben, dass die Leute keine Theaterkarten mehr kaufen. ¶