Ich treffe Lars Vogt an einem lauwarmen Sommerabend im Parkcafé Pusteblume am Wilmersdorfer Volkspark. Er wohnt in der Nähe und kommt zu Fuß. Am Abend zuvor hat er noch auf einem Festival in Portugal gespielt und dirigiert, das Konzert fing um 22 Uhr an, danach gab es noch eine kleine Feier. Morgen geht es mit der Familie in den Urlaub nach Mallorca. Eigentlich hatten wir uns zum gemeinsamen WM-Gucken verabredet, nach Abgleich der Kalender blieb dann nur der spielfreie Tag übrig. Zum Aufwärmen geht es trotzdem erstmal um Fußball. Vogt, im rheinischen Düren geboren, ist seit seiner Kindheit Gladbachfan, er verfolgt die Spiele auch auf Reisen im Livestream (›Beim Fussballgucken löst sich was in mir‹). Bis zur B-Jugend hat er selbst gespielt und es bis in die Kreisauswahl geschafft. Sein Vater, selbst Profifußballer, leitete beim heimischen Düren 99 die Jugendabteilung. Seit vier Jahren ist Vogt Music Director der Royal Northern Sinfonia in Newcastle, seine Pianistenkarriere läuft daneben ungebrochen weiter, gerade ist die zwanzigste Ausgabe seines eigenen Festivals in Heimbach in der Eifel zu Ende gegangen, daneben unterrichtet er an der Musikhochschule Hannover, und vor sieben Monaten ist er zum dritten Mal Vater geworden. Wenn er da, wie aktuell, an einem heftigen Bandscheibenvorfall laboriert (»Spielen ging, Dirigieren teilweise nur im Sitzen, und abends nach den Konzerten in die Klinik zum Spritzen. Das war wirklich ätzend«) – kommt da nicht der Wunsch auf, mal den Druck rauszunehmen, kürzer zu treten? »Überlegungen gibt es immer, es ist so schwierig umsetzbar, weil ich so viele Fronten habe, an denen ich tätig bin. Außerdem mag ich es schon, im Feuer zu stehen, da passieren oft besondere Dinge.« Vogt schluckt noch Schmerztabletten, wir bleiben also sicherheitshalber bei alkoholfreiem Bier und Rhabarberschorle.
VAN: Welche Erlebnisse haben Sie auf die Dirigentenspur gebracht?
Lars Vogt: Ich hatte das Glück, dass ich mit zwanzig innerhalb von zwei Monaten erst Simon Rattle beim Leeds Wettbewerb und dann Christian Thielemann kennenlernte, der damals noch in Nürnberg war. Das hat mir einen Schlag versetzt. Bis dahin war mir gar nicht richtig klar, was ein Dirigent eigentlich bewerkstelligen kann, wie toll das sein kann. Kurz darauf hatte ich mein USA-Debüt in der Hollywood Bowl, wohin mich Simon [Rattle] eingeladen hatte. Als wir da von der Bühne kamen, sagte er zu mir: ›In zehn Jahren bist du Dirigent.‹ Da war ich wie vom Schlag getroffen, aber es ist tatsächlich immer ein bisschen bei mir geblieben. Ich habe mit Dirigenten gesprochen, auch viel mit Simon, mir Proben angeguckt, mir Dinge notiert, ab und zu mal einen Versuch gestartet, wieder weggelegt, eigentlich immer ein bisschen scheu und mit Sorge, dass man mit einem Stempel versehen wird, ›schon wieder ein Solist, der‹. Aber dann hat es mir so viel Spaß gemacht, dass ich es für mich weiter erkunden wollte.
Hing das auch damit zusammen, dass die Wege als Solist enger verlaufen, man zum Beispiel oft dasselbe Repertoire spielen muss?
Das ist es eigentlich gar nicht. Interessanterweise ist mein Heißhunger aufs Klavierspielen durch das Dirigieren nochmal viel größer geworden. Bei mir hängt es eher mit der sozialen Komponente zusammen. Ich mag es einfach, mit einer Gruppe zu arbeiten, sie an eine Grenze und hoffentlich zu einem schönen Gemeinschaftserlebnis zu führen. Im Grunde ist es Kammermusik einen Schritt weitergedacht, und Kammermusik war bei mir ja immer sehr zentral.
Sie konnten sich dann relativ bald schon mit Ihrem eigenen Orchester, der Royal Northern Sinfonia, ›austoben‹. Dort sind sie seit 2015 Musikdirektor. War das ein Glücksfall?
Absolut. Als ich dort das erste Mal dirigiert habe, war es das mit Abstand beste Orchester, mit denen ich bis dahin gearbeitet hatte. Ich dachte vorher: ›Na ja, wäre ja nett, wenn sie mich mal wieder einladen‹. Als sie mich dann noch vor dem Konzert fragten, ob ich nicht ihr neuer Music Director werden wolle, war das einer der Wow-Momente im Leben, ›where everything falls into place‹.
Sie bezeichnen Simon Rattle als einen der wichtigsten Impulsgeber für Ihre Karriere …
Ja, schon als einen sehr wichtigen. Ihren Artikel habe ich Ihnen übrigens einen Tick übelgenommen. (lacht)
Weshalb?
Ich kenne die Situation aus der Dirigentenperspektive. Ich bin immer der Meinung, dass jeder sein Solo selber spielen soll. Aber wenn man als Dirigent eine Idee hat, und ein Musiker da partout nicht folgen will, warum ist er dann ins Orchester gegangen? Das fand ich ein etwas unfaires Nachtreten.
Sie spielen auf Aussagen eines ehemaligen Philharmoniker-Mitglieds an.
Ja. Es ist wie in der Kammermusik. Man braucht viel Persönlichkeit, um einer Sichtweise, die vielleicht nicht primär die eigene ist, eine echte Chance zu geben. Wenn man da sofort sagt: ›Nee, ich mache es aber so‹, spricht das für mich zunächst nicht für einen supertollen Musiker.
Wie gehen Sie selbst als Dirigent damit um?
Weil ich so ein harmoniesüchtiger Mensch bin, fällt es mir besonders schwer, mit Opposition umzugehen, die nicht sachlich begründet ist. Wenn ich das Gefühl habe, jemand ist missmutig und schlecht gelaunt oder muss prinzipiell immer einen Schuss dagegensetzen … – da reichen ja zwei oder drei Charakter in einem Orchester, um die komplette Stimmung kippen zu lassen. Das kann schwierig sein.
In unserem Text ging es vor allem um das komplexe Beziehungsgeflecht zwischen Dirigent und Orchester. Haben Sie das schon verstanden?
Es ist so unfassbar schwierig zu verstehen, weil es oft einfach eine Chemiegeschichte ist. Dirigenten, die bei dem einen Orchester gut funktionieren, kommen mit einem anderen gar nicht klar. Das hat ja auch Simon am Anfang seiner Karriere erlebt, beim Concertgebouw etwa. Gleichzeitig gibt es natürlich auch objektivierbarere Faktoren. Ich komme zum Beispiel musikalisch aus einer bestimmten Richtung, mir ist prinzipiell die Historische Aufführungspraxis sehr nah, Phrasierung ist mir sehr wichtig, dass etwas schwingt und wohin. Die Dicke und Saftigkeit des Klanges sind jetzt nicht per se für mich das Wichtigste, während es Orchester gibt, die sich gerne im eigenen Klang suhlen. Das kann auch mal okay sein, aber nur als eine von vielen möglichen Klangfarben.
In der Klassikwelt gibt es vorzeitige Vertragsauflösungen, anders als im Sport oder in der Wirtschaft, kaum, auch wenn eine Beziehung nicht mehr gut funktioniert.
Klar, dass es zwischen Orchester und Dirigent nach achtzehn Jahren auch schonmal haken kann. Dass ein Orchester auf dem Level der Berliner Philharmoniker, mit all den starken Individualisten, total anstrengend sein kann, ist auch klar, und dass irgendwann die Zeit da ist, weiterzugehen. Es ist interessant, dass Sie vorschlagen, Dirigentenverträge zum Beispiel auf fünf Jahre zu begrenzen. Ich denke, nach fünf Jahren sollten auch mein Orchester und ich mal weiterdenken, so sehr ich sie wirklich heiß und innig liebe und ich da Null Opposition spüre.
Was beeindruckt Sie an Rattle als Dirigent?
Er ist immer wieder Spitze in dem was er macht, allein schon schlicht und einfach in seinem Vokabular des Zeigens: Es ist so genau gekonnt und gewusst, Dinge die nicht auf den ersten Blick klar sind, auch nicht auf den dritten Blick. Das macht er nicht geplant, er spürt instinktiv, wie er Unterschiede zwischen Horizontalem und Vertikalem zeigt, das ist so klar bei ihm und so ungeheuer poetisch, ich gucke ihm wahnsinnig gerne zu. Und dann hat Simon einfach auch viel geleistet für die deutsche Musikwelt, die ja doch in sehr eingefahrenen Bahnen verlief. Gerade ein Organismus wie die Berliner Philharmoniker, wo bestimmte Dinge einfach erwartet wurden vom Orchester. Er hat das geöffnet. Ich glaube, er wird dort genauso ein Revival erleben wie einst Abbado. Mein Gott, haben die neulich mit Simon einen Sacre gespielt. Wenn da nicht dem kompletten Orchester klar war, dass man das eigentlich nicht besser machen kann… sowas von inhaliert, eine solche Intensität, dass es mich über eine halbe Stunde lang erschaudert und erschüttert hat. Und dann dirigiert er im gleichen Programm unglaublich schön ein Mozart-Klavierkonzert, baut dort alles etwas anders auf, so dass man sofort merkt: hier ist jetzt was los, da lohnt es sich, genau zuzuhören. Ich fühle mich da sofort zu Hause.
Es fällt auf, dass es eine Gruppe von Leuten gibt, mit denen Sie schon sehr lange sehr intensiv zusammenspielen, die untereinander auch viel kollaboriert, und die Sie regelmäßig bei Ihrem Festival in Heimbach versammeln. Im Hip-Hop würde man es vielleicht als eine ›Posse‹ bezeichnen. Leute wie Tanja und Christian Tetzlaff, Sharon Kam, Antje Weithaas, Isabelle Faust, Alban Gerhardt. Julian Steckel hat mir erzählt, dass er zum ersten Mal gemerkt hat, mit wem er gerne zu tun haben will, als er in Heimbach zu Gast war. Was verbindet sie?
Die Verbindungen sind früh entstanden, viel ist Boris Pergamenschikow zu verdanken. Boris war genial darin, Menschen, die ähnlich ticken und eine ähnliche Art von Fanatismus zur Musik haben, zusammenzubringen. Ich versuche die uns verbindende Haltung immer ähnlich zu beschreiben wie ich das eben für Orchestermusiker gesagt habe: Es braucht viel Persönlichkeit, aber es braucht immer das Zurückstellen vom Ego. Es nicht nötig zu haben, sich ins Rampenlicht zu stellen, gleichzeitig aber seine Persönlichkeit voll in die Waagschale zu werfen. Das ist etwas, was wir vielleicht gemeinsam haben. Uneitel sind wir alle nicht, wir wollen alle nicht ganz blöd aussehen auf der Bühne, aber wie wichtig ist mir das und wie sehr riskiere ich andererseits auch das Abstürzen, um einer Komposition nahe zu kommen? Gerade wenn junge Musiker dazukommen, ist es mir außerdem wirklich sehr wichtig, dass man sich auf Augenhöhe begegnet. Ich habe das früher selbst ein paar Mal erlebt, dass junge Musiker erstmal ein bisschen abserviert wurden.
Fühlen Sie sich innerhalb der klassischen Musikwelt eigentlich richtig wahrgenommen oder wertgeschätzt?
Das ist ja eine gefährliche Frage (lacht). Schwierig … (er denkt lange nach)
Anders gefragt, was ist denn die nervigste Zuschreibung über Sie, die sich festgesetzt hat?
Es gibt ein paar, die aus der Zeit stammen, in der ich recht schnell ins kalte Wasser geschmissen wurde, mit 20, nach dem Leeds Wettbewerb. Gottseidank war es ›nur‹ der Zweite Preis [hinter Artur Pizarro, d.Red.]! Ich bin eigentlich von Natur aus eher auf der schüchternen Seite. Mit der Zeit habe ich das etwas abgelegt, aber damals hatte ich oft eine Stimme im Kopf: ›Pass mal auf was du sagst, dass du niemanden vor den Kopf stößt.‹ Diese Art von Vorsicht, die aus meiner Biographie herrührt, führte dann dazu, dass ich manchmal eher abwägend, negativ formuliert ›unemotional‹ rüberkam. Ich war damals auch noch gar nicht ganz angekommen in diesem Beruf und wusste nicht, ob ich dazugehöre. Das ist natürlich schade, wenn sich so etwas festsetzt, auch, weil ich mich in den letzten 27 Jahren, glaube ich, schon sehr verändert habe (lacht). Die Frage der öffentlichen Wahrnehmung ist eine, mit der viele hadern, auch wenn man da nicht sonderlich stolz drauf ist. Ich zwinge mich dann immer dazu, bewusst in die Musik zu gehen und meinen Weg da zu finden. Das ist auch eine Frage von Erfahrung: Was ist eigentlich Glück? Der Höhepunkt der Karriere fällt nicht immer zusammen mit den glücklichsten Momenten. Ich habe manchmal mit Christian [Tetzlaff] und Tanja [Tetzlaff] in irgendeinem kleinen Kammermusikzirkel Trio gespielt und wir waren so glücklich.
Sie waren früher Dauergast bei den großen Orchestern, das ist – so scheint mir – etwas weniger geworden. Liegt das an dem für den Markt ›schwierigen‹ Alter, in dem Sie jetzt sind?
Das mag so sein. Ich glaube, das darf man mal offen sagen. Als ich 40 wurde, dachte ich: Jetzt kommt der nächste Schritt, jetzt legen wir noch einen drauf. Stattdessen sagte meine Agentur zu mir: ›Wir müssen dich warnen, das wird jetzt nicht so einfach‹. Das hat mich wirklich ein bisschen vor den Kopf gestoßen, als die meinten: ›Vierzig bis sechzig, da ist man nicht mehr junges Talent und noch nicht old revered Meister.‹ Man ist sozusagen ›old news‹. Obwohl bei den Meisten gerade zwischen Mitte dreißig und fünfzig musikalisch wahnsinnig viel passiert! Ich will mich nicht beklagen. Ich habe gerade mit dem Gewandhausorchester und dem Orchestre de Paris gespielt, aber diese Regelmäßigkeit ist nicht mehr da. Das ist für mich schwierig einzuschätzen: Ist es wirklich das Alter oder ist es die Dirigiererei? Man wird ja im Markt so gestempelt, eh man sich’s versieht steckt man in einer Schublade. Es ist gar nicht so einfach, die Balance zu halten. Jetzt trage ich außerdem manchmal den Stempel ›der macht nur noch Sachen ohne Dirigenten‹, weil ich die Beethoven-Konzerte ohne aufgenommen habe, und bald auch die Brahms-Konzerte. Dabei liebe ich es nach wie vor sehr, mit tollen Dirigent*innen zu arbeiten, die mich herausfordern.
Oder Dirigent*innen haben keine Lust jemanden zu engagieren, der auch dirigiert und alles besser weiß.
… und dann die Probenarbeit selbst in die Hand nimmt (lacht).
Warum braucht die Welt denn noch eine Aufnahme der Beethoven-Konzerte?
Das mag jetzt ein bisschen anmaßend klingen, aber so viele gute Aufnahmen gibt es gar nicht. Keines der Konzerte geht geradeaus durch, aber sie kommen eben auch alle aus der Phrasierungswelt der Alten Musik, auch das Emperor-Konzert kann man nicht einfach nur unphrasiert und stolz spielen. Das hat Linien, wo es hingeht. Der moderne Flügel besitzt außerdem viel mehr Möglichkeiten, sich dem Streicherklang anzugleichen, oder Bläserklang, oder Gesang. Dann sollten wir das auch nutzen und gleichzeitig wissen: Wenn Beethoven fortissimo geschrieben hat, war das möglicherweise für einen Hammerflügel gemeint. Es wird gerade mit den Beethoven-Konzerten viel Unfug getrieben und es gibt kaum ein Repertoire, wo mir so schnell so klar ist, ob jemand Kammermusik macht und ein Ohr für andere Stimmen hat.
Was war bisher der magischste Konzertmoment in Ihrer Karriere?
Schwierig, vielleicht schon das letzte Konzert in Leeds, wenn man das Gefühl hat: Genau in diesem Moment passiert etwas, wonach mein Leben anders verlaufen wird.
Kam der Erfolg dort total überraschend?
Schon sehr. Ich hatte mir den Wettbewerb als Arbeitsziel gesetzt, aber überhaupt nicht mit dem Finale gerechnet. Mein Lehrer Karl-Heinz Kämmerling meinte vorher noch zu mir: ›Fahr gar nicht hin, macht keinen Sinn.‹ Dann ging es immer weiter und plötzlich stand ich im Finale. Simon Rattle war damals 35, er hatte gerade sein Debüt hier bei den Philharmonikern hinter sich, ich hatte den Namen noch nie gehört!
Was war der Schlimmste?
Ein Klavierabend, in dem ich plötzlich durch eine Sonate, die ich schon tausendmal gespielt hatte, die Beethoven op. 111, nicht durchkam. Ich habe dann gesagt, ›sorry, ich habe Probleme‹, die Noten geholt und mir in den Flügel gelegt. Aber ich habe mich danach nicht mehr gefangen, da war der Boden weg unter den Füßen. Das kann einem passieren und es ist sehr sehr unangenehm. Ich erinnere mich auch an ein Mozart-Konzert mit dem Mahler Chamber Orchestra in Salzburg, zu Beginn einer Tournee mit Daniel Harding, Kurtág im Saal … Ich hatte das Konzert länger nicht gespielt, es war alles wieder sehr viel gewesen. Da war auch plötzlich der Boden weg unter den Füßen, kein Halt, man fühlt sich unsicher von a bis z. Das sind Momente, in denen man danach in Tränen ausbricht und denkt: ›Ich bin nicht gemacht für diesen Job.‹ Glücklicherweise ging die Tournee damals weiter und die nächsten vier Konzerte wurden immer schöner. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Kämmerling, der bis zuletzt mein Mentor, Gesprächspartner und Freund geblieben ist. Er führte es immer auf das Menschliche zurück: ›Ihr seid keine Maschinen, ihr macht zu viel, die Dinge brauchen Zeit, die müssen wachsen.‹ Diese einfachen Weisheiten, bei denen wir als Fünfzehnjährige dachte: ›Ach, lass den mal reden.‹ Aber dass eine Pflanze Zeit zum Wachsen braucht, dass man sie zwar gießen, aber nicht aus dem Boden zerren kann, diese einfachen Weisheiten sind einfach verdammt gültig (lacht).
Ist das Sich-nicht-leicht-Tun mit dem Auswendigspielen ein Frustthema für Sie gewesen?
Ja, ich habe immer drunter gelitten. Bis vor drei Jahren habe ich auswendig gespielt, meistens ging es auch gut, manchmal auch nicht so, aber in jedem Fall hat es mich daran gehindert, mich auf Klavierabende zu freuen. Ich habe mich jetzt dazu durchgerungen, Klavierabende nur nach Noten zu spielen, weil ich mir den Stress nicht mehr antun will. Solche Gespräche habe ich natürlich jetzt auch an der Hochschule. Ich kann meinen Student*innen, die das Auswendigspielen stresst, nichts anderes sagen, als das, wovon ich selber überzeugt bin: Wenn du einen Großteil der Zeit auf der Bühne damit verbringst, davor Angst zu haben, ob du durchkommst, anstatt zu denken: ›Was gebe ich dieser Phrase für einen Charakter?‹, dann ist es wirklich widersinnig. Bei mir hat es zwanzig Jahre gedauert, mir das einzugestehen.
Gibt es denn nach wie vor Vorbehalte gegenüber Musiker*innen, die sich die Noten hinstellen?
Christiane Weber [die Leiterin des Künstlerischen Büros beim Lucerne Festival, d. Red.] hat mir gerade in Heimbach erzählt, dass dort in Luzern ein Pianist nach Noten gespielt hat, worauf sich Leute aus dem Publikum beschwert hätten: Das ginge ja nicht, das wäre Repertoire, das man auswendig können muss. Da müssen wir, die wir dran glauben, dass das nicht sein muss – und das sind ja auch immer mehr – offensiver gegensteuern, statt so beschämt rumzudrucksen. Für mich ist es letztlich ein zirzensischer Aspekt, den Liszt damals reingebracht hat. Jetzt spiele ich halt auch mal Klavierkonzerte, bei denen ich nicht tausendprozentig sicher bin. Da ist dann eben das Ipad flach drin. Das ist überhaupt kein Ding.
Ist Ihnen das schonmal abgestürzt?
Bisher nicht, nur einmal hat das Blättern zwischen den Sätzen nicht funktioniert und es ging in einen komischen Modus. Da musste ich aber einfach nur die App kurz schließen und wieder öffnen.
Stimmt mein Eindruck, dass Ihnen einige Dinge nicht leicht fallen, über die sich andere gar nicht den Kopf zerbrechen oder die anderen einfach so zufliegen?
Ja, ich tue mich mit manchen Dingen schwerer, andere fallen mir dafür aber auch deutlich leichter als anderen. Ich brauche zum Beispiel viel länger, ein großes Stück wirklich so auf die Bühne zu bringen, dass ich das Gefühl habe: Jetzt gehört es da auch hin. Bei Mozart hat es bei mir zum Beispiel immer lange gedauert, bis ich mich mit einem Konzert richtig wohlfühle. Manchmal habe ich eins ganz lange gespielt, dann kam plötzlich wieder so ein Gefühl, dass es nicht richtig verinnerlicht ist. Vor Jahren bin ich mit Kämmerling mal nach einem Konzert in Hannover Essen gegangen und habe ein bisschen geklagt: dass ich im Repertoire nicht richtig weiterkomme, eigentlich müsste ich doch längst mal die Hammerklaviersonate gespielt haben, und dies und jenes. Er sagte dann nur: ›Lass Dir doch Zeit.‹ Das ist mir so im Gedächtnis geblieben, wie er das gesagt hat, mit einer totalen, beruhigenden Überzeugung, gepaart mit dem kompletten Unverständnis gegenüber diesem Durchhetzen durchs Repertoire. Jetzt beginne ich gerade, die Hammerklaviersonate zu lernen und habe sie für die Saison 19/20 programmiert.
Sie nehmen in einigen Interviews öfter auf religiöse Themen Bezug. Sind Sie gläubig?
Nach vielen Gesprächen mit dem gänzlich ungläubigen Pastorensohn Christian [Tetzlaff] nicht mehr (lacht). Neulich meinte ich zu ihm: ›Ich würde mir so wünschen, dass im Moment des Sterbens die Dinge alle klar werden.‹ Er meinte dazu nur ganz trocken: ›Och, du bist ja süß‹. (lacht) Am Ehesten bin ich noch gläubig in der Musik. Wenn manche Musikerfreunde, die ich musikalisch sehr schätze, konsequent sagen: ›Seele gibt’s nicht, Herz gibt’s nicht. Das sind Moleküle und biologische Prozesse‹, dann ist bei mir die Musik ihres Kerns beraubt. Wenn ich nicht irgendwo im langsamen Satz der Neunten von Beethoven doch denke, dass da etwas in unserer Seele in Schwingung gerät, und die Musik spürt dem sogar nach in diesen Variationen, die immer dichter werden … – wenn ich da nicht dran glaube, ist was weg.
Wenn wir schon bei den letzten Dingen sind, was ist ihr Bild eines gelingenden Musikerlebens, meinen Sie zum Beispiel, dass es immer parallel weitergeht mit Klavier und Dirigent?
Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich das Klavierspielen hintenanstelle. Das hätte ich mir vielleicht vorstellen können, wenn es alles am Auswendigspielen gehangen hätte, denn der Stress hat mich wirklich oft belastet.
Haben Sie in der Hinsicht Vorbilder?
Herbert Blomstedt! Ich habe selten einen glücklicheren Menschen getroffen. Was für ein absolutes Glück, im Alter noch das Gefühl zu haben: Die Leute möchten mich hören und ich kann noch etwas aussagen. ›Sich etwas beweisen‹ ist doch glaube ich – in Massen – das, was jeden im Alter noch glücklich macht. Nicht nur Rückblick, sondern auch sehen: das kann ich noch. Wie schön! Hier bin ich noch in einem Bereich selbstwirksam, wie schön! Ich erlebe das gerade bei meinem Vater, für den nun jeder kleine Spazierweg zur Herausforderung wird. Und jedes ›das kann ich noch‹ etwas Hoffnung und Freude auslöst.
Aber kommt nicht, wenn man sich noch im Wettbewerb und Markt befindet, vielleicht der Gedanke rein: Wollen mich die Leute nur hören, weil ich ein Superlativ des Alterns bin?
Solche Fragen könnte man sich ja dauernd stellen. Wollen sie mich hören, weil ich gerade die CD aufgenommen habe, oder weil Sie das Konzert im Abo haben, oder weil ich so unglaublich gut aussehe? Glücklicherweise stellt sich letztere Frage bei mir erst gar nicht (lacht).
Letzte Frage: Sie haben mal mit Lothar Matthäus telefoniert!
Ja, ich weiß es noch wie heute, mit meinem Kumpel von gegenüber, Alexander. Es war eine Leseraktion der Dürener Nachrichten. Da war der Matthäus vielleicht 18 oder 19, am selben Abend war ein Spiel der U-21 Nationalmannschaft. Er war damals noch bei Gladbach und unser Held. Das hat mich schwer getroffen, als er dann zu Bayern ging! Die Zeitung hat diese Nummer rausgegeben, unter der er für eine Stunde Rede und Antwort stand, und wir haben zu zweit an dem alten Wähltelefon gehangen. Erst war immer besetzt – plötzlich dann: ›Hallo, hier ist Lothar Matthäus.‹ Ich kann mich noch an den entsetzten Blick meines Freundes erinnern, als wir ihn plötzlich leibhaftig an der Strippe hatten.
Wissen sie noch, worüber sie geredet haben?
Wir hatten uns extra drei Fragen überlegt: Eine war, wer eigentlich Kapitän bei Gladbach wird, wenn der etatmäßige nicht spielt. Die Antwort war ›Winnie Schäfer‹. Das war ein aufregender Moment für uns, mit unserem Helden zu sprechen. Am Abend stand ich dann mit meinem Vater im Tivoli beim Spiel der U-21 Nationalmannschaft und habe ›Lothar-Matthä-Us‹ gerufen. 1997 habe ich ihn zufällig auf Hayman Island in Australien wieder getroffen, wo ich ein paar Konzerte gespielt hatte. Er war da noch mit seiner Lolita. Schon am ersten Tag dort meinte ich zu meiner damaligen Frau: ›Der sieht so aus wie ein bekannter deutscher Fußballer‹. ¶