Am Sonntag sind im kleinen Kurort Gohrisch die zehnten Internationalen Schostakowitsch-Tage zu Ende gegangen: An vier Tagen sind in einer Scheune mitten im Nirgendwo Künstler wie das Quatuor Danel, das Borodin-Quartett, Geiger Linus Roth, Schauspielerin Isabel Karajan und Cellist Isang Enders aufgetreten, und das alles ohne Honorar, für symbolische zehn Euro Frackgeld. Beim ersten Lesen klingt das wahnsinnig, vor allem, dass das Festival auf diese Weise schon zum zehnten Mal stattfinden konnte. Doch der Ort hat etwas Besonderes an sich: Dmitri Schostakowitsch komponierte hier an drei Tagen im Jahr 1960 sein berühmt gewordenes 8. Streichquartett. Es ist das einzige Werk, das er außerhalb der Sowjetunion schrieb: Fünf Sätze über die Töne D-Es-C-H, seine Initialen, eine Art Requiem für sich selbst. Noch heute gibt es diesen Ort, den kleinen Gartenteich mit einer Bank davor, der insgesamt sehr viel weniger malerisch aussieht, als man es sich im Vorhinein vielleicht vorstellen mag.An dieser Stelle kommt der Komponist Krzysztof Meyer ins Spiel: Er ist von Beginn an an der Entwicklung des Festivals beteiligt und berät dessen künstlerischen Leiter Tobias Niederschlag bei der Programmierung. Meyer kannte Schostakowitsch persönlich. In seinem Buch »Schostakowitsch: Sein Leben, sein Werk, seine Zeit« beschreibt er die Begegnungen mit dem scheuen, nervösen Menschen, der ihm in klarer Erinnerung geblieben istAm zweiten Festival-Tag sitzt Meyer nun in einem weißen Hotel-Konferenzraum und nimmt sich Zeit. Er spricht über den Freund Dmitri Schostakowitsch, dessen berühmtestes Streichquartett und die Zukunft der klassischen Musik.

Krzysztof Meyer • Foto © Jürgen Hocker
Krzysztof Meyer • Foto © Jürgen Hocker

VAN: Sie haben Dmitri Schostakowitsch persönlich gekannt. Haben Sie sich auch hier in Gohrisch getroffen?

Krzysztof Meyer: Ich wollte einmal herkommen, als Schostakowitsch zum zweiten Mal hier war. Aber so einfach war das damals nicht. Ich wusste, dass er hier immer von vielen Komponisten belagert wurde und keine Zeit haben würde.

1972 war das?

Genau, und er war schon damals krank. Er hat mir zwar geschrieben, es wäre schön sich zu treffen, aber es hat dann nicht stattgefunden. Aber ich hatte genug Gelegenheit, mich mit ihm bei anderen Gelegenheiten zu treffen, in denen er alleine war und wir ganz ruhig miteinander sprechen konnten.

Wie haben Sie ihn kennengelernt?

Das war 1961, aber zuerst brieflich. Das erste Treffen mit ihm war sehr schwierig. Er war wahnsinnig nervös und hatte kein Vertrauen zu Menschen, die er nicht kannte. Er war zwar höflich, blieb aber sehr sachlich. Ich habe ihm etwas von mir vorgespielt. Ich war 21 Jahre alt und noch ein Student.

Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?

Im Frühjahr ‘74, ein Jahr vor seinem Tode. Wir haben uns im März oder im April gesehen, und er ist im August des nächsten Jahres gestorben.

Wie war dieses letzte Treffen?

Sehr traurig, weil mir bewusst war, dass das die letzten Monate seines Lebens waren. Er hatte damals schon vieles verloren von seinem Charakter. Er verfügte über eine besondere Ausstrahlung als Mensch, doch beim letzten Treffen sprach ich mit einem schwachen, kranken Mann, und alles, was bei ihm außergewöhnlich gewesen war, war verschwunden. Das war für mich sehr traurig. Wissen Sie, ich war mehrmals bei ihm zu Hause, und wollte ihm als junger Komponist natürlich meine Arbeiten zeigen. Und das war immer so: Er saß an seinem Arbeitstisch, ich saß daneben, und er hörte meine Musik und blätterte in den Noten. Aber beim beim letzten Treffen war das umgekehrt. Er zeigte mir sein vorletztes Quartett Nummer 14 und seinen Liederzyklus, und ich saß an seinem Arbeitsplatz, und er saß daneben, dort, wo ich sonst immer saß. Ich fand das so unglaublich traurig. Das war nicht mehr die Situation, die ich kannte – der Meister und sein Schüler, der anfängt zu komponieren und alles aufsaugt, was ihm gesagt wird. Natürlich fühlte ich mich geehrt, als er sagte, er wolle mir seine zwei letzten Arbeiten zeigen, aber ich saß dort, wo er immer saß, und er schaute immer nach unten und trank Cognac, also ununterbrochen. Wir waren beide ein bisschen besoffen, muss ich sagen. [lacht]

Wie ging es danach weiter?

Wir haben noch mehrere Male telefoniert. Ich hatte nämlich entschieden, ihm keine Briefe mehr zu schreiben, weil seine rechte Hand schon fast gelähmt war. Ich wusste: Wenn ich ihm schreibe, antwortet er immer, er antwortete immer auf jeden Brief. Und ich wollte vermeiden, dass er sich quält. Den letzten Brief habe ich also an seine Frau geschrieben.

An Irina Antonovna.

Genau. Ich habe ihr geschrieben, dass ich ihm nicht schreiben will, aber um zwei Worte bitte, wie es ihm geht. Ich habe den Brief abgeschickt, und eine Woche später ist er gestorben. Ich war in Moskau beim Begräbnis. Als ich nach Krakau zurück kam, lag da ein Brief. Von ihm.

Er hat Ihnen doch geantwortet.

Es war kaum zu lesen, aber er hat geantwortet. Das war rührend. Er entschuldigte sich, wissen Sie. Er hat sich entschuldigt, dass er so unlesbar schreibt und dass er so kurz schreibt. So jemand wie er schreibt einem jungen Mann: ›Ich bitte um Entschuldigung.‹ Und ›vielen Dank für die Fotos Ihrer Kinder, mögen sie immer gesund und glücklich bleiben.‹ Und dann Postskriptum, aber nur als Postskriptum: ›Obwohl es mir schwer fiel, habe ich eine Sonate für Bratsche und Klavier geschrieben.‹

Hat er Ihnen gegenüber auch über das 8. Streichquartett beziehungsweise auch über den Ort Gohrisch und das zerstörte Dresden gesprochen?

Nein. Gohrisch war nur eine von vielen Reisen für ihn, und ich glaube nicht, dass diese Reise von großer Bedeutung für ihn war. Ich habe von ihm über Gohrisch kein Wort gehört. Ich glaube, er wusste auch nicht genau, wie der Ort heißt. Es gibt einen Brief an seinen Freund Isaak Glikman, in dem er schreibt: ›Ich war in Görlitz, und es ist wunderbar dort.‹ Er hat die beiden Ortsnamen miteinander verwechselt.

Wie nehmen Sie den Ort hier wahr?

Wissen Sie, ich liebe Berge. Also das hier ist für mich wirklich ein Paradies.

Ist es für Sie anders, das 8. Streichquartett hier zu hören statt in einem x-beliebigen Konzertsaal?

Da muss ich Sie enttäuschen, ich höre es genau wie in einem beliebigen Konzertsaal. Es geht um diese wunderbare Musik, und sie wirkt eigentlich, wenn sie gut gespielt wird, überall gleich, in Gohrisch wie in Berlin oder in Paris oder in Moskau. Also für mich auf jeden Fall, als Musiker. Das Publikum braucht manchmal die Impulse von außen, die mit der Musik direkt nichts zu tun haben, aber für mich ist in erster Linie die Musik wichtig, die live gespielt wird und viel authentischer ist als auf einer CD oder DVD.

Viele empfinden die Musik von Schostakowitsch als ›doppelbödig‹, Sie auch?

Nein, nein, das ist eine Legende. Es gibt natürlich einige Stücke, die einen doppelten Boden haben.

Die 5. Symphonie zum Beispiel.

Ja, die 5. Symphonie. Aber es ist ein Irrtum, wenn man bei jedem Stück nach einer Doppelbödigkeit sucht. Letztendlich war Schostakowitsch ein Komponist, der Musik verschiedener Gattungen komponierte, und es gibt viele Werke, die einfach pure Musik sind, ohne Programm von außen. Gerade beim 8. Quartett ist es auch so: Es gibt autobiografische Elemente, aber man kann nicht sagen, dass die Musik vom ersten bis zum letzten Takt doppelbödig ist. Es gibt ein Buch von einem schon verstorbenen Autor, Ian MacDonald, darin sucht er in jedem Takt jedes Stückes danach: Hier ist die Sammlung der Partei, hier sind die Detektive Stalins, hier gibt es noch irgendetwas anderes – was für ein Blödsinn. Musik ist eine Kunst, die eine eigene Sprache hat, und diese Sprache lässt sich nicht übersetzen, Gott sei Dank.

Was macht das 8. Streichquartett denn zu dem herausragenden Werk, als das es oft bezeichnet wird?

Ich würde sagen, das 8. Quartett ist eine von vielen herausragenden Kompositionen Schostakowitschs. In seiner Kammermusik haben wir die Quartette Nummer Drei, Vier und Fünf zum Beispiel. Oder die letzten drei Quartette, die auch genial sind. Wir haben das Klavierquintett, das Klaviertrio. Das 8. Quartett gehört in die Gruppe seiner vielleicht vollkommensten Werke, es ist aber nicht die absolute Spitze.

Trotzdem ist es das wohl meistgespielte Streichquartett Schostakowitschs.

Das stimmt, aber aus einem anderen Grund: Es ist äußerst einfach, diese Musik zu spielen. Das 8. Quartett kann man fast von Blatt spielen, und das erleichtert die Vorbereitung. Das 9. Quartett ist beispielsweise das Gegenteil, ein schwieriges Stück, für das man wirklich viel Erfahrung haben muss.

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Ist diese Musik denn heute noch aktuell?

Sie ist vielleicht nicht mehr so aktuell, wie sie mal war. Die Welle der zweiten Avantgarde war sehr stark, also die Musik der 50er und 60er Jahre. Damals waren viele Musiker und Interpreten davon überzeugt, dass das, was sie tun, die Zukunft sei. Ich erinnere mich, dass ich auch daran geglaubt habe: Ich war tief davon überzeugt, dass die Zukunft der Musik Webern sei, Stockhausen, Pierre Boulez, John Cage, Aleatorik, also all diese Gattungen, all diese Formen, die damals entstanden sind. Niemand von uns konnte ahnen, dass diese äußerst interessante Musik ja doch sehr schnell veraltet sein würde.

Was meinen Sie?

Wenn wir über die erste Reduktion der Musik Anfang des 20. Jahrhunderts reden, über die Skandale, die Sacre du Printemps von Strawinsky ausgelöst hat, oder Pierrot Lunaire von Schönberg, oder sogar das 2. Klavierkonzert von Prokofjew, das war Musik, die die Leute, das Publikum und auch die Musiker abgelehnt haben. Und jetzt sehen Sie, dass all diese nach nur 50 Jahren schon Klassiker geworden sind. Diese Werke werden heute überall gespielt, sogar bei normalen Abonnementkonzerten, und sie ergänzen die große Musikgeschichte. Wenn wir aber über die Werke des jungen Stockhausen sprechen, die Musik von Boulez und Luigi Nono – die werden zwar gespielt, aber nie bei normalen Konzerten. Allenfalls bei Festivals oder im Rahmen irgendwelcher Neue-Musik-Events. Diese Musik hat kaum Chancen – nach so langer Zeit, nach 70 Jahren! Sie ist immer noch etwas Interessantes, etwas Ungewöhnliches, aber nichts, was das Publikum gewöhnt ist, und auch nichts, was die großen Musiker unbedingt spielen wollen.

Woran liegt das?

Es fehlen viele Elemente, die damals, also bis zur ersten hälfte des 20. Jahrhunderts, für jede Musik elementar waren. Es gibt zum Beispiel keine Emotionen, es gibt keine Melodien – egal, ob man eine Melodie mag oder nicht, Melodie ist meiner Meinung nach eines der wichtigsten Elemente der Musik. Melodie ist etwas, das man singen kann, und Musik ist aus dem Singen entstanden. In der Geschichte hatten wir zuerst die Vokalmusik und dann die instrumentale Musik. Wir lieben singen. Und die Musik von dieser Gruppe Komponisten gibt uns keine Gelegenheit zu singen. Das klingt vielleicht sehr traditionell und anachronistisch, aber ich denke, es ist so. Wenn etwas sehr interessant ist, wenn etwas neu ist, ist das wunderbar. Aber wenn es nur neu ist oder nur interessant, ist das viel zu wenig. Die Beurteilung, ein Werk sei gut, weil es neu ist, ist eine recht primitive Beurteilung. Denn das, was heute neu ist, ist in zehn Jahren nicht mehr neu, und dann ist das Hauptkriterium schon weg. Und was bleibt dann? Irgendwelche Kombinationen.

Hat Schostakowitschs Musik Sie in Ihrem eigenen Komponieren sehr beeinflusst?

In meiner Jugend ja, aber nur relativ kurz, vielleicht als ich 16 bis 19, vielleicht 20 Jahre alt war. Ich mochte die Musik von Schostakowitsch sehr, aber eben genauso, wie ich die Musik von Mahler mochte oder früher von Mozart oder von Bach und Beethoven. Für mich war da kein Unterschied zwischen all diesen Komponisten: Es war wunderbare, geniale Musik, und ich hatte viel Spaß sie zu hören. Aber das bedeutet nicht, dass Schostakowitsch mein Guru war. Wenn ich Ihnen meinen Lieblingskomponisten des 20. Jahrhunderts nennen sollte, das sage ich immer, und schon mein ganzes Leben: Das war Béla Bartók.

Warum?

[seufzt] Warum lieben sie jemanden? Soll man das begründen? Das sind Emotionen. Liebe ist nicht immer ein »weil«, sondern oft ein »trotz«. ¶

… schreibt als freiberufliche Musikjournalistin unter anderem für die Zeit, den WDR und den SWR. Nach dem Musikstudium mit Hauptfach Orgel und dem Master in Musikjournalismus promoviert sie am Institut für Journalistik der TU Dortmund im Bereich der Feuilletonforschung.