Elvira Seiwert über Interpretation im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit.

Text · Titelbild László Moholy-Nagy: Future Present (Creative Commons) · Datum 26.6.2019

Es war Anfang der Fünfzigerjahre. Die »Hörzu« verhalf Axel Springer zur ursprünglichen Akkumulation. Ich lernte gerade lesen. Gleich der erste Band der lustigen Hörzu-Bilderbücher mit dem Redaktionsmaskottchen Mecki gefiel mir, er führte ins Schlaraffenland. Bevor man aber in die Gefilde von Honig, gebratenen Tauben und ewiger Muße gelangte, war, ihn verspeisend, ein massiver Wall trockenen Hirsebreis zu durchqueren. Daran musste ich bei der Lektüre der ersten etwa sechzig Seiten von Elvira Seiwerts Buch »Enthüllungen« denken. Nichts gegen Hirse: Fluor, Schwefel, Phosphor, Magnesium und besonders Silizium, Eisen, Kalium und Vitamin B6 machen diese Spelzgetreidesorte zum Mineralstoffbomber. Seiwert hat, ins Geistige übertragen, eine höchst gehaltvolle, gliedernde Einführung zur, so der Untertitel, »musikalischen Interpretation im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit« geschrieben. Walter Benjamins berühmter Text von 1935 über den Einfluss der Produktivkraftentwicklung auf die (Bilder)Kunst drängte Theodor W. Adorno zu einer unvollendet gebliebenen Theorie musikalischer Reproduktion. Seiwert lässt sich in »Enthüllungen« deren späte Komplettierung angelegen sein. Benjamin und mehr noch Adorno – und noch viel mehr viele ihrer Erben, Seiwert eingeschlossen – das hieß für mich seit Studienzeiten: Findeglück und Lesequal. Klar, im Geistesleben ist ohne Anstrengung nichts zu haben; der Stil der Frankfurter Schule fordert heraus, genau zu lesen, genau zu denken, er bringt bewundernswerte Beispiele poetisch differenzierter Wissenschaft hervor. Aber gerade deren Triftigkeit verdient eine ihr gewachsene Syntax. Verständlichkeit ist eine demokratische Tugend. Der kritisch genaue, unkorrumpierte, dabei spürbar engagierte und liebevolle Blick dieser Autorin auf die Musik verträgt sich nicht mit seiner streckenweisen Unzugänglichkeit. Die ideale Lösung: ein Gespräch mit Elvira Seiwert über einige Gegenstände ihres an Gegenständen reichen Buches.

VAN: Ihr Thema der musikalischen Reproduktion kommt, wenn ich recht sehe, in der Musikwissenschaft ziemlich kurz.

Elvira Seiwert: Die Musikwissenschaft ist am Problem der Reproduktion – der musikalischen wie der technischen – nicht sonderlich interessiert. Ja, noch schlimmer: Sie hat heute sogar eine Tendenz, die Musik loswerden zu wollen.

Die Musik loswerden?

Sie kann mit ihr nichts mehr anfangen. In der FAZ melden sich ab und an Musikwissenschaftler zu Wort. Da gab es eine Dame, die meinte, dieses Klein-Klein in der Musikanalyse, darum kann es nicht mehr gehen. Es muss etwa um interdisziplinäre Anschlussfähigkeit gehen. Interdisziplinär anschlussfähig ist zum Beispiel Biografie, alles ist ja irgendwie Biografie. Das kann man vernetzen, man kann es verknüpfen. Dinge wie die Lebensverhältnisse und Arbeitsbedingungen von Musikern oder Literaten, die vernetzt man – das Phänomen Musik selber braucht man nicht mehr. Nun ist Biografie aller Ehren wert, sie gehört irgendwo dazu – aber wo finden Sie sie in der Musik wieder?

Haben Sie dafür ein Beispiel?

Es heißt, Beethoven war taub und das könnte eine Erklärung sein für diese Kakophonie in der Großen Fuge op. 133. Die Vermutung ist: Er hat solche Dinge wie Dissonanzen nicht mehr gehört.

So denken Sie jetzt aber nicht?

Ich? Gott bewahre. Erstens ist es für mich keine Kakophonie und Beethovens Taubheit ist mir völlig egal. Bei ihm war das innere Ohr unfehlbar ausgeprägt.

Es sieht so aus, als gehe es diesen Leuten nicht mehr um Musik. Es geht um Signale, um einen akustischen Dauerzustand. Aber nicht um die Erkenntnis dessen, was Musik tun kann – die Möglichkeit von Geschichtsschreibung, von Störfeldern, von Sabotage; ein subversives Unternehmen kann sie sein, das ist das Interessante an Musik. Warum sind beispielsweise Mozart oder Bach interessanter als Telemann?

Weil sie subversiv sind?

Natürlich. Es gibt viele Komponisten, die die Formen kennen und deren Sprache, die wissen, wie man ein Rondo komponiert (und das tun sie dann) – Unterhaltungsmusik im Prinzip, selbst wenn ›Sinfonie‹ drüber steht, ›Sonate‹ oder was auch immer. Aber es wird interessant, wenn das Schema nicht erfüllt, wenn gegen das Schema gearbeitet wird.

Wobei es offenbar keine Rolle spielt, ob das Subversive Teil des Komponistenbewusstseins ist – es steckt in der musikalischen Form. Musik meint nichts anderes als sich selbst, sagt Adorno, sie ist, was erklingt, und was erklingt, ist subversiv.

Es klingt vielleicht simpel, aber Adorno wendet sich in diesem Punkt gegen die idealistische Philosophie mit ihrer These, dass Wesen und Erscheinung zweierlei sind und dass man quasi durch die Erscheinung hindurch muss, um zum Wesen zu kommen (Nietzsche feiert diese Migrationsbewegung sarkastisch als die von ›Hinterweltlern‹). Von daher auch mein Buchtitel ›Enthüllungen‹. Enthüllt werden sollen nicht zuletzt idealistische Spekulation, das, woran der Glaube sich entzündet, wo hermeneutische Deutungsregime und politische Regierungen zu Hause sind.

Sie sind anderer Meinung?

Für mich liegt das Geheimnis der Musik an der Oberfläche. Es gibt nichts dahinter. Man hat die Noten, man hat die Partitur, die man lesend entziffern  muss.

Klingt auch ziemlich simpel.

Nicht, wenn Sie die Oberfläche als Physiognomie verstehen, als reaktive Gestaltung, in die Geschichte ihre Spuren eingezeichnet hat. Dann wird Lesen zum dialektischen Prozess. Der Text muss in Bewegung gebracht, die Prägungen müssen aktualisiert werden. Es muss so gelesen – und reproduziert – werden, dass das, was Beethoven als Strategien eingesetzt hat, hörbar wird. Man hört es selten so.

Ist das eine Frage des Zeitgeists?

Robert Schumann etwa wurde im frühen 20. Jahrhundert wenig gespielt. Er galt als biedermeierlich, ausgenommen die Klavierwerke, die machten großen Effekt. Mit dem Orchester, meinte man, hatte er ein Problem. Das Problem hatten allerdings eher die Interpreten. Sie reproduzierten nicht, was in den Noten stand, beziehungsweise taten es so, dass die Undeutlichkeit, die sie selber Schumann unterstellt hatten, triumphierte.

Was stand in den Noten?

Im zweiten Satz des Violinkonzerts, zum Beispiel, verschiebt Schumann das ›ordentliche‹ metrische Schema. Er verwandelt es in eine Art Phantasmagorie. Der Boden, auf dem man zu stehen glaubt, gerät durch die dezentesten Akzentverschiebungen ins Wanken. Diese Akzentverschiebungen, die Phantasmagorie überhaupt, ist in der Zeit, in der er komponiert hat, der Zustand des Bürgertums. Statt Verankerung im Tätigsein: Eingeschlossensein in der Immanenz. Aber innerhalb dieser Immanenz ist man nicht geborgen, sondern steht auf schwankendem Boden. ›Wie auf Asphalt übers Moor‹ schreibt Benjamin bei Gelegenheit von Kafka. Das beschreibt exakt den besagten Bewegungsmodus bei Schumann. Ob man es hört oder nicht, hängt natürlich mit dem Zeitgeist zusammen.

Das Buch hat Ihnen viel Ärger eingebracht.

Es war meine Habilitationsschrift. Ich hatte einen musikwissenschaftlichen Betreuer, der es aus alter Gewohnheit machte, weil er meine Sachen irgendwie interessant fand. Er hatte aber kein gutes Gefühl. Zuviel kritische Theorie, zu viele formale Eigenwilligkeiten. Ich hatte es gewagt, das Problem der Reproduktion nicht nach akademischen Usancen zu behandeln. Bei mir findet Theoriebildung nicht ohne Praxis – die Medien, den Musikmarkt – statt. Fürs akademische Verfahren fanden sich keine weiteren Gutachter. ›Zieh die Arbeit zurück‹, empfahl er mir, ›du musst ja nicht unbedingt habilitiert sein.‹ Außerdem habe Frankfurt auch Benjamin abgelehnt. Das tröstete mich nicht wirklich. Es ging mir nicht um akademischen Lorbeer, ich fand die Sache wichtig. Ich bin also selber auf die Suche nach Gutachtern gegangen und habe mit Clemens Gadenstätter und Michael Gielen zwei Praktiker mit ausgewiesener theoretischer Kompetenz gefunden. Die musste die Universität dann akzeptieren. Ich wurde in Frankfurt habilitiert und mit solidarischem Desinteresse bestraft. Für die Zunft, die zufrieden im institutionellen Sicherheitstrakt sitzt, ist es ein unmögliches Buch. Der Clou war: Man sagte mir nach, dieses Buch mache deutlich, dass ich ein Ressentiment gegen die Universität hätte. Ich habe absolut kein Ressentiment gegen die Universität. Aber was fange ich mit einer Universität an, die sich um Reproduktion nicht kümmert, die die Musik in ein Streckbett von Objektivierungen, Typisierungen, Typologisierungen einspannt und ihr jede Möglichkeit zu atmen nimmt?

Die Ablehnung Benjamins in Frankfurt wurde durch die Hinnahme Adornos nach dem Krieg kaum korrigiert.

Das gehört ins traurige Kapitel deutscher Vergangenheit, die nicht endet. Für die Musikwissenschaft ist Adorno ein ständiger Stein des Anstoßes. Er wird, seit er mit seinen musikalischen Schriften aufgetreten ist, ignoriert oder denunziert. Es wechselt allein die Form des Ressentiments. Neuerdings wird er gefeiert – ein probates Mittel jemanden zum Schweigen zu bringen.

Adorno begreift, wie Benjamin es mit der Literatur tat, Beethoven anhand seiner Partituren als geschichtliches Phänomen.

Er sagt beispielsweise, die Beethoven-Sinfonien seien Volksreden an die Menschheit und belegt das mit dem komponierten Text, den kompositorischen Strategien.  

In der Dritten, der Fünften und Neunten?

Da liegt es offen zutage. Subversiver geht’s in der Achten zu, im letzten Satz, das wird oft überhört. Die Revolution war ja im Kern der Ausbruch aus der Immanenz, die Kontinuität der Geschichte sollte unterbrochen werden. Die Crux des Finalsatzes der Achten ist ja, dass er von sich aus nirgends von der Stelle kommt, und Beethoven – von außen – quasi eingreifen muss. Im äußersten Notfall, gegen Ende, wenn’s dann gar nicht aufhören will, die Musik, wie unter Wiederholungszwang, vor sich hinkreiselt, formiert sich eine Innenstimme in den tiefen Bläsern und Streichern. Sie steigt in den Tönen des Grund-Akkords aufwärts und sorgt für Erlösung. Die Musik kann ­– endlich! – enden. Das hat jetzt nichts mit dem Beethoven-notorischen Appell oder seinem proklamatorischen Gestus zu tun. Das kann man in einfachen Wörtern dingfest machen, eine strategische Angelegenheit. So was finden Sie überall in der Musik. Aber man hört es eben selten.

Der Tod, heißt es in Ihrem Buch, sei der Schnittpunkt des Biografischen mit der Geschichte.

Natürlich, Schumann, Beethoven oder sonst wer, die die Musik geschrieben haben, sie ist ja nicht vom Himmel gefallen. Die Musik ist keine Himmelsmacht, im Gegenteil. Sie ist tief verankert in der Geschichte. Die Geschichte muss in ihr widerhallen, das tut sie, je besser komponiert, desto überzeugender.

Medien, verstanden allgemein als ›vermittelnde Elemente‹, sind, zugespitzt durch die Digitalisierung, in letzter Zeit im Zusammenhang der Kommunikation Gegenstand großen Interesses.

Bereits in den 1920er Jahren wurde in der Musikzeitschrift ›Pult und Taktstock‹ die Frage diskutiert, was der mit der Schallplatte beginnenden Mechanisierung der Musik alles zu verdanken sei. Hans Heinz Stuckenschmidt als Herold der damals neuen Medien war begeistert. Der Komponist sollte sofort ins Medium hineinkomponieren können, es müßte keine Interpreten mehr geben. Der Bauhaus-Künstler Moholy-Nagy wollte eine Matrize von 5 Meter Durchmesser schaffen, auf die der Komponist sein Werk, bevor es auf fotomechanischem Weg auf Grammophongröße verkleinert würde, direkt eingravieren konnte.

Das Erstaunliche daran ist, dass die Gestalt des Kunstwerks ein für alle mal festgelegt wäre, Veränderungen im Werk und der Interpret fielen weg. Jede Geschichtlichkeit wäre der Musik ausgetrieben, der Interpret überflüssig. Eine Vision, die Günter Anders’ These von der ›Antiquiertheit des Menschen‹ vorwegnimmt.

Eine Dystopie.

Sie dauert an. Das Bauhaus war noch analog. Aber auch im Digitalzeitalter wird innerhalb der Musikwissenschaft über die Rolle der Medien kaum nachgedacht. Man bescheidet sich mit Interpretationsgeschichtsschreibung, Interpretationstypologien, schüttelt Begriffskaleidoskope, und schreckt selbst vor messianischem Verkündigungswahn nicht zurück.

Der pure musikwissenschaftliche Elfenbeinturm.

Mich erinnert es eher an die über den Wolken hängende Insel Laputa bei Swift im ›Gulliver‹. Da scheint eine Musikwissenschaft, die im Betrieb aufgeht, nur noch Fördermittel abgreift, antezipiert. Man interessiert sich nur für Musik und Mathematik, schaut und horcht nach innen oder senkrecht gen Himmel, hat ein Rudel von Dienern um sich, von denen man sich immer wieder gegen den Kopf schlagen läßt, damit sich die Gedanken sortieren. Was sie produzieren mag in sich perfekt sein, taugt aber nicht für die Praxis. Es gibt natürlich Ausnahmen.

Gleich am Anfang Ihres Buches nehmen Sie sich den Kommunikations- und Medienwissenschaftler Norbert Bolz vor.

Der formuliert die ›radikale Antithese‹ zu dem, was er Adornos ›vergeistigte Musikästhetik‹ nennt. Mit ihr, so Bolz, komme man Phänomenen wie Wagners Gesamtkunstwerk nicht mehr bei. Wagner sei aus der – ein Lieblingswort der Digital-Euphoriker – ›Gutenberg-Galaxis‹ nicht mehr zu verstehen. Dazu bedarf es bei Bolz Erscheinungen wie der ›körperlichen Einschreibung‹. Statt der ›Zeichen auf Papier‹ sieht er ›Wirkungen‹ der Musik ›auf menschliche Seelen eingeschrieben‹.

Riecht nach Lebensphilosophie.

Der Hymnus auf die Digitalisierung führt Bolz am Schluss dazu, die Entstehung einer neuen Mythologie zu begrüßen, in der ›unsere Sinne in ihren medialen Extensionen‹ vernetzt sind. Die Sorte Mythos, die da entsteht, macht mich nervös. Es gibt diesen wunderbaren Satz von Benjamin, der, Marx im Sinn, sagt: ›So lange es noch einen Bettler gibt auf der Welt, so lange gibt es Mythos.‹ Das heißt, so lange diese spezielle Immanenz intakt bleibt, so lange wird sich nichts ändern.

Elvira Seiwert über Interpretationen im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit in @vanmusik.

Zum Beweis, dass solch medienmythologische Tendenzen nicht bei sich bleiben und nicht beschränkt sind auf ihren Bereich, sondern hinaus wollen auf ein vorsätzlich mythologisch befangenes allgemeines Bewusstsein, zitieren Sie Bolz-Äußerungen im Magazin der Süddeutschen Zeitung.

Um zu zeigen, wohin Medien führen, die sich selbst nicht reflektieren und darum nicht bemerken, dass sie von Mitteln längst zu Zwecken geworden sind. Bolz sagt da ganz unverblümt, soziale Gerechtigkeit mache die Menschen unmündig. Sie würden  – als ›Betreute‹ abhängig vom Wohlfahrtsstaat – am Ende hilflos. Man könne auch, stellt er zum Schluss fest, ›zu sozial sein‹, eine, im Sinn der Konservativen, mythologische Absegnung der Zertrümmerung des Sozialstaats durch Schröders Agenda 2010. ¶