Aus dem Kontext gerissene Arien, die Blicke der Anderen, Rollen, die zu nahe gehen, der Respekt vor Wagner.

Text · Übersetzung Jonas Löffler · Titelbild ELENA NEZENCEVA · Datum 24.5.2017

Für dieses Interview traf ich die Sopranistin Kristine Opolais in ihrem Hotel in Leipzig. Es war sehr warm und bewölkt und wir saßen draußen. Von Zeit zu Zeit fiel etwas Regen. Immer, wenn Opolais lachte, lehnte sie sich ein wenig nach vorne – ihre Schultern bildeten dann über ihren Arm ein Dreieck mit ihrer Hand, ihr Handgelenk drückte sie durch. Wir tranken Kaffee und aßen kleine Kuchen dazu.

VAN: In Leipzig singst du gerade ein Konzertprogramm mit Andris Nelsons und dem Gewandhausorchester. Bei einem Stück wie Dvořáks Lied an den Mond, das so berühmt ist und schon von so vielen Leuten gesungen wurde – wie schaffst du dir dabei Raum für dein eigenes Ding?

Kristine Opolais: Das Lied ist mittlerweile so bekannt, dass es fast schon wie ein Popsong klingt. Man kann sagen, es ist zu bekannt. Eigentlich zeige ich dem Publikum am liebsten neue Stücke. Das Lied an den Mond ist für mich deshalb der schwierigste Teil des Programms. Es hat eine schöne Melodie, die aber nichts über irgendeine Rolle aussagt.

Du musst also keinen Charakter finden, um das Lied zu singen?

Nein. Das ist eher so etwas wie ein ›Hallo‹ zum Publikum.

Angenommen du singst ein Stück, das mit einem Charakter oder der Story einer Oper verbunden ist – wie kommst du in einer konzertanten Aufführung in die Rolle?

Das ist schwierig. Ich war in technischer Hinsicht nie wirklich eine bedachte, ruhige Person. Es gibt viele Sänger, die ihren Klang und ihre Technik wirklich beherrschen können. Für mich bedeutet Klang ohne Gefühl und Schauspiel nichts. Ich bin eine Künstlerin – keine Liedsängerin, sondern Opernsängerin. Für mich funktioniert nichts ohne Schauspiel.

Es ist schon merkwürdig – bei meinem ersten Vorsingen an der Bayerischen Staatsoper, zwei Jahre bevor ich dort die Rusalka war und nachdem Nina Stemme ihren Auftritt in einer Produktion von Martin Kušej abgesagt hatte, bekam ich nichts. Sie sagten mir nur: ›Danke sehr. Bis bald!‹ Und später kam dann Rusalka, was zu einem großen Erfolg wurde. Genau das Gleiche am Covent Garden: Genau zwei Jahre, bevor ich dort mein Debüt als Madame Butterfly hatte, sang ich Un Bel Dì, Vedremo – und niemand hat dem auch nur ein kleines bisschen Aufmerksamkeit geschenkt. Mir fällt es sehr schwer, zu zeigen, wer ich bin und was ich tun kann in dieser Kunstform, wenn ich nur eine einzelne Arie singen kann.

https://www.youtube.com/watch?v=fbwIWdBhAuU

GIACOMO PUCCINI, UN BEL DÌ, VEDREMO AUS MADAME BUTTERFLY; KRISTINE OPOLAIS (SOPRAN), ANDRIS NELSONS (MUSIKALISCHE LEITUNG), BOSTON SYMPHONY ORCHESTRA

Ich hasse es ganz besonders, wenn man nach anderen Sängern auf die Bühne kommt. Meine letzte negative Erfahrung hatte ich damit zur großen Gala anlässlich des 50-jährigen Jubiläums der Met. Ich war so unglücklich, denn manche Arien wie Vissi d’arte funktionieren nicht, wenn man einfach so rauskommt und anfängt zu singen. Man muss die Oper durchleben … wenigstens den zweiten Akt (lacht)! Man muss bei der Arie ankommen. Ansonsten ist man leer. In der Met hatte man keinen Platz zum Sitzen, man muss mit ganz vielen anderen in einem Raum sein, die Zeit mit den anderen Sängerinnen und Sängern verbringen, während alle sich unterhalten.

Ich kann mir vorstellen, dass schon mit dem Smalltalk in der Garderobe der Wettbewerb zwischen den Sänger*innen beginnt.

Und wenn man nichts sagt, denken sie möglicherweise: ›Sie ist arrogant! Sie will nicht mit uns sprechen‹, was auch nicht stimmt. Das ist also eine verzwickte Situation. Ich habe aber immer gesagt, dass ich auf der Bühne Zeit brauche.

Ich bin mir meiner Sache nie sicher. Ich denke, dass ein Künstler sich seiner Sache nie sicher sein kann. Ein Künstler kann nie mit sich selbst im Reinen sein. Manche meiner Kollegen sind sehr stark, sie weichen nie von ihrem Weg ab. Ich bin sensibel! Alles kann meine Stimmung innerhalb von Sekunden ändern. Ich denke, das ist der Grund, warum ich in diesem Metier tätig bin.

FOto MARTY SOHL
FOto MARTY SOHL

Angenommen du arbeitest mit einer Regisseurin oder einem Regisseur, der oder dem du wirklich vertraust. Gibt es Grenzen bei dem, was du für sie oder ihn tun würdest?

Es gibt keine Grenzen für mich. Und es gab auch nie welche.

Auch, wenn es Nacktheit betrifft?

Wenn es zum Beispiel Salome ist, dann muss das sein. Wenn es keinen Grund gibt für das Nacktsein, würde ich es nicht tun. Aber wenn es im Libretto auch nur eine Zeile gibt, die das verlangt, dann ist das wichtig und dann kann ich das machen. Die Regisseurin oder der Regisseur muss mich überzeugen – und dann vertraue ich ihr oder ihm komplett.

Du hast erwähnt, dass du gerne dem Publikum neue Stücke präsentierst. Welche Musik hattest du da im Kopf?

Vor kurzem habe ich etwa eine fantastische Oper von Mascagni entdeckt: Iris. Ich mag auch gerne tschechisches Repertoire, aber ich singe nur Rusalka (von Dvořák), weil ich mich mit der Jenůfa (Hauptfigur der gleichnamigen Oper von Leoš Janáček) nicht so gut fühle.

Warum nicht?

Die Geschichte geht mir zu nah. Für mich würde aus künstlerischer Sicht die Rolle der Kostelnička (eine der Protagonistinnen in Jenůfa) mehr Sinn ergeben, aber die passt nicht zu meiner Stimme. Jenůfa trifft eine Schwachstelle von mir – sie ist als Person zu schwach. Die dramatische Geschichte, die sie mit ihrem Kind durchlebt, da will ich selbst nicht durchgehen. Ich bin selbst Mutter und ich bin sehr sensibel. Ich bekomme die Rolle oft angeboten – aber ich werde sie nicht machen.

Die unbekannten Sachen, die dich interessieren, sind also mehr oder weniger verbreitete Werke aus der Vergangenheit und nicht Stücke zeitgenössischer Komponisten, etwa von Lachenmann.

Genau, ich habe keine Erfahrung mit zeitgenössischen Komponisten. Ich habe das Gefühl, diese Musik ist nicht wirklich gut für die Stimme.

Nimm noch einen Kuchen, ich esse sicher nicht alle.

YouTube video

PUCCINI, VISSI D’ARTE AUS TOSCA; KRISTINE OPOLAIS (TOSCA), STEPHEN KECHULIUS (SCARPIA), GRIECHISCHE NATIONALOPER

Welche Teile des Mainstream-Repertoires willst du dir noch vornehmen?

Ich habe in letzter Zeit mehr Konzerte gemacht, um mein Repertoire zu erweitern. Ich kann nicht immer nur bei Puccini hängenbleiben, obwohl ich Puccini verehre. Ich würde auch gerne wieder auf Verdi zurückkommen. Ich nehme mir außerdem etwas Zeit, um über Wagner nachzudenken. Ich liebe seine Musik, aber ich war immer sehr vorsichtig. Meine erste Elsa wird nächste Saison kommen. Ich mache das Schritt für Schritt.

Ich habe einmal mit Andris über Wagner gesprochen …

Oh, seine große Liebe!

… und er meinte: ›Man kann das auf eine masochistische Art und Weise genießen.‹ Denkst du genauso? Er sprach damals über Lautstärke, aber mir scheint, man könnte dasselbe auch über die Gesangsrollen sagen.

(Lacht) Das ist eine riesige Sache, sehr schwierig. Sobald du dich klanglich dafür bereit machst, deine Stimme noch etwas weiter treibst, sie auf Wagner vorbereitest, kann etwas anderes passieren: Die Stimme kann anfangen zu schwanken. Wenn das passiert, kann man nur noch die richtig gewichtigen Rollen singen. Lyrische Rollen gehen dann nicht mehr.

Viele sagen, ich sei ein dramatischer Sopran – das stimmt aber nicht. Ich bin ein lyrisch-dramatischer Sopran. Und ich will auch für immer ein lyrisch-dramatischer Sopran bleiben, weil ich auch weiterhin lyrische Rollen singen will. Wenn ich ein sehr lautes Orchester höre, versuche ich immer, sehr leise zu singen. Wenn man seiner Stimme mehr abverlangt, spiegeln Dirigenten das irgendwie immer auf das Orchester zurück. Sie denken dann: ›Oh, sie kann laut singen!‹ Also mache ich das Gegenteil. Ich versuche zu verschwinden, wenn das Orchester zu laut wird.

Jedes Jahr residieren die Berliner Philharmoniker bei den Festspielen in Baden-Baden. Bei einem »Live Lounge«-Interview mit Opolais und einigen Musikern fragte die Sopranistin die Musiker vor dem Publikum: »Wie fühlt ihr euch, wenn ihr von Frauen dirigiert werdet?« Was danach folgte, liest sich wie eine lange Liste von Klischees: »Meine Frau ist eine Dirigentin für mich«, sagte ein Anwesender, das Dirigat sei »anders, irgendwie hübscher«, sagte ein Anderer, ein Dritter behauptete, dass ein vorwiegend männlich besetztes Orchester »einer Dirigentin viel eher folgt«. Opolais selbst sagte: »Für mich ist ein Dirigent immer ein Mann.« Als ich sie auf diese Kommentare anspreche, distanziert sie sich von ihnen.

Warum hast du das gesagt?

In dem Moment, in dem ich das Statement gemacht hatte, dachte ich: »Warum habe ich das gesagt?« Ich hatte bis dahin nur einmal eine Erfahrung mit einer Dirigentin gemacht, mit Oksana Lyniv. Sie dirigiert viel in München an der Bayerischen Staatsoper und war lange Zeit Kirill Petrenkos Assistentin. Aber das war eine gute Erfahrung. Ich denke, das ist nur eine psychologische Sache und rührt allein daher, dass ich über meine gesamte Karriere hinweg nur mit männlichen Dirigenten gearbeitet habe.

Aber sollten wir nicht alle versuchen, von solchen Gedanken wegzukommen?

Natürlich. Ich habe mit meiner Antwort nicht gemeint, dass Frauen aufhören sollten zu dirigieren.

FOTO WILFRIED HÖSL
FOTO WILFRIED HÖSL

Kam das also nur daher, dass du an männliche Dirigenten gewöhnt bist?

Ja, weil ich nur ein einziges Mal mit einer Frau zusammengearbeitet habe. Aber jetzt sehe ich andere Dirigentinnen und habe eine Vorstellung davon für die Zukunft. Wir müssen dazulernen und bereit sein, unsere Meinungen zu ändern. Man kann nicht ein ganzes Leben lang auf einer Meinung beharren. Deswegen denke ich jetzt: ›Nein. Es ist Zeit, dieses Stereotyp zu ändern.‹

2016 hast du einmal erwähnt, dass du erwägst, nach Boston umzuziehen. Ist das immer noch aktuell?

Nein. Damals habe ich viel an der Metropolitan Opera gearbeitet, die von dort nicht weit entfernt ist. Aber dann dachte ich auch, dass es nicht so gut sei, zu oft an einem Ort zu sein. Die Leute gewöhnen sich sonst an einen. Ich möchte, dass jeder Besuch besonders bleibt.

Hast du Groupies?

Es gibt ein paar Leute, die zu all meinen Aufführungen reisen, ja. Sie sind sehr nett. Alle Leute, die mich mögen, sind nett. Vielleicht folgen mir keine Leute, die nicht nett sind? Ich habe keine Ahnung.

(Lacht) Das ist wohl schwer herauszufinden, aber ich nehme dich beim Wort. Warum, glaubst du, ist das so?

Ich denke, ich bin eine gute Person und eine wirkliche Künstlerin. Auch wenn ich damit falsch liegen sollte, echt bin ich allemal. ¶

... ist seit 2015 Redakteur bei VAN. Sein erstes Buch, The Life and Music of Gérard Grisey: Delirium and Form, erschien 2023. Seine Texte wurden in der New York Times und anderen Medien veröffentlicht.