Im Konzert gewesen. Geschlafen, hätte Franz Kafka in sein Tagebuch schreiben können, wenn er klassische Musik so geliebt hätte wie den Kintopp. Denn was dem Cineasten das Weinen, ist dem Konzertfreund das Einschlafen – das höchste der Gefühle. Selbst wer das bezweifelt, wird zugeben müssen, dass es zumindest eins der häufigsten Konzerterlebnisse ist. Grund genug, einen genaueren Blick aufs Schlafen im Konzert zu werfen.

Zunächst werde ich mich an drei Rechtfertigungsansätzen versuchen: einem geistesgeschichtlichen, einem liberalen, einem schlafpopulistischen. Danach werde ich den Konzertschlaf als Qualitätsprobe und als schöpferischen Akt beleuchten. Werde fragen, wie musikalische Praxis von Haydn bis Lachenmann mit dem Konzertschlaf umging und umgeht. Ein wenig in der Wissenschaft vom Schlaf herumdilettieren. Und schließlich einige große Konzertschläfer würdigen, darunter sowohl bedeutende Komponisten als auch namenlose Konzert-Abonnenten. Und meinen Sohn.

Geistesgeschichtliche Apologie: Geschwister im romantischen Geiste

Wer wollte bezweifeln, dass Musik und Schlaf das Größte, Heiligste der deutschen Romantik sind? Zu Tode zitiert wurde Ludwig Tiecks »Dogma der Kunstreligion« (Carl Dahlhaus): Denn die Tonkunst ist gewiß das letzte Geheimnis des Glaubens, die Mystik, die durchaus geoffenbarte Religion. Noch berühmter die schwärmerische Lobpreisung E.T.A. Hoffmanns: Die Musik schließt dem Menschen ein unbekanntes Reich auf, eine Welt, die nichts gemein hat mit der äußeren Sinnenwelt, die ihn umgibt und in der er alle bestimmten Gefühle zurückläßt, um sich einer unaussprechlichen Sehnsucht hinzugeben.

Dass man in Hoffmanns Zitat »die Musik« ohne weiteres durch »der Schlaf« ersetzen könnte, liegt auf der Hand. Selbst wenn der Schläfer träumt, gelten ja die unbarmherzigen Gesetze von Raum und Zeit nicht, oder sie haben sich fundamental verändert; und auch scheinbar bestimmte Traumgefühle sind von unaussprechlicher Sehnsucht durchtränkt.

Das bestätigt der bedeutendste und sprachmächtigste Frühromantiker: Ewig ist die Dauer des Schlafs. Heiliger Schlaf. Zwar war der gewöhnliche, physische Schlaf für Novalis nur der Schatten, den du in jener Dämmerung der wahrhaften Nacht mitleidig auf uns wirfst. Aber wer sind wir irdischen Schlafmützen, um nicht auch den Schatten des Heiligen, Ewigen, Wahrhaften als etwas Außerordentliches zu erachten?

Und da soll also im Konzertschlaf nicht mehr stecken als bloßes banales Verpassen von Musik? Da soll der Konzertschläfer nicht ebenso tiefe oder gar tiefere Einsichten nehmen können als der taghellohrig wache Hörer? Abwärts wend ich mich, kann er doch im Einnicken mit Novalis murmeln. Wenn er romantisch veranlagt ist.

Foto A Footman Sleeping von Charles Bargue (Public Domain) 
Foto A Footman Sleeping von Charles Bargue (Public Domain

Liberale Apologie: Die Freiheit des Hörers

Wenn er liberal veranlagt ist, wird der Konzertschläfer vielleicht lieber mit der Freiheit des Hörers argumentieren. Der französische Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Daniel Pennac hat in seinem Werk Wie ein Roman zehn unverbrüchliche Rechte des Lesers postuliert:

  1. Das Recht, nicht zu lesen
  2. Das Recht, Seiten zu überspringen
  3. Das Recht, ein Buch nicht zu Ende zu lesen
  4. Das Recht, noch einmal zu lesen
  5. Das Recht, irgendwas zu lesen
  6. Das Recht auf Bovarysmus, d. h. den Roman als Leben zu sehen
  7. Das Recht, überall zu lesen
  8. Das Recht, herumzuschmökern
  9. Das Recht, laut zu lesen
  10. Das Recht, zu schweigen

Komplementär ließen sich zehn Rechte des Konzertbesuchers formulieren:

  1. Das Recht, nicht ins Konzert zu gehen
  2. Das Recht, Seitenthemen zu überspringen
  3. Das Recht, in der Pause zu verduften
  4. Das Recht, noch ein Konzert zu besuchen
  5. Das Recht, in irgendein Konzert zu gehen, sogar zu Ludovico Einaudi
  6. Das Recht auf Mahlerismus, d.h. die Symphonie als Welt zu sehen
  7. Das Recht, jede Umgebung als Konzert wahrzunehmen
  8. Das Recht, wahllos herumzuhören
  9. Das Recht, mit geschlossenen Augen zu hören
  10. Das Recht, zu schlafen

In diesem Sinne kann das Wegdämmern im Konzert als ein Akt der menschlichen Autonomie betrachtet werden. Oder gar als Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unschläfrigkeit.

Schlafpopulistische Apologie: Wer zahlt, der herrscht

Bekanntlich hat jeder liberale Ansatz eine vulgärliberale Variante. In diesem Fall könnte man auch von Schlafpopulismus sprechen oder einem küchenkapitalistischen Argument: Wer zahlt, der herrscht. Wer eine Eintrittskarte kauft, der darf im Konzert auch schlafen.

Hier ist unbedingt einzuschränken: Solange er nicht schnarcht. Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt, wie Immanuel Kant niemals geschrieben hat, auch wenn das Internet es behauptet.

Aber wem es behagt, bei einer Brucknersymphonie ein Nickerchen zu halten – warum nicht? Auch Bruckner würde das Urteil darüber hoffentlich dem lieben Gott überlassen. Und wer in einem Konzert der Berliner oder Wiener Philharmoniker schläft, der zahlt immerhin einen höheren Stundensatz dafür als im Adlon. Er wiegt sich für teures Geld in Morpheus‘ Armen, ohne dass er eine Matratze bekäme, an der er horchen dürfte; nur tönend bewegte Luft; von Bequemlichkeit zu schweigen.

Allerdings bringt das schlafpopulistische Argument problematische Weiterungen mit sich. Gälte es allein, so dürften Studenten mit Freikarten sowie qua Amt knausrige Musikkritiker im Konzert nicht schlafen. Was sie aber erwiesenermaßen tun: Man schaue Studenten im Konzert an und man lese Musikkritiken. Da wird oft genug (und ich spreche auch aus selbstkritischer Erfahrung) ein Konzert besprochen, von dem der Autor nur geträumt haben kann.

Schlafprobe als Qualitätskriterium oder als Schöpfungsakt?

So eine Traumbesprechung muss freilich nichts Übles sein. Ich kenne eine hochkompetente und warmherzige Musikkritikerin, die häufig im Konzert einschläft. Zwar ist sie immer besorgt, dabei von Kollegen beobachtet zu werden. Das müsste sie nicht: Denn erstens fiele die Beobachtung auf den Beobachter zurück – warum sollte Herumlugen während des Konzerts besser sein als Schlafen? Und zweitens ist meine Kritikerin überzeugt davon, nur bei schlechter Musik einzuschlafen: bei missratenen Werken, fehlschlagenden Interpretationen. Die Schlafprobe würde hier also ganz schlicht als Qualitätskriterium fungieren.

Aber so schlicht ist es dann vielleicht doch wieder nicht: Denn wie diese Kritikerin vom Schlafen im Konzert schwärmen kann, scheint mir darauf hinzudeuten, dass mehr darin steckt. Als freien Flug der Fantasie beschreibt sie ihren Schlaf, als Traum davon, wie die verschlafene Musik sein könnte. So wird der Konzertschlaf also selbst zum schöpferischen Akt. Novalis hätte hymnisch gejauchzt.

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Musikalische Praxis: Wecken und Einlullen

Romantische Abwärtswende, Rechte des Hörers – Quatsch mit Soße, fand Franz Liszt: Wer schläft, der verpasst. Wer schläft, der findet’s schlecht. Und beleidigt also den Tondichter und seine wonniglichen Musen!

Zumal wenn der Schläfer gar nicht bezahlt hat, sondern überdies Protektion wünscht. Die Geschichte ist nicht verbürgt, aber einfach zu schön, um unwahr zu sein: dass der junge Johannes Brahms eingeschlummert sei, während ihm sein Gastgeber die h-Moll-Sonate vorexerzierte. Vorbei war’s da mit Brahms‘ Besuch in Altenburg und der Hoffnung auf Protektion durch den weltberühmten Liszt. Ob das Einschlafen (wenn es denn passierte) auf Brahms‘ nächtliche Anreise aus Hamburg zurückzuführen war oder auf die h-Moll-Sonate selbst, ist schwer zu sagen. Auf jeden Fall wird man aber fragen dürfen, ob es nicht rüde, ja gastfeindlich ist, einem geschlauchten Reisenden so einen Klopper wie die h-Moll-Sonate zu servieren.

Zumindest ignoriert es die Rezeptionssituation des Zuhörers. Ganz anders als Joseph Haydn, der sein müdes Publikum öfter mal aufschreckte. Berühmt-berüchtigt die Legende, das völlig unvermittelte Fortissimo (der Paukenschlag) im Andante seiner G-Dur-Sinfonie Hob.I:94 habe das vom fetten Essen schläfrig gewordene Londoner Publikum aufwecken sollen. Das ist Unfug, Überraschungen gehören zu Haydns Ästhetik und verblüffen auch hellwache Hörer. Trotzdem ist dieses Fortissimo in Takt 16 des zweiten Satzes einer der großen Hallo-Wach-Schocker der Musikgeschichte. Der Durchführungsbeginn im Kopfsatz von Tschaikowskys Pathétique gehört auch dazu oder der Beginn von Kaschtschejs Tanz in Strawinskys Feuervogel-Suite. Unvergessliche Konzerterfahrung, wenn man gerade eingenickt ist und plötzlich der Sitzplatz zum Katapult wird!

Ein künstlerisch produktiver Umgang mit der natürlichen Müdigkeit des Publikums kann aber auch darin bestehen, den Zuhörer nicht wachzurütteln, sondern einzulullen. Dazu bedurfte es nicht erst der Erfindung der auch als Minimalismus bekannten Hypothalamuswäsche. Ironie der Musikgeschichte, dass zwei der bekanntesten Wiegenlieder ausgerechnet von Liszt und Brahms komponiert wurden. Dass Chopin in seinem h-Moll-Scherzo und Tschaikowsky im ersten Klavierkonzert Wiegenlied-Melodien verarbeiteten, gehört vielleicht nicht zum Spektrum der bewussten Publikumseinschläferung. Anders sieht es mit dem Genre der Berceuse aus. Die Katze  des Genres bisse sich doch in den Schwanz, wenn Einschlafen hier eine inadäquate Reaktion wäre.

Foto Postillon bläst schlafendem Gastwirt auf der Ofenbank in das Ohr von Hugo Wilhelm Kauffmann (Public Domain)
Foto Postillon bläst schlafendem Gastwirt auf der Ofenbank in das Ohr von Hugo Wilhelm Kauffmann (Public Domain)

Und was dabei herauskam, als Richard Wagner die Nacht-und-Schlaf-Hymnen von Novalis mit romantisch-schopenhauerischen Ideen über Musik vermengte, ist allseits bekannt. Wer kann von sich ehrlich behaupten, jede fünfstündige Tristan-Aufführung durchzusitzen, ohne dass wenigstens gelegentlich seinem Kopf Flügel wüchsen oder er von den Schlafmohnblüten des Hypnos bekränzt würde? (Wie Wagner reagiert hätte, wenn Brahms je das Bayreuther Festspielhaus besucht hätte und dort eingeschlafen wäre, darüber können wir leider nur spekulieren.)

Aus diesen Beobachtungen folgt, dass anscheinend zwei Sorten Musik dem Einschlafen besonders förderlich sind: unterkomplexe und überkomplexe. Dementsprechend florieren in unserer dauerwachen, ergo übermüdeten Gegenwart zwei Veranstaltungsformen, die man als Schlafkonzerte bezeichnen könnte: im überkomplexen Bereich das Neue-Musik-Festival, im unterkomplexen Bereich das Schlummerkonzert.

Das Paradoxe ist, dass die Freunde des einen beim Besuch des anderen nicht schläfrig werden, sondern nervös bis aggressiv. Helmut-Lachenmann- und Max-Richter-Hörer sollte man nie in ein Doppelbett legen.

Während die Musik von Lachenmann das Ohr des Hörers ja eher schärfen als einschläfern will, gibt es tatsächlich ein Konzertformat, das es aufs Schlafschärfen anlegt. In Max Richters achtstündigem SLEEP, das in mehreren europäischen Städten von spätabends bis zum Sonnenaufgang aufgeführt wurde, umduseln fünf Streicher, der Komponist an Klavier und Synthie sowie heimelige Sopranvokalisen den Hörer, bis er weg ist – entweder nach Hause gegangen oder im zu kurzen Feldbett eingeschlafen.

Strikt funktional und in einstündigen Häppchen ist dieses Konzept auch als Firmen-, Reha- und Kongress-Event verfügbar: Akku aufladen im SCHLAFKONZERT® heißt die Reihe, die im vergangenen Jahr etwa bei Betten-Stumpf in Aglasterhausen, in der Bettfederfabrik Lörrach oder bei einer Frauenkonferenz in Kraichtal stattfand. Das fünfaktige Stationendrama (Abholen, Ankommen, Ausruhen, Aufwachen, Aufstehen) scheint weniger novalis’sche Nachtwende als strikt funktionaler Mittags-SLEEP zu sein. Ob so ein einstündiger Dösquickie wirklich die verheißene Tiefenentspannung beschert oder eher der Erzgipfel der kapitalistischen Entschleunigungsbeschleunigung ist, bleibe dahingestellt.

Wissenschaftsdilettierender Exkurs, der zur verwegenen Hauptthese des Essays führt

Dass man seinen Schlaf vielleicht nicht durch Berieselung mit seichter Musik, aber mit gewissen frequenzverschobenen Tönen verbessern kann, legte eine Studie der Universität Köln nahe. Ein Team der Sporthochschule Köln entwickelte sogar ein Stereo-Frequenz-Kopfkissen, das das Gehirn mit 400 bzw 404 Hertz beschallt. Das Gehirn schwinge sich auf diese Differenz ein, binauraler Beat heißt das fantastischerweise. Eher fantasievoll als fantastisch hingegen die populärwissenschaftliche Masche, etwa wenn die Firma SONY mit medizinischem Wortgeklingel wie Wohlfühl-Botenstoffe Kopfhörer bewirbt, die beim Einschlafen helfen sollen – und gleich Musikempfehlungen dazugibt: etwa einen Song aus dem Film Shades of Grey. (Da liegt der Gedanke an eine schöne Sklavin nahe, die unter den liebevoll-grausamen Züchtigungen ihres Masters einschlummert.)

Aber wie sieht es, wenn die Musik – ob Lachenmann oder Richter – uns nun eingelullt hat, mit ihrer Wahrnehmung im Schlaf aus? Statt als Gehirnforschungssimulant in neurologischen Gründen herumzudilettieren, möchte ich den Umweg über das eine Zeit lang beliebte Thema Lernen im Schlaf versuchen. Dabei werden einem Schläfer Vokabeln oder andere Informationen vorgespielt und am anderen Tag mögliche Lernerfolge überprüft. Eine großartige Verheißung, die sich leider erwiesenermaßen nicht erfüllt. Aufschlussreich ist aber eine Entdeckung am Rande, die ich hier aus der renommierten wissenschaftlichen Fachpublikation wissen.de zitiere:

Eine Ausnahme scheint es dabei aber zu geben: Düfte. Denn sie werden vom Gehirn auf eine besondere Art und Weise verarbeitet und scheinen selbst im Schlaf zu ihm durchzudringen. Was das für das Lernen im Schlaf bedeutet, haben Forscher mit einem Musiktest überprüft. Sie spielten ihren schlafenden Versuchspersonen Töne vor und ließen sie gleichzeitig verschiedene angenehme und unangenehme Düfte über eine Atemmaske einatmen. Jeder Ton war dabei mit einer bestimmten Duftnote verknüpft.

Aber drang das Ganze auch zu den Probanden durch? Wie sich zeigte, war das der Fall: Rochen sie einen unangenehmen Duft, atmeten die Schlafenden unwillkürlich flacher, war der Duft dagegen angenehm, atmeten sie tiefer ein. Noch in der gleichen Nacht testeten die Forscher nun, ob sich ihre Probanden die Verknüpfung zwischen Tönen und Duft gemerkt hatten: Hatte ihr Gehirn trotz Ruhepause und Abschirmung die jeweiligen Paarungen gelernt? Dafür spielten die Forscher den Schlafenden nun erneut die Töne vor – diesmal ohne den begleitenden Geruch.

Und siehe da: Hörten die Probanden die zuvor mit einem angenehmen Duft kombinierten Töne, atmeten sie tatsächlich tiefer ein als bei den Tönen, die vorher von Gestank begleitet gewesen waren. Und auch nach dem Aufwachen blieb diese Reaktion erhalten.

Hier wird es interessant. Denn in diesem Zusammenhang kommt mir unweigerlich der Erfahrungsbericht eines Bekannten in den Sinn: Der saß in jungen Jahren bei seinem ersten Parsifal neben einem (man muss es so sagen) Wüstling, der während der Aufführung einen Döner verzehrte. Das hat dazu geführt, dass dieser Bekannte bis heute den Parsifal nicht hören kann, ohne den Geruch von Döner wahrzunehmen.

Foto Die Ruhe auf der Flucht nach Ägypten von Michelangelo (Public Domain) 
Foto Die Ruhe auf der Flucht nach Ägypten von Michelangelo (Public Domain

Bringen wir nun diese individuelle Erfahrung einer Musik-Duft-Relation im Konzert  mit dem darüber zitierten wissenschaftlichen Befund einer Musik-Duft-Relation im Schlaf zusammen, ergibt sich per syllogistischem Praeterpropterschluss eine These – nein, die These dieses Essays, die in ihrer konsequenten Formulierung niederzuschreiben meine Finger zittern: Konzertbesuch und Schlaf sind eins. Oder vorsichtiger formuliert, der Konzertschlaf ist die konsequenteste Form des Konzertbesuchs.

Zwei paradoxe Erfahrungen sollen diese (zugegeben auch für mich selbst schwer fassbaren, ja verstörenden) Thesen erhärten. Da ist einmal der alte Herr, neben dem ich häufig in der Philharmonie sitze. Er schläft regelmäßig zu Beginn des Konzerts ein und wacht gegen Ende des Konzerts wieder auf. Statt aber über die verpasste Musik zu lamentieren, gibt er detaillierte Analysen und Beurteilungen des Gehörten ab, inklusive Vergleichen mit früher erlebten Aufführungen unter Furtwängler, Keilberth, Jochum usw.

Ich selber habe ebenfalls eine bescheidene Erfahrung beizusteuern. Es gibt Konzertabende, an denen ich völlig übermüdet bin und todsicher, dass alles, was kommt, vergebens und verschenkt sein wird. Aber gerade an solchen Abenden, an denen ich es am wenigstens erwartet hätte, habe ich einige meiner intensivsten und beglückendsten Musikerfahrungen gemacht. Wie ist das möglich?

Deuten diese beiden Erfahrungen, meine und die des alten Herrn, nicht darauf hin, dass das Tor zum Schlaf ein geistiger Scheideweg ist: ein Scheideweg, der auf verschiedene Gipfel führt, die aber alle höchste Aufmerksamkeitsgipfel sind?

An anderen solchen Abenden schlafe ich einfach ein. Und bin danach ebenfalls glücklich. Früher habe ich mich gescheut, im Konzert einzuschlafen. Heute nicht mehr.

Rückkehr ins Irdische, oder: Große Konzertschläfer

Verschnaufen. Zweifeln. Eine steile These ist passiert, das war nicht geplant. Habe ich mich auf der Suche nach dem Wesen des Konzertschlafs im Labyrinth des Hypnos verlaufen? Oder auf allzu schwindelnde szientifisch-philosophische Höhenflüge begeben? Da könnte es einem am Ende nicht wie Hypnos ergehen, sondern wie Ikarus. Schließlich ist das Schlafen nicht nur das geheimnisvollste, sondern auch das einfachste Ding der Welt.

Und doch das vielfältigste. Denn in Anlehnung an den berühmten ersten Satz von Anna Karenina behaupte ich: Alle wachen Menschen gleichen einander, jeder schlafende Mensch schläft auf seine eigene Weise. Das folgt zwingend aus dem Fragment des Vorsokratikers Heraklit: Wachende haben eine Welt gemeinsam – Schlafende haben jeder eine Welt für sich.

Will man den Konzertschlaf begreifen und angemessen würdigen, bleibt am Ende also nur die Betrachtung einzelner Schläfer.

Oben habe ich bereits auf einige herausragende Konzertschläfer aufmerksam gemacht: Die von einer möglichen Musik träumende Kritikerin. Den alten Herrn, der im Schlummer Furtwängler- und Keilberth-Gesichte empfängt.

Foto Teasing a Sleeping Girl von Gaspare Traversi (Public Domain)
Foto Teasing a Sleeping Girl von Gaspare Traversi (Public Domain)

Der größte aller Konzertschläfer soll allerdings, wenig überraschend, Johannes Brahms gewesen sein. Nicht nur zu Besuch im Hause Liszt. Hätte ich einmal die Gelegenheit, ein von Gustav Mahler dirigiertes Konzert zu besuchen, würde ich denn doch tunlichst wachbleiben wollen. Brahms aber schlief auch mit Mahler am Pult ein.

Allerdings soll Brahms vernehmlich geschnarcht haben. Und was noch bedenklicher ist: Er litt unter dem Schlafapnoe-Syndrom, das heißt seine Atmung setzte im Schlaf immer wieder aus. Auch aufs Risiko hin, ein medizinisches Phänomen ungebührlich zu romantisieren, muss man hier doch vom Schlummer unter Lebensgefahr sprechen: der Konzertschlaf als existenzieller Grenzgang.

Am anderen Ende der Konzertschlaf-Skala steht wohl der reine kindliche Schlummer, der vom Tod nicht weiß. Der ist freilich nicht auf Kinder beschränkt, aber Kinder schlummern ihn am schönsten. In einem Anfall von übermäßigem väterlichen Ehrgeiz nahm ich einmal meinen achtjährigen Sohn zu einer Aufführung von Brahms vierter Symphonie mit. Es kam, wie es kommen musste, mein Sohn schlief schon im Andante moderato ein und wachte bis zum Schlussakkord nicht wieder auf. Als ich am Ende des Konzerts versuchte, ihn wieder aufzuwecken, damit wir uns auf den Heimweg machen konnten, sagte eine vorbeigehende Dame in ihren besten Jahren zu mir: »Ja, und meine Tochter ist achtzehn und schläft immer noch bei Brahms ein.«

Das hätte nun vielleicht Liszt gefreut.

Was bleibt?

Der Konzertschlaf als unbegreifliches, unerschöpfliches Phänomen. Man kann auch noch mit achtzig bei Brahms einschlafen. Es gibt so viele Arten im Konzert zu schlafen, wie es Konzertschläfer gibt. Ich will nicht behaupten, dass alle des Lobes wert wären.

Aber die meisten.

Und es bleibt: Punkt 10. Das Recht, zu schlafen. ¶

… lebt in Berlin, liebt Musik, schreibt Romane: u.a. ›Beethovn‹ (2020). Zuletzt erschien ›Silence‹. ✉️ KonzertgaengerBerlin@gmail.com