Im Jahr 1905, zwei Jahre nach seinem Debüt an der Met, war Enrico Caruso kurz davor, den Begriff »Fake News« zu prägen. So legt es zumindest ein Interview in der New York Times nahe. Bei Austern und Martini in einem Restaurant in der Fifth Avenue kommt der Interviewer bald auf Carusos »Puppen« zu sprechen.

»Puppen? Puppen? Ma che? Welche Puppen meinen Sie?«, fragt der Tenor.

»Diese Puppen, von denen man sagt, dass Sie sie immer als Glücksbringer auf Ihrem Tisch liegen haben«, antwortet der Journalist.

»Bah. Puppen. Es gibt keine solchen Puppen.  Ich habe keine Puppen. Das ist – wie sagt man nochmal – News – …«

»Ein Fake?«

»Exakt. Vielen Dank. Ein Fake.«

Nur ein Zeilenumbruch trennt die Worte »News« und »Fake« davon, eine prophetische Vorahnung zu sein. Caruso war ein Sänger, der im Spannungsfeld von Öffentlichkeit, Unterhaltung und Legendenbildung lebte. Ihm gelang das Kunststück, die jahrhundertealte Tradition, Mythen um das Leben von Opernsänger:innen auf oder abseits der Bühne zu spinnen, mit dem immer höheren Tempo massenmedialer Berichterstattung zu Beginn des 20. Jahrhunderts gewinnbringend zu kombinieren.

»Für Caruso und andere berühmte Recording Artists seiner Zeit verlor die Karriere als Interpret mit dem Siegeszug der Schallplatte nicht an Bedeutung, sondern wurde in etwas sehr viel Komplexeres überführt: in die Karriere eines Celebrity«, schreibt David Suisman in Selling Sounds. Caruso arbeitete später mit Edward L. Bernays, dem Begründer der modernen PR-Arbeit (und nebenbei Neffen Sigmund Freuds) zusammen. Der schrieb 1928: »Wir befinden uns im Zeitalter der Massenproduktion. Im Zuge der Massenproduktion von Gütern hat sich auch deren Vertrieb entscheidend weiterentwickelt. Jetzt müssen wir einen Weg finden, auch Ideen in Massen zu verbreiten.«

Bei der beginnenden Massendistribution von Musik war Caruso zur richtigen Zeit am richtigen Ort: Er wurde, just als der Hype um Victrola-Grammophone ausbrach, zum Gesicht des Labels RCA Victor. Über 260 Einspielungen entstanden im Laufe seines Lebens und machten ihn weltbekannt. Die begleitenden Werbetexte sprechen von »einem der natürlichsten und getreuesten Caruso-Porträts, das je aufgenommen wurde« oder vom »echten Caruso«, den man nur hier höre. Aber Echtheit ist eine Zuschreibung unserer Wahrnehmung, die form- und beeinflussbar ist. Am Beispiel Carusos lässt sich aufzeigen, wie die unsichtbare Hand der Publicity immer wieder neu zu kartographieren versucht, was unsere Wahrnehmung erreicht.

Ein Jahr nach dem Gespräch bei Austern und Martini machte Caruso wieder Schlagzeilen. Die New York Times verkündete am  17. November 1906 auf der Titelseite: »Signor Caruso, Tenor, im Zoo verhaftet.«

Caruso war tags zuvor festgenommen worden, weil er im Affenhaus des Zoos im Central Park eine Besucherin belästigt haben soll. James Caine (dessen Nachname manchmal auch Kane geschrieben wird), dem seit über einem Jahrzehnt die Aufsicht im Affenhaus unterstellt war und der über eine tadellose Reputation verfügte, hatte Caruso überführt. Caines Arbeitsplatz war, nebenbei bemerkt, berüchtigt für allerlei Übergriffe. Im Raum stand die These einiger Moralisten, dass die zu allen (un)möglichen Zeiten unter den Augen der Öffentlichkeit masturbierenden Affen die Zuschauer dazu verleiten könnten, allen Anstand zu verlieren. Viele Männer würden die Gelegenheit nutzen, um grenzüberschreitendes Verhalten an den Tag zu legen, die Schuld dafür aber den Affen in die Schuhe schieben.

Er könne bezeugen, berichtete Caine der Times, dass innerhalb eines Zeitraumes von etwa 45 Minuten mehrere Frauen von Caruso belästigt worden seien. Caine habe zunächst zwei Teenagerinnen angesprochen, die, wie er gesehen hatte, von Caruso begrapscht worden seien. Sie hätten sich dazu allerdings aus Angst um ihren eigenen Ruf nicht äußern wollen. Als er dann feststellte, dass Caruso eine weitere Frau in ähnlicher Weise belästigte, habe er auf einer Festnahme bestanden. Auch dieses Opfer habe sich zunächst geweigert, als Zeugin aufzutreten, da sie als verheiratete Frau ihren Namen nicht in so einem Zusammenhang in der Zeitung lesen wollte. Caine habe sie allerdings an ihre Pflicht erinnert, zur Bestrafung von Männern, die Frauen belästigten, beizutragen. Daraufhin habe sie Namen (Hannah Graham) und Adresse (1756 Bathgate Avenue in der Bronx) angegeben. Beides wurde in der Times gedruckt, was Scharen von Schreiberlingen dazu veranlasste, die Bronx nach dieser mysteriösen Frau zu durchkämmen.

Diese Form der sexuellen Belästigung war 1906 in den USA strafbar, wie auch das sogenannte »Catcalling«. In Omaha wurde zum Zweck der Verfolgung solcher Fälle eigens ein Bußgeld-Katalog erstellt (Frauen als »Chicken« zu beleidigen wurde mit 5 Dollar geahndet, die Strafe für die Bezeichnung »Baby Doll« belief sich auf 20 Dollar). In Toledo wurden Bußgelder von 50 Dollar für die Belästigung oder Beleidigung von Frauen verhängt, in Houston musste, wer Frauen unziemlich anstarrte, mit einer Strafe von 100 Dollar rechnen. In einem Leser:innenbrief von 1909 beschwerte sich eine junge Frau, die gerade von New Orleans nach New York gezogen war, dass sie am neuen Wohnort mindestens ein dutzend Mal am Tag sexistisch beleidigt würde.

Caruso selbst erzählte die Geschichte völlig anders: Er sei auf dem Weg zu einem Freund gewesen und habe sich spontan dazu entschlossen, durch den Park zu gehen. Bald habe er einige Rehe gesehen – die er »sehr attraktiv« fand. Dann sei er an den Löwen und Elefanten vorbeigegangen. »Daraufhin sah ich die Affen und habe mich sehr über sie gefreut.« Eine Frau, »etwa 40 Jahre alt, ich glaube, sie war Deutsche«, habe sich an ihn geheftet. Er habe versucht, Abstand zu wahren, sie sei ihm aber immer weiter gefolgt, also habe er das Affenhaus verlassen wollen, just als ihn ein Polizist packte.

»Die Anschuldigungen der Frau waren unmöglich«, sagte Caruso später der Times. In seiner Zeugenaussage in der darauffolgenden Woche behauptete er, er selbst sei das Belästigungsopfer gewesen, weil die Frau ihn auf eine Art angesehen habe, dass er an ihrem Charakter zweifelte.

»Hat Sie das in Verlegenheit gebracht?«, fragte später Carusos Anwalt.

»Ja, ein bisschen«, antwortete der Tenor.

Carusos Dementi sollten uns heute, in Zeiten von #MeToo, nicht mehr überraschen. Nachdem Jocelyn Gecker letztes Jahr in der Associated Press (AP) eine Recherche veröffentlicht hatte, in der neun Frauen dem Sänger Plácido Domingo sexuelle Belästigung vorwerfen, entgegnete dieser in der spanischen Tageszeitung ABC, die Vorwürfe seien »gleichermaßen unmöglich wie unglaubhaft«. Der Generaldirektor der Metropolitan Opera, Heinrich Conried, holte Caruso vor über hundert Jahren gegen Kaution aus dem Gefängnis und ließ gegenüber den versammelten Reporter:innen verlauten, dass sich kein Mann von Carusos Rang der sexuellen Belästigung schuldig machen würde. »Ein Mann wie Caruso, von höchster Ehre und Würde, würde so etwas nicht tun. Wenn er es gewollt hätte, hätte er in diesem Land vielen großartigen Frauen nahekommen können. Es kann jedem passieren, dass man im Vorbeigehen versehentlich mal eine Frau berührt, und wenn Caruso diese Frau berührt hat, dann muss er es versehentlich getan haben.« (2019 stand der jetzige Generaldirektor der Met, Peter Gelb, Domingo zunächst in ähnlicher Weise zur Seite und sagte gegenüber einer Gruppe von Met-Mitarbeiter:innen, dass es der AP-Geschichte seiner Meinung nach an Belegen fehle, weil keine weiteren Medienberichte über Belästigungen vonseiten Domingos existierten. In Reaktion darauf wies NPR darauf hin, dass Gecker für ihren Text die Berichte der mutmaßlichen Opfer durch mehr als drei Dutzend Interviews mit Kolleg:innen, Familienmitgliedern usw. belegt und untermauert habe.)

Obwohl bereits damals umfangreich berichtet wurde (mit täglichen Schlagzeilen in der Times bis Ende des Monats und mindestens einem Bericht pro Woche bis Ende 1906), lohnt sich der Blick auf den »Monkey House Incident« auch heute noch. Gegen Caruso sprechen zahlreiche Indizien, die sich auf Polizeiberichte, eigene Interviews oder Aussagen von Journalist:innen stützen. In einem Text für The Believer (2004) brachte David Suisman den Fall in Zusammenhang mit einigen Zitaten des Tenors. Im Jahr 1903 schrieb ein Reporter: »Carusos erste Liebe war Knoblauch, und seine zweite Liebe waren junge amerikanische Frauen.« In einem Artikel aus dem Jahr 1905 heißt es: »An dieser Stelle ist es vielleicht angebracht, zu erwähnen, dass Signor Caruso unsere amerikanischen Austern mag… und die amerikanischen Frauen!«

Caruso belastete sich aber auch selbst, zum Beispiel als er im Jahr des Vorfalls im Affenhaus in einem Interview über seine »Flirts« mit den Met-Co-Stars Olive Fremstad, Lillian Nordica und Marion Weed sprach, die er nach eigenen Aussagen während der Aufführungen hinter der Bühne zu jagen pflegte.

»Es heißt, dass Sie alle schönen Mädchen küssen, die Sie gewähren lassen«, so der Reporter.

»Ich küsse auch die Hässlichen«, lautete Carusos Entgegnung, »als Akt der Buße«.

Carusos Verteidiger, A. J. Dittenhoefer, hatte alle Hände voll zu tun. Aber auch die Staatsanwaltschaft unter der Leitung des stellvertretenden Polizeikommissars William James Mathot hatte es nicht leicht. Es stellte sich bald heraus, dass weder der Name »Hannah Graham«, noch die Adresse, die die zur Anzeige überredete Affenhaus-Besucherin angegeben hatte, korrekt waren. Sie als Zeugin zu befragen, war also nicht möglich.

Gegenüber der Polizei standen wiederum Anschuldigungen wegen Rassismus und Korruption im Raum. Dittenhoefer nutzte diese für die Verteidigung und äußerte die Vermutung, dass Hannah Graham, da sie nicht mehr aufzufinden war, mit Caine unter einer Decke stecke, um Caruso in eine Falle zu locken und zu diskreditieren. Ankläger Mathot beschimpfte die Italiener:innen, die sich im Gerichtssaal versammelten, um Caruso zu unterstützen, tatsächlich rassistisch, als eine »Schar von neapolitanischen Perversen und Verfluchten«, was nicht gerade half.

Am 24. November wurde Caruso schließlich schuldig gesprochen und zur Zahlung der damaligen Höchststrafe von 10 Dollar (nach heutigen Maßstäben etwa 275 Dollar) verurteilt. Für den bestbezahlten Sänger der Welt, der gerade auf dem Höhepunkt seiner Karriere stand, stellte weniger die Geldstrafe ein Problem dar als der Schaden für seine Reputation, deren Kaufkraft ein Vielfaches mehr wert war. Caruso ging in Berufung – und verlor. Eine zweite Berufung stand zur Debatte, doch dann wurde sein Fall durch einen anderen Jahrhundertprozess aus den Schlagzeilen verdrängt: dem Fall des Harry K. Thaw, der rasend vor Eifersucht den Architekten Stanford White erschossen hatte. (Evelyn Nesbit, Thaws Frau, sollte später aussagen, Thaw habe den Mord aus Wut darüber begangen, dass White sie fünf Jahre zuvor belästigt hatte.)

Von seiner Verurteilung erholte Caruso sich recht schnell. Met-Direktor Conried sagte gegenüber der Presse, er habe »nicht einmal in Betracht gezogen, aus der Verurteilung Konsequenzen für das Opernhaus zu ziehen«. (Hingegen zog sich Domingo im Jahr 2019 schließlich selbst von seinem geplanten Auftritt in Macbeth zurück und kündigte an, dass er nicht mehr an der Met auftreten werde.)

»Es war bezeichnend, wie wenig Carusos Verurteilung zählte«, schreibt Suisman in Selling Sounds. »Das eigentliche Urteil wurde nicht vor Gericht gefällt, sondern im Opernhaus.« Carusos Debüt in der Saison 1906 in einer Aufführung von La Bohème am 29. November war ausverkauft. (Als diese Nachricht an der Abendkasse verkündet wurde, berichtete die Times, »kam es fast zu einem Aufstand, bei dem vor allem einige Frauen in der Menschenmenge grob behandelt wurden.«) Auf dem Schwarzmarkt wurden Tickets für 20 Dollar gehandelt – das Doppelte der Geldstrafe, die Caruso zahlen musste.

Auch viele seiner Co-Stars unterstützten ihn und unterzeichneten einen Brief, in dem sie seine Unschuld beteuerten und der an die Presse durchsickerte (allerdings mit geschwärzten Namen). Giacomo Puccini meinte, die ganze Sache sei »ein abgekartetes Spiel eines konkurrierenden Impresarios«. Als die Times Caruso fragte, ob er fürchte, aufgrund seiner Polizeiakte im folgenden Jahr Probleme bei der Einreise in die Vereinigten Staaten zu bekommen, zuckte der mit den Achseln: »Ich kriege mein Geld trotzdem.«

Der Vorfall wurde allmählich zu einem Insiderwitz. James Joyce verewigte ihn in Ulysses (»Ich wundere mich, dass sie die Affen in New York nicht verhaften«, schrieb Joyce an seinen jüngeren Bruder Stanislaus). Klappkarten mit der Aufschrift »Wo hat Caruso die Dame angefasst?« wurden gedruckt. Als Antwort waren auf der Innenseite ein Affe zu sehen und die Worte: »Im Affenhaus«. Das Ganze hatte etwas von einem Meme lange vor der Erfindung des Internets und zog sich bis ins Volksliedgut, in Abwandlung eines damals berühmten Kinderlieds:

Mother, mother, may I go swim?

Yes, my daughter, do so.

Hang your clothes on a hickory limb,

But don’t go near Caruso.

Edward Bernays war zum Zeitpunkt des Caruso-Urteils erst 15 Jahre alt. Wieviel mag von dem Prozess und der dazugehörigen Berichterstattung in seine PR-Theorie und -Methodik, die er in seinen Werken Crystallizing Public Opinion und The Engineering Consent darlegte, eingeflossen sein? Mit Blick auf das »A-priori-Urteil einer jeden Öffentlichkeit« schreibt er in Crystallizing, müsse die Aufgabe jeder PR-Arbeit darin bestehen, »entweder die alten Autoritäten zu diskreditieren oder neue Autoritäten zu schaffen, indem man die Massenmeinung artikuliert und entweder gegen den alten Glauben oder zugunsten eines neuen in Stellung bringt.«

Der Versuch, die Wahrheit über die Geschehnisse im Affenhaus und den anschließenden Prozess ans Licht zu bringen, gleicht einem endlosen Puzzle aus scheinbaren Wahrheiten, Halbwahrheiten, gutgläubigen, bösartigen und geradezu treulosen Akteur:innen. Noch komplizierter wird es, wenn man die Berichterstattung nach der Gerichtsverhandlung liest, einschließlich der Enttarnung Hannah Grahams als Hannah Stanhope. Zusammen mit ihrem Ehemann, einem Baseballspieler im Ruhestand, tauchte Stanhope am Abend von Carusos Verhaftung unter und verbrachte fortan jede Nacht entweder bei Freund:innen oder in Hotels, unter einem falschem Namen. Indem er Stanhope mit Appell an ihre Bürgerpflicht überredete, Anzeige gegen Caruso zu erstatten, hatte Caine ihr auch aufgebürdet, die Last der öffentlichen Bekanntheit als Klägerin Nummer eins zu tragen.

Sie hatte allen Grund zur Sorge. Mehrere Frauen wurden im Rahmen des Verfahrens gegen Caruso vor Gericht angehört. Alle betraten das Gebäude zum Schutz ihrer Identität verhüllt, was Dittenhoefer veranlasste zu fragen: »Wie viele Dirnen wollen Sie noch anschleppen?« Caruso mag eine gewisse prophetische Gabe bewiesen haben, indem er #FakeNews vorwegnahm. Aber wirklich aktuell scheint auch heute noch ein anonymer Leitartikel der Times, der als Antwort auf Dittenhoefers Kommentar veröffentlicht wurde und der inhaltlich eine erschreckend große Übereinstimmung zum Hashtag #WhyIDidntReport von 2018 aufweist:

Wen wundert es, dass es grundsätzlich schwierig ist, Zeuginnen für die Aussage in einem Strafverfahren zu überreden? Nur selten schützt das Gericht eine Frau vor oft brutalen, erniedrigenden und irrelevanten Fragen, gestellt von Anwälten, die vorgeben, doch lediglich nach der Wahrheit »fischen« zu wollen. Eigentlich geht es ihnen aber nur darum, die Zeugin zu diskreditieren. Ob dabei der Ruf der Frau leidet, scheint für die Prozessführer keine Bedeutung zu haben.

Hier hat sich seit 1906 nicht viel geändert. Die Verhaftung Carusos hatte einen Stellenwert, der eher vergleichbar ist mit dem Prozess gegen Harvey Weinstein als mit dem Fall Domingo. Doch das macht den Gang vor Gericht für die Zeuginnen nicht einfacher, im Gegenteil. Dass Opfer und Täter in derselben Branche tätig sind, vergrößert Machtgefälle und Abhängigkeiten nur noch. In Jocelyn Geckers AP-Bericht kamen überwiegend Frauen zu Wort, die sich nur anonym äußern wollten. Auch ein Großteil der Berichterstattung in VAN, die in Zusammenhang mit #MeToo steht, war nur möglich, wenn die Quellen nicht namentlich genannt werden (obwohl ihre Aussagen durch zusätzliche Gespräche mit anderen, E-Mails und in einem Fall sogar durch ein Video des Übergriffs untermauert wurden).

Peter Gelb führte die Anonymität der Zeuginnen als Grund dafür an, Domingos Met-Vertrag nicht kündigen zu wollen, da anonyme Anschuldigungen seiner Meinung nach nur bedingt glaubhaft seien. Eine Frau – Patricia Wulf – wurde allerdings namentlich genannt und gab der New York Times und NPR Folgeinterviews. Eine weitere Sängerin, die Sopranistin Angela Turner Wilson, sprach ebenfalls unter Klarnamen in einem Folgeartikel der AP.

Jennifer J. Freyd von der University of Oregon hat sich wissenschaftlich mit dem Reaktionsmuster auseinandergesetzt, das Personen üblicherweise zeigen, wenn sie der sexuellen Belästigung beschuldigt werden, und es DARVO genannt: Das eigene Verhalten leugnen. Die Person, die die Anschuldigung vorbringt, angreifen. Die Rollen von Opfer und Täter umkehren.

Die Verteidigung Carusos folgte – vor Gericht und abseits davon – derselben Strategie. Wir kennen es auch aus unzähligen aktuellen Schilderungen von Anhänger:innen von Dirigenten, Sängern und Instrumentalisten, deren Namen im Zusammenhang mit der #MeToo-Bewegung diskutiert werden. Dank der sozialen Medien ist es im Fall von Domingo ebenso präsent. Zur DARVO-Theorie passt die Leugnungstaktik von Conried im Jahr 1906: »Ein Mann wie Caruso hätte, wenn er gewollt hätte, in diesem Land vielen großartigen Frauen nahekommen können.« Ein ähnliches Dementi ging im Rahmen einer Domingo-Recherche im Jahr 2019 per E-Mail an die Boston Globe-Reporterin (und VAN-Mitarbeiterin) Zoë Madonna:

Plácido Domingo hat nichts Falsches getan. Er lud ein paar Sängerinnen zu sich nach Hause ein und ab und zu verirrte sich vielleicht mal seine Hand… Keine große Sache! Ihr Progressiven stoßt alles ins selbe Horn und freut Euch, wenn ihr es schafft, nur wegen ein paar kleiner Ausrutscher die Karriere und das Leben talentierter Männer zu ruinieren – sorry, aber die Strafe passt nicht zum Vergehen! Die junge Frau, die diese Zeilen schreibt, freut sich darauf, Domingo im Sommer in Salzburg zu erleben. Oh, und wenn ich Glück habe, schaut er sogar mal in meine Richtung!

Das Leugnen geht, damals wie heute, schnell in Anklage über. Caruso drohte sogar damit, die Stadt New York wegen seiner Verhaftung zu verklagen, mit der Begründung:

»Ich bin komplett unschuldig. Die Verhaftung und die gegen mich erhobenen Anklagen waren völlig aus der Luft gegriffen. Dafür gibt es keinerlei Grundlage, und ich bin zuversichtlich, dass ich gründlich und vollständig rehabilitiert werde. Es versteht sich von selbst, dass ich über den ganzen Aufruhr höchst empört bin, und ich möchte die Angelegenheit nicht ruhen lassen.«

Domingo entschuldigte sich zunächst für die von der AP detailliert dargelegten Handlungen, distanzierte sich aber später von der Entschuldigung, um »den falschen Eindruck zu korrigieren«, den sie erweckt hätten. »Meine Entschuldigung war aufrichtig und von ganzem Herzen. Aber ich weiß, was ich nicht getan habe, und ich werde es wieder leugnen.« (James Levine, der 2018 nach gegen ihn erhobenen Anschuldigungen von der Met  entlassen wurde, hatte gegen diese geklagt – der Fall wurde ein Jahr später beigelegt.)

Verschwörungstheorien, die Täter und Opfer umkehren, ziehen sich sowohl bei Caruso als auch bei Domingo wie ein roter Faden durch den Fall. Ein Mann aus Rochester, der kurz zuvor New York besucht hatte, schickte einen Brief zum Fall Caruso an die Times. Er schilderte seinen eigenen Besuch im Affenhaus, wo er jemanden, allem Anschein nach einen Polizisten, dabei beobachtet habe, wie dieser versuchte, mit einem Mann, der einer Frau zu nahe zu gekommen zu sein schien, irgendetwas auszuhandeln. Der Schreiber vermutete Bestechung.

»Abschließend sagte der Mann aus Rochester, dass er aufgrund der Beschreibungen, die er gelesen hatte, davon ausgehe, dass es sich bei der Frau, die er in der Szene gesehen habe, womöglich um Mrs. Hannah Graham gehandelt haben könnte.«

»Eros hat eine ungeheure Kraft, auch eine subtile, durchaus erregende Macht, und sie wird von beiden Geschlechtern eingesetzt. Es ist genau jene Macht, die dem alten Mann jetzt zum Verhängnis zu werden droht«, schrieb Maria Ossowski in einem Kommentar für den SWR über die Domingo-Vorwürfe (der jetzt allerdings nur noch auf Ossowskis Facebook-Profil, nicht mehr auf der SWR-Website abrufbar ist). »Der Fall zeigt, wie erbarmungslos eine schnell urteilende, teilweise moralinsaure Erotikpolizei über einen Menschen herfällt und sein Lebenswerk zerstört.«

Während die Caruso-Fans noch die Met und den Gerichtssaal als Bühne nutzten, ist die Plattform der Domingo-Fans um einiges größer, weil online. Mehrere Gruppen auf Facebook haben es sich im letzten Jahr zur Aufgabe gemacht, Domingo nach dem AP-Bericht zu verteidigen. Eine der aktivsten, We are with you Plácido!!!, hat über 3.000 Mitglieder und verzeichnet allein im letzten Monat 72 Posts. Nachdem die AP-Geschichte bekannt wurde, fand ein Fan sehr schnell Wulfs LinkedIn-Profil und stellte fest, dass sie dort in ihrer Künstlerinnen-Biografie auch Domingo als Kollegen erwähnt. Davon postete der Fan einen Screenshot in die Gruppe, versehen mit der Beleidigung Wulfs als »scum« (dt. Abschaum).

»Er sollte sie wegen Verleumdung verklagen. Sie hat versucht, seine Karriere zu zerstören, ohne jeden Beweis.«

»Und wie sie für die Euronews-Reportage Tränen rausgequetscht hat… Der höchste Grad der Heuchelei…«

»Wir hätten ja ahnen können, dass sie den Namen Plácido Domingos für ihre persönlichen Zwecke benutzt.«

»Sie hat ihn benutzt und missbraucht! Eine Lügnerin, und ich bin sicher, dass sie als Sängerin völlig talentfrei ist. Immer die gleiche Geschichte für 15 Minuten Ruhm! So eine unmoralische Kreatur!«

Die Fälle von Domingo und Caruso sind überraschend ähnlich, dafür, dass sie über 100 Jahre auseinanderliegen. Einen wichtigen Unterschied betont allerdings Anne Midgette: Caruso wurde gefasst. In ihrer Zeit als Musikjournalistin bei der Washington Post (eine Position, die sie im vergangenen Herbst aufgab), recherchierte Midgette sieben Monate lang zusammen mit ihrer Kollegin Peggy McGlone über sexuelle Belästigung und Machtmissbrauch in der Welt der klassischen Musik, der Artikel erschien vor zwei Jahren. Gestützt auf Gespräche mit über fünfzig Personen offenbarte er Abgründe: Mehrere Opfer sprachen on the Record über Missbrauch und sexualisierte Gewalt durch Musiker und Verwaltungsangestellte wie den Konzertmeister des Cleveland Orchestra, William Preucil, den Dirigenten Daniele Gatti und Bernard Uzan.

Laut Midgette waren die Konsequenzen für die Täter jedoch überschaubar. Preucil, Gatti und Uzan verloren zwar ihre Jobs (Uzan kündigte selbst), doch Gatti wurde im selben Jahr Musikdirektor am Teatro dell’Opera di Roma. Letzte Woche wurde bekannt gegeben, dass James Levine in diesem Winter als Dirigent an das Maggio Musicale Fiorentino in Florenz zurückkehren wird.

»Das ist das Heimtückische an solchen Berichten«, erklärt Midgette. »Wir erzählen die Geschichten von Menschen, die missbraucht wurden – und eigentlich sind diese Geschichten schon bekannt, seit Jahren, sogar Jahrzehnten. Doch erst, wenn sie in der Zeitung stehen, wird der Missbrauch auch thematisiert. Und erst dann kommt es wirklich zu Schuldsprüchen und die Täter verlieren ihre Jobs. Und nachher sehen mir Leute, die schon seit über zehn Jahren von diesen Übergriffen wissen, in die Augen und sagen: ›Damals war ja noch nichts bewiesen. Und er hat versprochen, sowas nicht wieder zu machen.‹«

In Bezug auf sexuelle Belästigung hat das amerikanische Justizsystem, das schon zu Carusos Zeiten – trotz Verurteilung – nicht angemessen funktioniert zu haben scheint, was den Opferschutz angeht im letzten Jahrhundert eher abgebaut als dazugelernt. Zwar wurde mit dem Civil Rights Act von 1964 eine Equal Employment Opportunity Commission geschaffen, die Fälle von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz verfolgen sollte. Aber Sexismus, Catcalling und eine Vielzahl anderer Formen der sexuellen Belästigung, die nicht als Vergewaltigung oder Körperverletzung einzustufen sind, gelten in den Vereinigten Staaten nicht mehr als Verbrechen. Das Bundesgesetz verbietet zwar sexuelle Belästigung, allerdings findet dieser Passus in vielen Staaten bei Freiberufler:innen keine Anwendung (und sehr viele Künstler:innen arbeiten in der klassischen Musikindustrie der USA freiberuflich).

Zwei Fälle von sexueller Belästigung in der Opernwelt, die über hundert Jahre trennen – und ihre unübersehbaren Parallelen. In @vanmusik.

Hinzu kommt, dass das Prozedere der Beschwerde und Anzeige im Fall von sexueller Belästigung für die Opfer oft unglaublich schwer zu durchschauen und mit sehr viel Aufwand verbunden ist. Prozesse ziehen sich, anders als im Fall von Caruso, über Jahre hin. Opfer stimmen darum oft Vergleichen zu, da sie die einzige Möglichkeit darstellen, die eigene Identität zu schützen und sich überhaupt wieder anderen Dingen zuwenden zu können. So behalten aber die Täter, selbst diejenigen, die erwischt werden, die Macht und die Kontrolle über die Erzählung der Geschehnisse. Die ehemalige Harvey Weinstein-Anwältin Lisa Bloom schrieb ihm 2017 in einem Memo: »Für das Reputationsmanagement ist es sehr wichtig, die Geschichte als erster zu erzählen.« Blooms Methoden des »positiven Reputationsmanagements« kommen Bernays’ Engineered Consent damit sehr nahe, auch, wenn letztere fast hundert Jahre zuvor verfasst wurden. Die Fälle von Caruso im Affenhaus und Domingo zeigen: Exakt nachzuvollziehen und zu dokumentieren, was passiert ist, ist schwer. Was allerdings möglich ist: exakt nachzuvollziehen und zu dokumentieren, was passiert, wenn diejenigen in Machtpositionen bestimmen, was die Wahrheit ist. Dann enthüllt sich ein ganzes System von Komplizenschaft und gegenseitigem Machterhalt. ¶

… berichtet über Musik und Kunst für Paper, die Washington Post, NPR, Gramophone und andere. Sie war Teil der Redaktion bei Time Out New York und WQXR/Q2 Music. Auf der Bühne der Brooklyn Academy of Music konnte man ihre Texte auch schon hören – beim Next Wave Festival. Seit 2020 ist sie festes Mitglied der VAN Redaktion. olivia@van-verlag.com