250 Komponistinnen. Folge 43: die erste jüdische Liturgie-Komponistin.
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Fast exakt in der Mitte der Vereinigten Staaten von Amerika – genauer: in dem heute gut 100.000 Einwohner:innen zählenden Ort Greeley in Colorado – erblickte am 23. Oktober 1906 Miriam Gideon das Licht der Welt. Ihre Mutter Henrietta Shoninger Gideon war Lehrerin, ihr Vater Abram Gideon Philosophie-Professor und ordinierter Rabbi. Offenbar erlernte die junge Miriam früh das Orgelspiel. Klavierunterricht erhielt das junge Talent bei Felix Fox, einem 1876 im damals deutschen Breslau geborenen Pianisten und Klavierlehrer, der einst bei Carl Reinecke in Leipzig studiert hatte und seine durchaus eindrückliche Pianistenkarriere später ausschließlich auf dem Gebiet der USA entwickelte. Er starb im März 1947 in Boston.
Die wesentlichen Motivationsimpulse für die Aufnahme eines Musikstudiums kamen jedoch von Miriams Onkel Henry Gideon, dem damaligen Organisten und Kantor an der Bostoner Reform-Synagoge »Temple Israel«. Henry Gideon war Miriams erster Orgellehrer und verbrachte mit ihr ganze Sommermonate zwecks gemeinsamer musikalischer Studien. Während der Zeit an der Boston University schrieb sich Miriam nicht nur in den Fächern Klavier und Komposition ein, sondern auch für Französisch und Mathematik.
Weiter ging es zum Studium nach New York, wo sie an der Universität unter anderem von der institutionell äußerst einflussreichen – in den wichtigsten Gremien und Verbänden in leitender Funktion wirkenden – US-Avantgardistin Marion Bauer (1882–1955) in Komposition unterrichtet wurde. Weitere Kompositionsstunden erhielt sie dort – in New York – wohl auch von dem hierzulande ungleich bekannteren US-Komponisten Roger Sessions (1896–1985). Auch durch ihre dezidierte Herkunft aus der intellektuellen Jewish Community New Yorks erhielt sie nach Abschluss ihres eigenen Studiums eine Lehrerinnenstelle am dortigen Jewish Theological Seminary. Von 1967 an unterrichtete Gideon schließlich bis 1991 als Professorin an der Manhattan School of Music.
1949 hatte Miriam Gideon Frederic Ewen (1899–1988), Englisch-Professor am Brooklyn College – im ukrainischen Lviv geboren – geheiratet. Das Ehepaar, das sich politisch als »links« definierte, musste in der Zeit der panischen Witterung allerlei böser Kommunist:innen offenbar vor mehreren Ausschüssen seine »Unschuld« beziehungsweise seinen »Nicht-Kommunismus« beschwören. Die politische Einstellung Gideons lässt sich an den Titeln und dem Inhalt ihrer Werke jedoch nicht unmittelbar ablesen. Ihre Kompositionen tragen Namen, die vielmehr auf Gideons Kindheit »umringt von Rabbis und jüdischen Kantoren« verweisen, wie beispielsweise der 1990 entstandene Liedzyklus Ayelet Hashakhar (»Morgenstern«) mit dem Untertitel Songs of Childhood on Hebrew Texts (»Lieder der Kindheit auf hebräische Texte«). Auch finden sich Kompositionen mit deutschen Titeln in der Liste ihrer Werke, wie beispielsweise das 1937 komponierte Lied Vergiftet sind meine Lieder oder etwa Böhmischer Krystall (1988) für Sopran und kleines Ensemble. 1958 komponierte Gideon ihre einzige Oper: Fortunato – nach einem Theaterstück der »Golden Boys des Theaters von Madrid«, den Quintero-Brüdern Serfain (1871–1938) und Joaquín Álvarez Quintero (1873–1944). Die Oper wurde jedoch bis zum heutigen Tag offenbar nicht ein einziges Mal komplett aufgeführt.
1971 beauftragte man Gideon als erste Frau in der Geschichte mit der offiziellen Vertonung der jüdischen Liturgie. So entstanden unter anderem Sacred Service for Sabbath Morning (1971) auf Basis der reformierten Liturgie für »The Temple« in Cleveland (Ohio) und Shirat Miriam L’Shabbat als Vertonung der traditionellen Liturgie (1974) für die Park Avenue Synagogue in New York City.
1975 wurde Gideon als zweite Frau überhaupt als Mitglied in die American Academy and Institute of Arts and Letters aufgenommen. Sie starb am 18. Juni 1996 mit 89 Jahren in New York.
Miriam Gideon (1906–1996)Of Shadows Numberless (1966)
Miriam Gideons Of Shadows Numberless ist eine Klaviersuite aus dem Jahr 1966. Das erste der sechs Stücke (Allegretto) kommt mit der Bescheidenheit aber inneren Redseligkeit einer Beethoven-Bagatelle daher – und ist doch nur scheintonal; schön angeschrägt werden abstrakte Zustände rhetorisch nachvollzogen. Nachdenklich, aber irgendwie weird witzig. Erst bei näherem Betrachten fällt der Untertitel – der schüchtern und klug wie bei Debussy angesichts seiner zweibändigen Préludes wirklich als Untertitel zu verstehen ist – des Stückes auf: …magic casements opening on seas of perilous foam. Magische Fensterflügel eröffnen also Einblicke auf Seen gefährlicher Schäume. Man denkt sich »Aha« – und mag das Stück trotzdem!
Zyklus-Titel wie auch einzelne »Bild-Unterschriften« beziehen sich – wie man erfährt – auf Worte des berühmten, früh verstorbenen englischen Romantikers John Keats (1795–1821), der in seiner ganzen poetischen Durchdunklung von Edgar Allan Poe (1809–1849) beeinflusst scheint.
Das zweite Stück (Animato. …the blushful Hippocrene) huscht schnodderig vor sich hin, ein wenig an die dekadente Pierrot-Versunkenheit Schönbergs erinnernd. Im dritten Teil der Klaviersuite (Ritornelle. …magic casements opening) leuchtet ein melodisches Rudiment auf; rubinrot. Die vierte Nummer (Presto. …the murmurous haunt of flies on summer eves) führt dann einen lustigen atonalen Hummelflug auf. Gideon findet auch hier nachdenklich-verwegene Zwischentöne. Albumblätter.
Kurz vor Schluss (Tranquillamente. …white hawthorne and the pastoral eglantine) bewegen sich schillernde Farb-Akkorde à la Messiaen in der linken Hand; offenbar eine botanische Studie zu den Gewächsen Weißdorn und Zaunrose. Das »Finale« (Moderato. …Adieu! The plaintive anthem fades past the near meadows) dreht sich ebenfalls im Kreise eigenartigster Gedanken über Natur, Vergehen und Traum. Sehr merkwürdige, etwas hermetische Musik. Und ganz und gar nicht gefällig. ¶
Beim Streaming-Dienst Primephonic kannst du 136 Tracks in 19 Aufnahmen von Miriam Gideon hören. Hier geht es zur Künstlerseite der Komponistin: http://bit.ly/MiriamGideon.