Aus dem Leben eines Hörers, der CDs am liebsten im Auto einlegt – vor den kritischen Ohren zweier Minderjähriger auf den Rücksitzen.
»Hast du was Schnelles?«, sagt Paul von hinten. »Gleich«, sage ich, »erstmal dieses Stück zu Ende! Gleich kommt die beste Stelle.« »Welche Stelle?« sagt Frido. »Ruhe dahinten! Ah, jetzt….« Der Appassionatotakt mit den Sexten rechts, wo es ist, als drehe Chopin sich um und… »Was Schnelles!«, fordert Paul wieder, während wir unter der A27 durchfahren. Dieser besondere Takt im Nocturne Des-Dur op. 27 No. 2 findet sich in Gerrit Zitterbarts Aufnahme bei 3:45, etwa im Goldenen Schnitt. Die Aufnahme ist absolut autotauglich, darum geht es heute. Zuerst wollte ich mich um Kunst, Moral, Metoo und die Opfer auf allen Seiten kümmern, aber das tun inzwischen sowieso schon alle, und nach sieben Stunden Gewürge gab ich auf, und nun fahren wir also zur Schule.
Es ist viertel vor acht morgens, gerade noch Zeit für Pauls Lieblingsstück auf dieser CD, das Finale der h-Moll-Sonate. »Jetzt kommt das Schnelle!« Bloß gut, dass ein kleiner Stau die Einfahrt ins Städtchen hemmt. Welche Triumphe, welcher Drang, und warum kann ich nicht Klavier spielen? Naja, an Zitterbart käme ich eh nicht ran. Den kennen Sie nicht? Einer von den unsung heroes. Er spielt Chopin klüger, strukturierter und lebendiger als alle, die ich im Regal habe, habe ich durchgetestet. Rubinstein auf Youtube ist auch gut. Aber wir brauchen ja was fürs Auto. Vielleicht klingt die Aufnahme in unserem betagten Scenic auch deswegen gut, weil Tonmeister Andreas Spreer anno 1991 zwei Röhrenmikrofone Neumann M49 benutzte? Zum Anfassen, die Töne.
Es ist eine Wonne, mit diesem Finale aus dem Paris des Jahres 1844 im Morgengrauen des Jahres 2018 an der Shell-Tankstelle einer norddeutschen Kleinstadt vorbeizurauschen. Vor der Schule steigen zwei inspirierte Jungs aus dem Wagen, und ich fühle wieder Mut, mich dem Zahnarzt auszuliefern. Musik kann echt Konsequenzen haben! Zuhause höre ich CDs fast nie zum Spaß, nur gezielt. Erst beim Fahren entfalten sie sich richtig – die, die dem Fahrtgeräusch gewachsen sind, Sciarrino und subtile Streichquartette also eher nicht. Und beim dreisamen Hören hat sich ein kleiner Fundus gebildet mit Musik, die beim Sechsjährigen und Achtjährigen auf dem Rücksitz genauso gut ankommt wie bei mir. Den Anfang machte »die grüne CD«, noch immer ein Favorit.
Maigrün ist sie, wie das Buch, in dem auch noch eine violette und eine kaffeebraune CD stecken, allesamt mit Musik von Théodore Dubois. Eine der ersten Produktionen des inzwischen fast schon kultreifen Palazzetto Bru Zane, dem »Centre de musique romantique française«. Wir hören immer wieder Dubois´ Zweite Sinfonie, Vielzuspätromantik aus dem Jahre 1912, ein Jahr vor dem Sacre von Strawinski. Frido stellt sich dabei am liebsten Ritter und Burgen vor (er ist etwas altmodisch, Star Wars lässt ihn kalt), und Paul singt bei den Fanfaren mit, und wenn wir im Stau stehen, nehme ich die Hände vom Lenkrad und dirigiere, dann denken die anderen Autofahrer, ich rege mich auf. Nein, wirklich gut, mit den Brüsseler Philharmonikern unter Hervé Niquet. Auch sehr beliebt: Bachs d-Moll-Cembalokonzert mit Gary Cooper.
Unsere jüngste Entdeckung ist, trotz Autoakustik, ein Streichquartett. Ich stellte ihnen sicherheitshalber zuerst Track 3 vor, eine schnelle Nummer, Polska from Dorotea, dann stellte ich ab. »Weiter!« Das sagen sie nicht oft bei neuen CDs. Es ging also weiter mit dem Danish String Quartet, diesmal auf der A7 bei ausnahmsweise aufklarendem Wetter, und zwar bis zum Schluss. Nordic Folk Music. Vorher dachte ich, ohje, noch so ein krampfiges Crossoverding –- denn so etwas haben gerade erst die Ébènes geliefert, vielmehr, sie haben sich ein paar Jazzmusikern ausgeliefert, veredeln seidig deren konventionelles Tröten und Rummsen und spielen in der Mitte originellerweise Piazzolla. Mit Bandeon, naturellement. Das habe ich die Jungs gar nicht erst testen lassen.
Die Dänen bewegen sich auf komplett anderem Niveau. Zuerst mit Harmonium, vom ersten Geiger gespielt, eine Choralweise, aus der sich dann ein Panorama skandinavischer Weisen und Landschaften entfaltet, zwischendurch auch Selbstgemachtes frei nach Dowland, und als erster Vollkick diese Polka, die ein unglücklicher schwedischer Fiedler ersann, den es nach Lappland verschlug. Wenn dieser Andersson wüsste, wie das reinhaut auf Höhe der Abfahrt zum Flughafen Hannover im späten Winterlicht! »Man möchte sofort Schwede werden!«, rufe ich nach der Nummer drei und drücke auf Stop. »Wieso willst du Schwede werden?«, erkundigt sich Frido. »Weil…« »Weiter!«, ruft Paul. »Wir fahren sowieso in die falsche Richtung«, sage ich, »nach Süden.«
Und je weiter wir nach Süden fahren, desto weiter reicht der Norden dieser fabelhaften Dänen. Sie nennen es bescheiden »Arrangements«, was sie da realisieren, aber es sind Kompositionen voller rhythmischer Raffinesse, modalen bis schrägen Harmonien, selbst zusammen eine Komposition bildend und, trotz gelegentlichem Einsatz anderer Instrumente bis zur Spieluhr, autarke Quartettkunst, die nur ein warmherziges Spitzenensemble so hinkriegt, völlig ungeeignet für Volkstanzgruppen. Nein, ich habe nichts gegen Volkstänze! Aber Last Leaf, wie dieses ECM-Album heißt, blüht am schönsten auf, wenn die tiefstehende Sonne die Gewerbegebiete an der A7 erröten lässt und man absolut sicher ist, dass der blitzende Gasgeber im SUV hinter einem nur Schrott hört. ¶