Wir können die Dampflok im Raum nicht mehr übersehen. 170 Jahre nach seinem Tod wird Felix Mendelssohn Bartholdy von Klischees befreit. Im Tender: Eine Gesamtausgabe seiner 5855 Briefe und ein Essay von Peter Gülke. In der Dampfmaschine: Eine Einspielung seines Violinkonzerts durch Isabelle Faust. Zoom!
»Tausend Mal berührt, tausend Mal ist nix passiert.« Wie in »Zoom«, dem 1984er Hit von Klaus Lage, kann es einem mit Mendelssohns Violinkonzert gehen. Von jeher vertraut und angenehm, »wir waren wie Geschwister in all den Jahren …«, eine schöne Musik halt, die er 1844 komponierte, drei Jahre vor seinem frühen Tod. Schon der Anfang klingt für uns so selbstverständlich, als wäre es nicht absolut neu gewesen, den Solisten im Solokonzert sofort einsteigen zu lassen. Aber wir haben ja auch Solokonzerte von Schumann und Sibelius im Kopf, die Mendelssohns Modell übernahmen. Wir lauschen aus einer Zukunft, in der sich das alles längst gesetzt hat. Es kann, so scheint es, »nix passieren«, schon gar nicht bei einer so gut gebauten Partitur.
Warum denn nicht? Ist sie zu »elegant«, »gefällig«, »makellos«? Begriffe aus dem Wortschatz einer Geringschätzung, die nicht nur auf Richard Wagners Pamphlet »Das Judenthum in der Musik« zurückgeht, sondern auch auf Heinrich Heine, der 1844 von Mendelssohns »passionierter Indifferenz« sprach und zudem »Malice auf ihn wegen seines Christelns« hatte. Was aus diesen Vorbehalten wurde, zuerst identitär grundiert, später Mendelssohn gern messend am Sendungsbewusstsein von Beethoven bis Bruckner, auch das hat ihn lange in eine Ecke verbannt, in der Windstille herrscht. Carl Dahlhaus erklärte 1972 zur Entwicklung der Sinfonie nach Beethoven: »Mendelssohn fällt aus diesem Zusammenhang heraus«, Martin Geck sah in seinen Sinfonien 2009 nur ein »Mittelgebirge«.
Kurz, ein Typ, der einen nicht in eisige Höhen und existentielle Abgründe zwingt, mit dem man gemütlich auf dem Sofa sitzt, »Wir blieben zuhaus, du schliefst ein vorm Fernsehen …«, um, beispielsweise, dem schönen Violinkonzert zu lauschen. Als er damit fertig wurde, im September 1844, zeichnete Mendelssohn tatsächlich ein Biedermeiersofa, auf dem er und seine Frau Tee trinken, während sich Gouvernanten um die Kinder kümmern. Aber unten auf demselben Blatt, sozusagen unter dem Teppich, fährt die Eisenbahn, Modell Saxonia, erste deutsche Dampflok, vom Komponisten präzise gezeichnet. Lange wird es den Meilenfresser Mendelssohn nicht halten, ehe er vom Sofa hochspringt und »eisenbahnig«, wie er es nennt, weiterfährt.
Dieser Künstler, dem man »nichts Neues berichten« kann (wie Robert Schumann feststellt), der in seinem krachvollen Terminkalender mehrere Jobs verbindet – Komponist, Dirigent, Solist, Gründer eines Konservatoriums, Leiter eines Orchesters in Leipzig, Netzwerker –, der als einziger Musiker neben Hector Berlioz schon über Verkehrsmittel nachdenkt, die schneller sind als 50 km/h, der das politische Geschehen mit der Sensibilität beobachtet, die dem Enkel des jüdischen Aufklärers Moses Mendelssohn mitgegeben ist, diese Gestalt ist beim Durchstöbern von 5855 erhaltenen Briefen wirklich nicht mehr zu übersehen. Neun Jahre nach dem ersten Band ist bei Bärenreiter jetzt auch der zwölfte Band der Briefe erschienen. Der 83-jährige Musikdenker Peter Gülke, der parallel einen großen Essay zu Mendelssohn veröffentlicht hat, möchte diese Schreiben sogar »eher neben als hinter seine Musik stellen«.
Wie recht er damit hat, zeigt die neue Aufnahme des Violinkonzerts mit Isabelle Faust und dem Freiburger Barockorchester, von Pablo Heras-Casado geleitet. Mit den Briefen im Kopf, von Mendelssohn her denkend, hört man auf einmal aktuelle Musik, aktuell auch für das Jahr 2017, voller spannender Mitteilungen: »Nicht zu unbestimmte Gedanken, um sie in Worte zu fassen, sondern zu bestimmte«, wie der Komponist über sein Metier sagte. Das fängt schon an mit dem Anfang, in den sich die Geigerin nicht volltönend hineinstrahlt. Mit körperlosen Tönen verweigert sie das Vertraute und wird dann um so konkreter: Ein Sforzato nimmt sie so rasch zurück, als gäbe es etwas zu verschweigen, ein Crescendo, auf das ein Piano folgt, wird an die Wand gefahren.
So beginnt das Werk zu sprechen, auch im Orchester, wo die Trompete in einem Septakkord gefährlich klingt, nicht bloß strahlend, wo ein Pizzicato sich mit den Skalen der Geige so exakt trifft, dass die Struktur aufleuchtet. Der letzte Satz wird bei so viel Tiefenschärfe auch szenisch witzig: Bei gefühlten 120 km/h zieht unter Offenbachschem Funkeln ein Thema im Horn dahin wie eine Kutsche neben der Eisenbahn. Die kompositorische »Makellosigkeit« all dieser Kombinationen und Übergänge ist nicht das Ziel, sondern das Mittel geistiger Hochspannung; die Vielfalt der Mitteilungen und Signale könnte nicht moderner sein. Dass die Geigerin die einst üblichen hörbaren Lagenwechsel einsetzt, ist nur nebenher »historisch«. Es bricht mit dem Klischee der Schlackenlosigkeit.
Dem entspricht Mendelssohns Musik nämlich nur, wenn man sein »Rumoren unter der Oberfläche«, wie Gülke es nennt, überhört, »so eng nebeneinander und doch gar nix gecheckt …«. Natürlich gibt es Aufnahmen von Yehudi Menuhin bis Carolin Widmann, die ebenfalls unter die Haut gehen. Und natürlich kann man die von Faust und FBO auch aufregend finden, ohne vorher mindestens 50 Briefe gelesen zu haben. Aber dem aus der Windstille befreiten Mendelssohn, der keine Verteidiger mehr braucht, sondern für sich selber spricht (und keineswegs nur von sich), kommt diese Einspielung wie gerufen. Eine Nahaufnahme. »Tausend und eine Nacht, und es hat Zoom gemacht.« ¶