An einem Mittwochvormittag im November bin ich mit der Geigerin Viktoria Mullova im Hotel de Rome am Berliner Bebelplatz verabredet. Sie kommt ein paar Minuten zu spät, entschuldigt sich aber gleich ehrlich höflich, sie habe damit gerechnet, dass ich mich über die Rezeption ankündige. Der freundliche Portier führt uns in einen abgetrennten Raum seitlich der Lobby. Wir bestellen eine Flasche Wasser. Am Abend zuvor ist Mullova zusammen mit der Pianistin Katia Labèque erstmals im Pierre-Boulez-Saal aufgetreten. Sie wirkt an diesem Morgen sehr zufrieden und entspannt. Später wird sie verraten, dass dieser Schein vielleicht trügt. Mullova ist eine sehr angenehme und geerdete Gesprächspartnerin. Man kommt schnell mit ihr ins Gespräch und möchte, dass es lange weitergeht.

VAN: Ein Großteil der Interviews mit dir, auch die Biographie von Eva Maria Chapman, konzentrieren sich auf dein Leben in der Sowjetunion und deine Flucht von dort. Wie würdest du dein heutiges Leben beschreiben?

Viktoria Mullova: Ich habe ein gutes Leben. Ich mache das, was mir Spaß macht. Das allein ist schon eine großartige Sache. Nicht viele können das von sich behaupten. Ich spiele so viele Konzerte wie ich will, mit der Musik und den Menschen, die ich mag. Wenn mir danach ist, lege ich die Geige beiseite und mache eine Pause. Mein bisher längster Urlaub dauerte acht Monate. Ich habe währenddessen mein Instrument kein einziges Mal angerührt. Alle haben mich gefragt, ›wie kannst du so lange Urlaub nehmen? Hast du keine Angst, dass du deine Karriere ruinierst?‹ Hatte ich nicht. Nach einer Woche Üben war ich außerdem auch schon wieder ganz gut in Form.

Foto © Max Pucciariello
Foto © Max Pucciariello

Du nimmst in den Urlaub nie deine Geige mit?

Genau. Ich fahre jedes Jahr für zwei, drei Monate nach Südamerika, um dort Zeit mit Freunden zu verbringen. Dann spiele ich gar nicht. Februar, März sind off work.

Du hast gestern das erste Mal im Pierre-Boulez-Saal gespielt. Wie fandest du es?

Fantastisch, ich liebe den Saal, auch wenn es ein wenig komisch ist, so komplett von Zuschauern umschlossen zu sein, dieses Gefühl, dass manche Zuhörer immer nur deinen Rücken sehen. Es ist auch ein bisschen schade, dass der aufgeklappte Flügel einigen die Sicht versperrt. Aber akustisch mag ich den Saal sehr, es fühlt sich fast so an, als würde man sich im Inneren eines Instruments befinden. Es hat mich ein bisschen an den Saal in Cremona erinnert, im Museo del Violino.

Du spielst eine Geige von Stradivari, der in Cremona seine Werkstatt hatte, aber besitzt auch eine Guadagnini.

Ja, sie hat ebenfalls einen tollen Klang, für einige Musik bevorzuge ich sie sogar, Barockmusik zum Beispiel. Manchmal mache ich Programme mit beiden Instrumenten. Dann spiele ich zwei Sätze Bach, danach ein kurzes Stück von George Benjamin, dann wieder Bach, dann ein Stück von Dai Fujikura … ich wechsle zwischendurch die Geige, die Stimmungen, die Bögen, es sind komplett verschiedene Klangwelten. Für mich ist das manchmal eine Herausforderung, weil die technischen Anforderungen zum Teil so unterschiedlich sind, zum Beispiel zwischen Benjamin und einem Barockstück, dass es ein paar Sekunden braucht, bis man sich umgepolt hat. Aber ich denke so eine Diversität ist auch für die Zuhörer bereichernd. Manchmal gebe ich Abende nur mit Beethoven-Sonaten, aber persönlich möchte ich, wenn ich zu Konzerten gehe, eine Vielfalt hören, nicht nur einen Komponisten. Den ganzen Abend nur Bach, ich weiß nicht … Deshalb sind meine Bach-Programme meist kürzer und ohne Pause.

Du hast einmal gesagt, dass du nicht möchtest, dass sich Konzertbesucher wegen bestimmter Regeln – zum Beispiel dem Gebot, nicht zu husten – stressen. Kollegen von dir brechen da schon mal das Konzert ab.

Wenn du husten musst, musst du eben husten, sonst … was sollst du machen? (lacht) Du hustest doch nicht absichtlich, oder? Während des Konzerts reden ist etwas anderes, aber husten – wie kannst du das Leuten verbieten? Besser einmal kurz und leise, als dass es sich so aufstaut. Es ist mir auch einmal während einer Generalprobe passiert, ich musste ganz dringend husten, und je mehr ich es versuchte zu unterdrücken, desto größer wurde der Drang – bis mir am Ende schon die Tränen ins Gesicht liefen.

Was hast du gemacht?

Ich habe eine Pause gemacht und gehustet.

Glaubst du, dass das ›Protokoll des Konzerts‹ immer noch zu fest sitzt?

Ja, wir müssen zum Beispiel mehr Spontaneität zulassen. Gestern habe ich das Publikum vor dem Auftritt gebeten, zwischen den Stücken nicht zu applaudieren, weil es dem atmosphärischen Fluss geschadet hätte. Aber normalerweise stört es mich überhaupt nicht, wenn Leute zwischen den Sätzen klatschen wollen, bei einem Sibelius- oder Brahms-Konzert zum Beispiel. Bitte, go ahead. Ich mag es, wenn ich eine Reaktion der Leute spüre, statt dass sie alle reglos dasitzen mit angespanntem Gesicht, weil sie den Husten unterdrücken. (lacht) Ich brauche das als Künstler, das ist es, was mich glücklich macht. Ich verstehe die Zuhörer nicht, die bei jeder Regung sofort wütend zischen. Meine Tochter, die in Berlin wohnt und hier als DJ arbeitet, wollte gestern mit zwei Freunden zum Konzert kommen. Die haben sie vorher ganz ängstlich gefragt, was sie denn anziehen müssten. Das hat mich wirklich überrascht, scheinbar herrscht immer noch diese Vorstellung, klassische Konzerte seien steif und man müsse sich besonders kleiden.

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Du sprachst am Anfang darüber, dass du jetzt ein glücklicher Mensch bist mit dem was du machst. Was sind denn die Dinge, auf die du am ehesten verzichten könntest?

Der größte Stress ist die Reiserei. Hotels, Flughäfen, Sicherheitskontrollen … gestern haben wir fast den Zug nach Berlin verpasst, weil wir auf dem Weg von Kempen nach Düsseldorf im Verkehr stecken geblieben sind. Für eine Strecke von 40 km haben wir zwei Stunden gebraucht. Dann fünf Stunden Zugfahrt nach Berlin, im Anschluss noch Probe und Konzert. Als meine Kinder noch klein waren, war es noch schwieriger, das alles unter einen Hut zu kriegen. Ich habe dann versucht, so viel und so lange wie möglich zu Hause zu bleiben. Bei einem Konzert in Berlin hätte ich zum Beispiel den frühesten Flug am Morgen genommen und wäre um 4 Uhr aufgestanden, um den Tag zuvor noch Zuhause verbringen zu können. Seit zwei Monaten sind meine Kinder jetzt aus dem Haus, und ich versuche meine Einstellung zu ändern, reise einen Tag vorher an, um am nächsten Tag ein bisschen auszuschlafen. Aber mir gelingt das noch nicht richtig. Es gibt einfach diesen Mechanismus in meinem Kopf, der sich durch das Eltern-Sein eingeprägt hat: jeden Morgen um 6:00 aufstehen, Frühstück machen, die Kinder für die Schule fertig machen …  Selbst, wenn ich spät ins Bett gehe, wache ich heute noch früh auf und kann mich nicht entspannen. In meinem Inneren ruft es ›Steh auf, es gibt viel zu erledigen!‹. Aber das ist das letzte worüber ich klagen möchte. Es gibt genug Leute, die es schwerer haben. Ja, ich bin glücklich in meinem Leben. ¶