In der Stille hört man auch ferne Töne. Volker Hagedorn lauscht dem gallischen Barden Troubadix und kommt zu einer Neueinschätzung: Der Mann ist Avantgarde, und seine rituelle Fesselung durch die Dörfler spiegelt auch das gespannte Verhältnis zwischen der »Klassik« und vielen, denen sie wurscht ist…

Wer sich jeden Abend mit zwei Jungs ins Universum von Asterix begibt – als Betthupferl vorgelesen –, kommt nicht umhin, die eigene Urvertrautheit mit diesen Comics einer Revision zu unterziehen. Vieles erscheint jetzt fragwürdig bis zeitbedingt oder beides. In Asterix der Gallier von 1961 kommen Frauen überhaupt nicht vor, erstmals am Bankett teilnehmen dürfen sie in Das Geschenk Cäsars (1976), aber die Macht, die sie in diesem Band entfalten, wird letztlich als Zickenkrieg diskreditiert. Und dann die Gewaltbereitschaft! Schier unzählbar sind die Römer, die ohne Not brutal verdroschen werden.

Aber wie alle große Kunst halten auch die 24 Bände des Originalteams Goscinny und Uderzo alles, was drin ist, in vielschichtiger Balance, die tiefer blicken lässt, die den Interpretationen kein Ende setzt, und so habe ich nun Troubadix ganz neu für mich entdeckt, den Barden, der meist rituell gefesselt wird zum finalen Bankett, und niedergeschlagen, wenn er den Mund aufmacht. Jahrzehntelang bin ich Troubadix’ Mitbürgern in der Einschätzung gefolgt, dass der Mann nicht singen kann und auch als Komponist ein Totalausfall ist, dass es also letztlich ihr Kunstverstand ist, dem sich das Musizierverbot verdankt.

Doch 1966 (Asterix und die Normannen) verschlägt es einen jungen Mann aus Lutetia / Paris in das Dorf, Mitglied einer verwöhnten, gebildeten jeunesse dorée, mit den aktuellen Tendenzen der Künste vertraut und ausgestattet mit dem goût du risque (Risikofreude), nach dem er Goudurix bzw. Grautvornix heißt. Der Gesang des Barden begeistert ihn: »Ihr vergeudet hier eure Zeit!« Da mir inzwischen klargeworden war, welch grobe Schlägertypen die gallischen Dörfler sind, dachte ich: Hat der junge Mann nicht recht? Man könnte sagen, Troubadix ist Avantgarde, und die Dörfler raffen es halt nicht.

Ich würde noch weiter gehen. Sie sind grundsätzlich genervt von Musik, die über militärische Einsätze und Tanzvergnügen – für beides wird der Barde gebraucht – hinausgeht. Jeder kreative Ansatz ist für sie Anlass, den einzigen Gewaltfreien im Dorf (der Wunderwaffenlieferant Miraculix ist kein Pazifist) niederzuschlagen und ihn mit der rituellen Fesselung zu demütigen. Vertreiben wollen sie ihn nicht – es gehört sich nun mal, sich einen Barden zu halten.

Darin spiegelt sich ein bisschen das Verhältnis zwischen der »Klassik« –  also der komponierten, nichtkommerziellen Musik und ihrer Interpret:innen – und dem größeren Teil der Gesellschaft ab etwa 1960. Im Schatten des Pop wurde die »Klassik« zur »E-Musik« mit Festungen der Tradition und Abenteurern am Rande, die ihre Instrumente verstimmten, um entweder Alte oder Neue Musik zu machen. Sie alle existierten in Europa dank öffentlicher Zuwendungen. Ihre Stars wurden zwar auch von einer breiteren Öffentlichkeit bestaunt, aber für die meisten Leute war es »E« wie ernst, elitär, für Eingeweihte – und blieb es.

Obwohl zuletzt mit rund 13 Millionen Besucher:innen allein schon die Tariforchester auf gleicher Höhe mit der Fußball-Bundesliga rangierten, ist »Klassik« noch immer ein Distinktionsbegriff in Bekanntschaftsanzeigen, noch immer eingespannt in Rituale und Codes, die mit der Musik selbst nicht viel zu tun haben. Oh, das pikierte Lächeln der Kundigen, wenn andere zwischen den Sätzen klatschen! Bis vor gut 100 Jahren kam es einer Missfallenskundgebung gleich, wenn nach einem Satz nicht applaudiert wurde… Die neue kommerzielle Streamingplattform takt1 bewirbt Klassik mit dem Hinweis, sie werde »ohne Dünkel« kuratiert, und bedient damit noch die Hochmutslegende.

Seit 20 Jahren wird mit gigantischem Aufwand von Vermittlungsarbeit die »Schwelle« zum »Musentempel« flachgehobelt, die doch auch eine Delle im kollektiven Kulturbewusstsein ist. Eine Menge Leute will von einer Menge Musik nun mal nichts wissen – ist das so schlimm? Ich stehe ja auch zu meiner Fußballignoranz (wobei die dank der U-11-Mannschaft für Dorfkinder gerade ins Wanken gerät). Aber von allen Branchen, die nicht dem nackten Überleben dienen, sieht sich nur die Klassik unter Rechtfertigungsdruck – ein erfolgreicher Barde wie Ian Bostridge sieht sie daher im »Dauerkrisenmodus«. Sein Kollege Troubadix heißt eigentlich Assurancetourix, nach der »assurance tous risques«, und eine Vollkaskoversicherung braucht er auch, für beschädigte Instrumente, Auftrittsverbot und Körperverletzung – muss er doch schon froh sein, wenn ihn die Banausen nur ab und an verprügeln für seinen individualistischen Hochmut. Und bei besonderen Gelegenheiten gründlich zum Schweigen bringen.

Warum Troubadix immer missverstanden wird und was wir von ihm lernen können. Volker Hagedorn mit einer Neueinschätzung in @vanmusik.

Vielleicht sollten die Dörfler und ihr Barde, die Gesellschaft und ihre Musiker, sich doch mal klarmachen, wie es zwischen ihnen steht. Vielleicht etwas weniger Verschnupftheit hier und etwas weniger Verbocktheit da – und ein paar Plätze mehr in den hygienisch reduzierten Parketts, für Quereinsteiger. Eines übrigens haben die amusischen Gallier ihrem Barden immer garantiert, egal ob und wie er sang und in die Saiten griff: ein Leben ohne Existenzangst. ¶

…lebt als Buchautor, Journalist und Musiker in Norddeutschland. Er studierte Viola in Hannover, war Feuilletonredakteur in Hannover und Leipzig und ist seit 1996 selbstständig als Autor u.a. für ZEIT und Deutschlandfunk. Im Rowohlt Verlag erschienen von ihm »Bachs Welt« (2016) und »Der Klang von Paris« (2019). Sein neues Buch »Flammen. Eine europäische Musikerzählung 1900–1918« erscheint im April 2022.