In den 1980er Jahren erschienen in ernstzunehmenden Medizin-Fachzeitschriften eine Hand voll Publikationen, in denen Wolfgang Amadeus Mozart mit dem Gilles-de-la-Tourette-Syndrom in Verbindung gebracht wurde; mit einer Erkrankung also, der in den letzten zwei Jahrzehnten – primär durch entsprechende thematische Spielfilme und Dokumentationen – durchaus so etwas wie »gesellschaftliche Präsenz« zuteil wurde.

Den »Nachweis« bezüglich des vermeintlich posthum diagnostizierten Tourette-Syndroms Mozarts versuchte man nicht etwa anhand von dessen schweinischem Kanon Leck mich im Arsch oder Ähnlichem zu erbringen, sondern mittels der Lektüre der Briefe an seine – »Bäsle« genannte – Cousine Maria Anna Thekla Mozart. In den »Bäsle-Briefen« verwendet der Komponist bisweilen derbe Worte aus dem Themengebiet »Ausscheidungen«, was – nach Ansicht der damals publizierenden Wissenschaftler:innen – auf das Tourette-Symptom der »Koprolalie« (dem häufigen Aussprechen obszöner Worte für Verdauungsvorgänge und Co. bei Betroffenen) verweisen könnte; außerdem zog man anekdotische Schilderungen hinzu, nach denen der junge Mozart plötzlich Katzenlaute am Cembalo ausstieß: ein vorgeblicher Hinweis auf ein weiteres Symptom der Tourette-Erkrankung, nämlich dem der »vokalen Tics«.

Einen Menschen anhand von Briefen und anekdotischen Überlieferungen mehr als zweihundert Jahre nach seinem Tod zu »diagnostizieren«, ist selbstverständlich schwierig bis unseriös. Psychiater:innen und andere Mediziner:innen wollten wohlmöglich außerhalb ihrer Medizin-Bubble an dem biographisch spannungsvollen »Gegenstand« Mozart – vielleicht auch auf der Welle des Erfolgs von Miloš Formans Film Amadeus (1984) mitsurfend – partizipieren. Doch, das lässt sich kaum leugnen, ein Mensch mit einer wirklich schweren Form von Tourette wäre damals schlichtweg weggesperrt worden – und hätte nicht an diversen Höfen, an denen ein Mindestmaß an Benehmen Voraussetzung war, als Künstler reüssiert.

Häufig geht mit der Tourette-Erkrankung eine ADHS-Symptomatik – also Sprunghaftigkeit, Impulsivität, Konzentrationsschwäche und so weiter – einher. Viel spannender wäre es, wenn man – mit dem deutlichen a-priori-Eingeständnis eines absolut spekulativen Experiments! – ein potentielles ADHS anhand der Musik Mozarts versuchen würde zu exemplifizieren.

Wenn für diesen waghalsigen Versuch ein Mozart-Werk infrage kommt, dann wohl dessen 1783 in Wien (oder Salzburg, man weiß es nicht genau…) komponierte zwölfte Sonate für Klavier F-Dur KV 332.

Das Werk (die folgenden Notenbeispiele wurden aus der kostenlos zugänglichen Neuen Mozart-Ausgabe entnommen, in der sich auch der kritische Bericht findet) beginnt mit einem »absichtlich untertriebenen« ersten Thema, unter dem ein Alberti-Bass gesetzt wurde.

Das kann Mozart nicht ernst gemeint haben: ein wenig einprägsamer F-Dur-Dreiklangsausschnitt als Hauptbestandteil der »Melodie«, der spröde »Orgelpunkt« f am Fuße einer (schon damals nicht ganz unabgegriffenen) Ausprägung der Tasteninstrumentsbegleitung – und vor allem die Eintrübung, die Schwächung der Grundtonart F-Dur durch die Septe – ein Joke, den sich Beethoven 16 Jahre später (1799) gleich mit dem ersten Akkord der ersten Symphonie erlaubte – deuten ganz klar auf Mozartsches Understatement hin, zumal er dieses graumäusige Thema nur noch ein einziges Mal später auftauchen lässt. Mozart »spart« – und tut so, als wäre er ein schlechter Komponist. Das ist sehr witzig.

Ein paar Takte später erklingt folgendes schöne Ereignis…

Eine orchestrale Stelle. Hier schwingt der Klang von Holzbläsern und Hörnern mit, nicht nur mittels der charakteristischen Horn-Quinten, sondern durch Lage, Machart und Einfachheit der Setzung. Aber das kann – aus Sicht derjenigen, die stets nur versuchen, Musik in Sonatenhauptsatzformenschemata mit erstem und zweitem Thema zu pressen – kaum das zweite Thema sein. Denn das »müsste« in der Paralleltonart (C-Dur) stehen. Mozart feiert hier aber F-Dur ab – und außerdem käme ein zweites Thema an dieser Stelle völlig verfrüht. Für das Downgrading »Überleitung« ist dieser Mozart-Einfall – jedenfalls für das Gefühl des Autors dieser Zeilen – wiederum viel zu schade.

Wenige Takte später steht schon fast ein bisschen Der Hölle Rache ganz d-Mollig im Raum…

Ein d-Moll-Drängen nach oben, eine Anschleifung an einen ganzverminderten Septakkord. Doch wir hören es wie aus dem Munde unserer einstigen Musiktheorie-Lehrer:innen: »Das ist nur eine Überleitung!«

Wenige schöne Momente später stellt sich nun ein schlanker, graziler, leicht vorgeschlagener und dennoch – durch den Einbau subtiler Vorhalte – süß-schmerzvoller C-Dur-Moment ein…

Hier schellt es bei konservativ Analysierenden: richtige Tonart, richtiger Moment, richtiger Hygiene-Abstand zum ersten Thema. »Das ist das zweite Thema.«

Bald folgt eine Überleitung, die sich im Verlaufe des ersten Satzes zu herzzerreißend wütenden Sequenzen mit überraschenden, dissonant angereicherten Laut-Leise-Kontrasten erstaunlich episch ausweiten wird.

Ein weiterer Einfall – das gefühlt fünfte Thema auf engstem Terrain – erklingt dann wieder in der Grundtonart…

Wie großzügig kann ein Mensch sein, uns mit so vielen schönen Ideen in so kurzer Zeit zu beschenken?

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Wie immer ein bisschen drängend und sehr gesanglich verinnerlicht nimmt Artur Schnabel (1946/47) das sogleich in eine imitatorische Kontrapunkt-Situation überführte »erste Thema«. Ein kleines Crescendo – das so auch notiert ist – bringt Spannung in die eher kindlich-naive Gesamtsituation mit hinein. Anlässlich unserer Holzbläser-Stelle kurbelt Schnabel einen Hauch im Tempo zurück, feiert diesen Augenblick – in einem klanglich erfüllten »Piano«. Gute alte Schule. Denn früher war es noch viel mehr Usus der pianierenden Welt, durch Mini-Tempo-Veränderungen zu gewichten, fast unmerklich zu dramatisieren. Und so kassiert Schnabel die tempoentschleunigte Veredlung des Holzbläser-Moments durch anschließende Beschleunigung bei den bald figurierenden 16teln. Da, wo du leicht stagnierst, da musst du auch wieder Saft geben. Yin und Yang. Fix und Foxi. Tick, Trick (und Track!).

Die d-Moll-Einbruch-Stelle versteht Schnabel völlig unironisch. Gut so! Die 16tel-Läufe schmiert er – ganz typisch für ihn – hinunter. Das klingelt fast zu schnell vorbei. Überhaupt scheint hier die – sonst immer wieder aufregende – Hektik Schnabels ästhetisch vielleicht nicht ganz angebracht zu sein. Vermeintlich thematische Ereignisse kostet er jedoch auch im weiteren Verlauf des Ganzen aus. Erstaunlich trocken dann die ausgeweiteten, synkopierten Schmerz-Sequenzen, die quasi spätere Don-Giovanni-Dunkelheiten antizipieren. Da dürfte Schnabel sich mehr in die Tastatur »eingraben« – rein in den Schmerz, hinein in die Dissonanzen. So würde aus der in der Durchführung erstaunlich ausgeweiteten Liebestodesschmerzschreckensstelle ein Schuh. Schauen und hören wir uns die Stelle noch (nachgereicht) an…

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Mitsuko Uchida (1984) bringt viel mehr Gleichgewicht und Befriedung. Fast spitzmündig und niedlich werden die Abphrasierungsklänge in den Takten 11 und 12 kindlich dahinstolziert. Tupfend und ebenfalls mit dem Anschein des Besonderen erklingen die Holzbläser-Imitationen. Blockhaft und trotzig – aber alles ein bisschen brav – schallert dann der d-Moll-Ausbruch aufs Parkett. Uchida tritt dabei viel weniger aufs Pedal als Schnabel. Das ist alles ganz sauber und rein. Doch aufregender sollte es sein! Das Staccato Uchidas macht Spaß, ist aber viel zu unfrech. Das lächelnde Exerzieren der vielen Mozartschen Einfälle führt hier viel zu sehr zu einer Hörhaltung, die das Ganze für selbstverständlich nimmt; Einzelmoment an Einzelmoment; eine Staccato-Tupf-Perlkette der Langeweile. Nie war »geschmackvoll« so langweilig wie heute, zumal das momenthafte Verharren an wenigen Stellen des ersten Satzes – ganz im Gegensatz zu Schnabel – bei Uchida tatsächlich zum Kitsch wird. Schnabel öffnet viel mehr Vorhänge, nimmt sechsmal so viel Pedal wie Uchida; und doch ist sie es, die zu viel harmlose Puppenstube mit ins Bild setzt. Ich denke ein bisschen an Brendel, denn Uchida klingt wie er. Langweilig.

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Und tatsächlich tönt Alfred Brendels im Jahre 2000 aufgenommener Mozart… anders! Aber irgendwie ganz schön schief gewickelt, wie Brendel tatsächlich versucht, aus dem ersten (Nicht-)Thema etwas »herauszuholen«. Eine Steigerung gleich hier – und so viel Gewicht, Mister Brendel, seriously? Die Schlusswendung des ersten Themas crescendiert Brendel nicht (wie von Mozart notiert), sondern geht zu Beginn von Takt 12 ins Pianissimo. Das müsste »Forte« sein. Aber nein, Brendel bereitet so das »Piano« der besagten Holzbläser-Mini-Fanfaren-Idylle vor. Die potentielle Kontrastwirkung wird völlig verschenkt. Warum muss ausgerechnet die Musik dieses Komponisten geglättet werden?

Brendel lässt die Zügel beim vermeintlichen Holzbläser-»Übergang« schleifen, nimmt das Tempo völlig raus. Das ist interessant in dieser Radikalität, aber es zieht dieser Stelle auch total den Zahn. Die Takte wirken buchstabiert. Als würde einem Kind, dem elterlich passiv-aggressiv vorgelesen wird, das Schreiben nach Diktat beigebracht. Ganz seriös schneien dann die Mannheimer d-Moll-Raketen ins Hör-Aquarium der Langeweile. Goldfische – mehr nicht. Und Trockenfutter schließlich angesichts der Synkopen-Takte. Fast ein bisschen schlimm wird es sogar bei der etwas stokelig komponierten Schlussgruppe kurz vor Ende der Exposition; Oktaven stehen – aber irgendwie auch aufregend plump – plötzlich auf der »Zwei« und bringen ein Sforzato mit zur Baumarktseröffnung. Brendel holzt diese Oktaven ins Elfenbein als wolle er uns darüber aufklären, dass das vielleicht nicht sehr pianistisch komponiert ist; vielmehr wäre das Bekenntnis zur Opernouvertüren-Dramatik vonnöten.

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Richard Fuller (2001) spielt die Sonate auf einem zeitgenössischen Fortepiano. Er liefert zunächst einmal weder kleine Ritardandi noch angetriebene Accelerandi ab. Das schnurrt extrem gerade im Metrum herunter. Und erzählt diese ungewöhnliche Geschichte von kleinteiligen Ereignissen bisher im Vergleich am besten! Da wird nichts beschönigt, sondern eher gegen Phrasenende mit lakonischem Humor weggeräumt. So entsteht tatsächlich der viel zu häufig beschworene – und selten genau beschriebene – »große Bogen«. Fuller vertraut einfach auf den Notentext, macht fast stur genau das, was in der Partitur steht – und so stellt sich der Bogen von ganz alleine ein. Man wird Betrachter:in des ganzen Geschehens – fast ohne persönlichen Kommentar des Vorlesers. Der »Bogen« entsteht durch die Mozartsche Erzählung an sich. Da ist schon genug Geschichte und genug Buntheit per se drinne!

Furztrocken eckt dann Fuller auch die cis-d-Oktave zu Beginn des »Forte«-Teils in d-Moll in die summende-brummende Nussschale seines historisch informierten Instrumentariums, geht leicht nach vorne (ein Verweilen wäre hier nun auch wirklich fatal blöd) – und bringt Drive hinein. Kurz schnellt er dynamisch zurück, bringt ein leises »Halt!« mit in den Mini-Drama-Reigen hinein. So spult sich die Sonate nicht einfach ready-made-mäßig ab, sondern wir werden zum Zuhören motiviert, ermuntert, liebevoll pieksig angestachelt. Dreist schlicht, aber toll!

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Andreas Staier (2005) spielt diesen Mozart ebenfalls auf einem historischen Instrument, doch klingt dieses viel droppiger, wuppiger, genoppter – und obertonreicher. Die ja eigentlich scheinbar nicht richtig »geniale« Überleitung der Takte 5 bis 8 kommt so ganz zu sich selbst. Auf dem richtigen (!) historischen Instrument wird erst klar, wie Mozart diese Stelle »gemeint« haben könnte. (Bitte, wir wollen uns natürlich nicht dem gläserrückigen Nachbeten potentieller »Komponistenintentionen« hingeben, schließlich gab es den poststrukturalistischen »Tod des Autors« in der Musikwissenschaft scheinbar bis heute nicht!) »Gemeint« ist nämlich eine ganz höhere Art von Humor. Mozart macht sich hier möglicherweise – wie in seinem vier Jahre nach der Sonate entstandenen Musikalischen Spaß KV 522 (1787) – über schlechte Komponisten lustig. Diese »gelehrsame« Art der sofortigen Imitation, alles etwas klobig und mit einem scheinschönen Triller in der Mittelstimme versehen… Das wird erst in der intentional topfigen Staier-Interpretation so richtig schön vorgeführt.

Auch den besagten ersten Phrasenabschluss des ersten Themenkomplexes plumpst Staier so weg, wie es in der Neuen Mozart-Ausgabe vermerkt ist. Ebenfalls als Scherz. Denn Mozart hat diese Takte sehr wahrscheinlich binnen Sekunden aufs Papier gekritzelt: »Erst einmal bescheuert anfangen, dann schauen wir weiter!« Staier spielt mit den Sonaten-Ereignissen – und nimmt beispielsweise die letzte auftaktige Abschlusssenke von Takt 21 zu Takt 22 verzögert. Er betont den Witz an der richtigen Stelle. Und wieder hören wir (gerne) zu!

Von eigentlich unbegreiflicher Schönheit ist der zweite Satz (Adagio), der im Grunde singend dargeboten werden könnte. Das poetische Prinzip des Dreifachen, das nicht zuletzt in Goethes Faust I plakativ Verwendung findet (Mephisto: »Du musst es dreimal sagen!«) wird hier musikalisch gut nachvollziehbar vorgeführt: Der erste Takt enthält die erste Geste in Form der Melodie des Hauptthemas, der zweite Takt bringt auf anderer Stufe seine Variation, bis schließlich die Takte 3 und 4 die »Synthese« formulieren. Aber fuck it, Theorie beiseite: Dieser Satz gehört zu den schönsten langsamen Mozart-Sätzen überhaupt. (Allein der Moment, in dem Mozart in Takt 5 das Dur-Thema stante pede einfach in Moll ertönen, weinen, kindlich singen lässt… Unersetzbar.)

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Artur Schnabel hält sich nicht zurück. Kleine Rubati nimmt er auf dem Weg mit. Doch die Verzierungen wirken etwas zu explizit herausgeschält. Hier wäre mehr Naivität schön. Irgendwie. Toll dunkelt er die Moll-Stelle ein, doch eher im störrisch-wütenden Sinne, weniger als wirkliche, hereinbrechende Herbst-Trauer. Fast wird es manchmal zu viel; Mozart wird zu einem Chopin mit wenig Pedal.

Auch in diesem Satz gibt es einen »d-Moll-Einbruch«, nämlich in Takt 16. Super romantisch phrasiert Schnabel die Klänge kurz zuvor ab. Doch der Einbruch selbst wird etwas klotzig verschenkt, die Oktav-Vorschläge prallen zu flink zur Ober-Oktave hin ab. Ich will hier sublime, zärtliche Wut hören, nicht nur einfach »irgendwas mit Forte«! (Seien wir ehrlich: Die langsamen Sätze der Sonaten Mozarts und Beethovens waren nie die Stärke Schnabels.)

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Mitsuko Uchida nimmt ein deutlich schnelleres Tempo für das Adagio. Oh, wie fein und geschmackvoll sie Mozart spielen kann. Doch der Alberti-Bass labert mir unten viel zu viel herum. Uchida baut zudem Crescendi ein, die erstens nicht dastehen und zweitens fehl am Platze sind. Weder klassisch, noch (aber eher schon) romantisch, ein bisschen wie ein hilfloser Schubert. Aber das kann es nicht sein! Die krasse Moll-Sept-Wendung bei gleichzeitigem C7 in der Mitte von Takt 8, die sich kindlich-herzzerreißend nach F-Dur wendet, wird weggeatmet als handele es sich um eine eher totzuschweigende Verstimmung eines Individuums, das wir an den Rand der Gesellschaft verbannt haben. (Besonders nervig diktiert uns Uchida dann die – besser »quasi improvisando«, wie aus dem Ärmel der Lieblichkeit geschüttelt zu musizierenden – Terzketten; diese ominösen Gase, die angeblich für den Gähn-Reflex zuständig sind, breiten sich im Raum aus. Und jetzt musst auch du gähnen, liebe:r Leser:in! (An diesem Text kann es nicht liegen!)

Der besagte d-Moll-Einbruch dämmert bei Uchida mehr oder weniger unbesehen an uns vorbei. Wieder dieser unerquickliche Chopin-Schubert-Clementi-Mix. Kinder, spielt diesen Sonatensatz doch endlich mal so, als entstünde er jetzt, in diesem verdammten Augenblick!

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Fast so schrecklich wie Friedrich Gulda (den wir – besser ist das! – auslassen und noch nicht einmal verlinken!) klöppelt Alfred Brendel diesen wunderschönen Adagio-Gesang unseres Lieblingssalzburgers (noch vor Thomas Bernhard) in die (viel zu) wohlgestimmten/wohlgesinnten Tasten. Der erste Ton wird sogleich – why? – markiert; und auch die folgenden Ereignisse erscheinen abgezählt wie ein tumber Kinderreim. Ene, mene, muh und… Hauptsache deutlich und korrekt. (Ich habe nie verstanden, warum Brendel so berühmt wurde. Ich kann es mir nur mit einem gewissen – an »Genauigkeit« interessierten – österreichischem Deutschtum der Zuschauer:innenschaft erklären.)

Bei der b-Moll-Wendung wird Brendels Klang noch härter. Und statt den Tupfertönen »Kindlichkeit« angedeihen zu lassen, nimmt er das Tempo zurück. Hier wird der falsche Vorhang geöffnet. Ein Vorhang der Ratlosigkeit. Und der – eigentlich ziemlich plötzliche – d-Moll-Akt wird bei Brendel etwas mehr ins Pedal genommen und noch einmal im Klang verstärkt. Keine Farbänderung, keine wirkliche Emotion, die bei mir ankäme.

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Zu Akzenten neigt irgendwie auch Richard Fuller. Diese geraten allerdings eher als Intensivierung ins Ohr. Die Farbveränderung anlässlich des b-Molls ist nur ein (tatsächlich: silbriger) Schatten. Wie macht er das? (Keine Ahnung.) Wieder lässt Fuller Mozart einfach »stattfinden« – und bei der beschriebenen Terz-Kette wirkt Fuller plötzlich »sauer«, bringt den vom Komponisten verzeichneten Akzent – und schon wird eine Geschichte draus.

Irritierend – aber immerhin! – belässt Fuller das hier schon längst nicht mehr als »Einbruch« zu bezeichnende d-Moll-»Aufkommen« in der Dynamik der Satzverläufe von zuvor, ja, nimmt sogar gefühlt ein Register weg. Dafür schlängelt er sich ganz schön durch diese Stelle des beklagenden Aufbegehrens. Fullers Vorteil ist, dass er fast nichts an Interpretation bringt. Das ist zugleich aber auch sein Nachteil. Unter den historisch Informierten ist er somit gleichsam austauschbar.

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Also muss Andreas Staier helfen und retten. Zunächst fällt dabei seine Tempo-Gestaltung auf, die einer historischen Lesart (nach der langsame Sätze eher schneller und schnelle Sätze eher langsamer als heute zu nehmen sind) gehorcht. Aus dem Adagio wird ein Andante con (aber sowas von) moto.

Doch mit was für einer schönen – und dabei ganz galanten – Moll-Einfärbung Staier uns im fünften Takt beschenkt! Auch anschließende Mini-Steigerungen klingen sonor, überzeugend und – endlich – »quasi aus der Lameng heraus« erfunden. Dazu tragen auch Staiers Akkordbrechungen bei.

Bei »unserem« d-Moll-Einbruch geht Staier nach vorne, forciert im Sinne einer wirklichen Emotion; für meinen Geschmack fast noch zu zurückhaltend, aber um Einiges aufregender als alle hier besprochenen Interpret:innen. Die (kleine) Sau lässt Staier erst im Folgenden heraus; sehr gut anhörbar – und nie langweilig.

Nach dem Adagio, das nun wirklich feine Überraschungen und virtuose Koloraturen bereithält, wirkt das Finale (Allegro assai) anfangs fast wirklich ein wenig »flach«. Dass Mozart aber auch hier der Schalk im Nacken sitzt, erfahren wir zunächst »zwischen den Zeilen«, spätestens aber am Schluss dieser so emphatisch inspirierten Sonate. Was für ein tolles Stück!

Ganz komisch krumig tatzt der – als witziger Schockakkord geborene – »Forte«-Klang der linken Hand bei Schnabel zu Beginn dahin. (Wieder kommt Don Giovanni zur Tür herein – und treibt seine bösen Scherze…) Muss wohl an der Aufnahmetechnik oder so damals gelegen haben. Schnabel glitscht über die Tasten, lässt Einiges auf dem Weg der lustigen Erregung liegen, doch: Who am I to judge so etwas Aufregendes?

Elegant ist das nie, was Schnabel macht. Aber das spritzt und prickelt so schön, wenn die 16teln wegprasseln wie ein Mineralwasserglas mit zu viel Kohlensäure, das man sich als Kind – vom Spielen im Sommer draußen kommend – zu schnell hinter die Binde goss. Schnabel spielt sich in einen 16tel-Rausch hinein – und das ist radebrechend witzig und toll!

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Uchida spielt das Finale… Ja, wie soll ich sagen? Okay. Manche Vorhalte hält sie ein wenig länger aus. Das ist ganz nett – und da bedanken wir uns mit einem leichten Knicks; gehen aber völlig unbeeindruckt nach Hause; wie nach einem okayen Film, den wir uns im Kino reinziehen, nur, um – Zuhause angekommen – noch einmal etwas wirklich Spannendes anzuknipsen.

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Brendel stampft ganz schön bassig los. Den zweiten Akkord scheint er dann zu arpeggieren. Wow, was für eine Abwechslung. Super unlustig, wie Brendel – der gewitzt durch die Brille lugende Intellektuelle, der auch ganz ganz tolle »Anekdoten« vorlesen konnte – dann die Zwischenpointen Mozarts vordiktiert, als würde uns jemand im Restaurant mit Loriot-Sketch-Nacherzählungen, die nur noch unsere Großeltern lustig fanden, totnerven. Buh, Boomer!

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Fuller zirpt sich angenehm lustig den Wolf, drückt mir aber bei den punktierten »Forte«-Einschub-Vierteln der Takte 36 bis 38 zu sehr auf die Bremse. Das darf er ja machen, wenn er danach ein 16tel-Wirbelspiel mit Gewinn beginnen würde. Letztlich ist Fullers Aufnahme dann doch zu akademisch. Schade.

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Staier arpeggiert den Anfangsakkord. Das ist natürlich übliche Praxis und stört mich überhaupt nicht, wenn auch dadurch die mitgedachte Pranke ein wenig sanft-pfotig verflauscht. Das holt Staier durch gewiefte Lustigkeiten wieder ein. Bevor er den »Dolce«-Abschnitt angeht, der übrigens später in dem Sonatensatz sehr ulkig von Mozart rhythmisch verschoben wird (wieder ein »komponierter Fehler« sozusagen!), verzögert Staier hyperironisch den Eintritt eben jenes scheinbar harmlos wirkenden Abschnitts. Staier wiederholt – gemäß der Vorgabe – den Expositionsteil, wobei »wiederholt« ein zu kleines Wort für die schönen Ideen Staiers ist. Er nutzt die Wiederholung und macht beim zweiten Mal – als wäre es sonst »verboten«, oder was? – Dinge: anders; beispielsweise oktaviert er den Bass der Takte 5 und 6 und poltert sie sehr witzig und aufmüpfig heraus. So kommt die unsagbare Lebendigkeit dieser Sonate zu ihrem Recht!

KV 332 hören mit Artur Schnabel, Mitsuko Uchida, Alfred Brendel, Richard Fuller, Andreas Staier und @ArnoLuecker. In @vanmusik.

Meine abschließende Hör-Empfehlung lautet demnach: Schnabel und Staier. ¶

Arno Lücker

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.