Noch nie soll Musik so schön und kostbar gewesen sein wie jetzt, in Zeiten mangelnder Live-Präsenz. Wie stressig und widersprüchlich diese Kunst ist, fällt Volker Hagedorn auf, wenn er mit dem 11jährigen Frido Harfe übt. Auf dessen Frage, ob das sein muss, gibt es nämlich keine Antwort.

Nach den Ferien wird die Harfe wieder enthüllt. Natürlich ist in der Zeit eine Saite gerissen, das höchste d. Das passt Frido ganz gut, so kann er ja nicht üben! Auf Auftritte ist er auch nicht scharf, anders als abertausende von Musikerinnen und Musiker jetzt, nicht unbedingt anders als andere Kinder. Frido hat sich sein Instrument selbst ausgesucht. Aber das Üben schlaucht, das Notenlesen – besonders Harfenist:innen müssen dauernd auf ihre Finger gucken, und ihre Töne sind wie beim Klavier in zwei Systemen notiert, Violinschlüssel und Bassschlüssel. Ich verstehe schon, dass man es als anstrengend und nicht jederzeit als Quell der Freude empfinden kann, den Weg durch La Gimblette zu finden.

»Oh, wir haben Glück«, rufe ich ihm, der sich jetzt erstmal das neue Podcast von Paluten, seinem favorisierten Youtuber, anhören will, hinterher. »Hier ist noch eine d-Saite. Sogar doppelte Länge!« »Na toll«, sagt er gequält. Als er dann an der Harfe sitzt, ist er absolut sicher, das Stück von vor sechs Wochen nicht mehr spielen und auch nicht entziffern zu können. Ich spiele ihm den Anfang auf dem Klavier vor. »Erkennst du´s wieder?« »Nein.« Ohje. Na gut, erstmal nur die rechte Hand. Zweistimmig, ruhiger Dreier. Nachdem Frido die erste Terz gezupft hat, findet er sich zurecht. Oder die Finger erinnern sich. Die der linken Hand auch…  Und auf einmal sind schon acht Takte beisammen.

Manchmal bin ich ungeduldig mit ihm, anders als seine Lehrerin. Aber diesmal fällt mir ein, dass Kinder, die ein Instrument lernen und nicht zu den wenigen gehören, denen alles zufliegt, auch etwas von dem erleben, was für die ganze Musik gilt, vom Komponieren über das Proben bis zum Aufführen: Sie ist wahnsinnig anstrengend, für Kinder wie für erwachsene Profis. Darüber wird derzeit weniger gesprochen denn je. Viele Musiker:innen erzählen, was ihnen im Lockdown fehlt(e), worauf sie sich freuen, worauf sie hoffen. Allenthalben werden die spirituelle Kraft, das psychisch-physische Ereignis, das Wunder der Individualität in der Gruppe, ob Publikum oder Ensemble, beschworen.

Das stimmt ja alles, aber davon zehren auch die zähen Klischees von einer freudenvollen Kunst, deren Profis »das Hobby zum Beruf gemacht« haben, deren Urheber an den Schreibtischen der Selbstverwirklichung frönen oder der »himmlischen Kunst« dienen. Da droht die Verharmlosung einer oft nervenzerfetzenden Arbeit. Proben bescheren im Durchschnittsfall keineswegs nur Glück. Die Nähe zum immer gleichen Pultnachbarn und seinen Macken kann genauso stressen wie das scheindemokratische Ausdiskutieren von Phrasierungen. Oder eine Dirigentin, mit der man nicht klarkommt. Oder ein Stück, das lange beackert werden muss, bis es zum Leben erwacht – oder, wenn es bekannt ist, wiedererwacht, von ranzigen Rezeptionsfettschichten befreit.   

Zum Komponieren bemerkte der fast hundert Jahre alte Elliott Carter: »Wenn ich mir angucke, was das für eine Mühe macht, bin ich verblüfft, dass überhaupt jemand komponiert. Allein der Aufwand physischer Arbeit! Das ist nicht wie Schreiben, wie Literatur. Es ist, wie wenn man in einer Sprache etwas gut sagen will und buchstabieren, die man nicht sehr gut kennt.« Wohin man hört – es wird nicht weniger hart gearbeitet als in anderen harten Jobs.

Damit versuche ich Frido zu trösten, wenn er irgendwo hängenbleibt und am liebsten aufspringen möchte. »Das ist ganz normal! Auch erwachsene Musiker bleiben dauernd irgendwo hängen und basteln dann an den Stellen rum.« »Aber ich bin kein Musiker.« »Wenn du was kannst, klingt es wunderschön«, lenke ich ab. »Das dauert immer viel zu lange.« »Ach, Frido…«  Bei mir dauerte es sieben Jahre, bis es zum ersten Mal Spaß machte – im Schulorchester mit einer Bratsche. Mit meiner quiekenden Geige hatte ich es vorher nur ausgehalten, indem ich so wenig wie möglich übte, und ohne das Orchestererlebnis hätte ich mit vierzehn aufgehört und wäre Archäologe geworden, auch nicht verkehrt.

Die wenigsten Musiker:innen haben einen bruchlosen Weg hinter sich, ehe sie von der Kunst mehr oder weniger leben können – gerade weil die meisten so früh anfangen. Kinder von Profis haben immer die Option der Eltern im Kopf, es könnte ja ein Beruf werden. Und dann erfahren sie, wie Frido, dass die erwachsenen Musiker immer noch üben müssen! Hört das denn nie auf? Natürlich erzählt man ihnen nichts von möglichen Nebenwirkungen, von Sehnenscheidenentzündungen, Depressionen und Dystonien. Vom wahnsinnigen Erwartungsdruck, der jetzt die Geigerin Patricia Kopatchinskaja entnervt sagen ließ: »Perfektion blockiert das Leben in der Musik.«

Volker Hagedorn über die Verklärung einer oft nervenzerfetzenden Arbeit. In @vanmusik.

Die Profis üben sich also halb tot, um im Idealfall frei und lebendig zu sein. Den Kindern möchte man einen Horizont öffnen, der nur in qualvoll kleinen Schritten zu erreichen ist. Der Rest der Welt denkt sich, »ach, die schöne Musik«, stellt sich Musiker:innen grundsätzlich als Paradiesbewohner vor, soll aber auch die Abgründe der Kunst zur Kenntnis nehmen. Erst mit dem Applaus ist dann vorübergehend alles im Lot. Und jetzt? »Frido, das war total gut!« Er lächelt. »Magst du mal die zweite Variation probieren? Nur die rechte Hand?« Kämpfe ich hier vielleicht gegen meine eigenen Ratlosigkeiten gegenüber dieser sonderbaren Kunst? »Wenn du meinst…« Frido möchte gern Designer bei Ferrari werden. Auch nicht verkehrt, denkt der Archäologe in mir. ¶

…lebt als Buchautor, Journalist und Musiker in Norddeutschland. Er studierte Viola in Hannover, war Feuilletonredakteur in Hannover und Leipzig und ist seit 1996 selbstständig als Autor u.a. für ZEIT und Deutschlandfunk. Im Rowohlt Verlag erschienen von ihm »Bachs Welt« (2016) und »Der Klang von Paris« (2019). Sein neues Buch »Flammen. Eine europäische Musikerzählung 1900–1918« erscheint im April 2022.