So gut passte selten ein Deckel auf einen Topf, ein Konzerthaus zum Musikleben einer Stadt. Endlich hat München sich entschieden. Naja, nicht ganz München, sondern eine rund 90 Personen umfassende Jury wünscht es, dass der seit langem von wirklich vielen Münchenern ersehnte neue Konzertbau aussehen soll wie ein riesiger gläserner Sarkophag, 45 Meter hochragend auf einem Handtuchgrundstück von 3500 Quadratmetern. Natürlich muss man das, was das österreichische Architekturbüro Cukrowicz Nachbaur entworfen hat, nicht Sarkophag nennen. Wenige Tage nach Vorstellung des Siegerentwurfs kursieren auch die Umschreibungen Panettoneschachtel, Schneewittchensarg, Heuschober; die Süddeutsche Zeitung hat sich für Kathedrale entschieden.

Auch eine gute Wahl. Eine Kathedrale ist ja genau das, was der Musikbetrieb braucht. Ein Gebäude, in dem mit erhöhter Autorität, in gefestigtem Ritual und aus kanonisierten Schriften eine Gemeinde ihre Heilsverheißung vernimmt. All das wird im Münchener Musikleben schon lange vorbildlich realisiert, nur fehlte dafür bis jetzt eine ordentliche Kathedrale. Die kanonisierten Schriften sind hier die sinfonischen Werke des 19. Jahrhunderts von Beethoven über Brahms bis Bruckner, und man kann sie gar nicht oft genug hören. Das Münchener Kulturzentrum Gasteig, ein drei Jahrzehnte alter Bau, den Leonard Bernstein beizeiten niederzubrennen empfahl, ist eine Arena der Repertoireschlachtrösser, die hier so oft gesattelt werden wie in keiner anderen Philharmonie.

Gerade mal sieben von 145 Werken in den aktuellen Programmen der hier auftretenden Orchester wurden ab 1967 komponiert. Die Moderne bleibt damit unterhalb der Fünf-Prozent-Hürde, und selbst beim dominanten 19. Jahrhundert hat ein Freak wie Berlioz keine Chance, ebenso wie sein Freund Mendelssohn. Kein Platz mehr! München besitzt nämlich zwei hochklassige Orchester, das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks und die Münchner Philharmoniker, die beide gern dasselbe spielen, in dieser Saison etwa Beethovens Fünftes Klavierkonzert sowie Bruckners Vierte und Achte. Auch die Münchner Symphoniker und zahlreiche Gastorchester schätzen die Stallwärme der Überschaubarkeit und sichern Doppelangebote von u.a. Bruckners Siebter, Brahms´ Violinkonzert und, ja doch, vier Mal Bernsteins Westside Story.

Am Rand dieser Arena schnappen aschfahl ein paar Werke nach Luft, die nicht schon jeder mitsummen kann, etwa Hindemiths Metamorphosen und Martinůs Cellokonzert. Man wird solche Outsider einer strengen Prüfung unterziehen müssen, wenn die Orchester Münchens und der weiten Welt in die Kathedrale oder den Sarkophag eingelassen werden, in dem Musik vor der ihr eigenen Neigung geschützt ist, sich zu entwickeln oder gar ihre Hörer auf neue Gedanken zu bringen. Nun hat selbst der begeisterte Architekturkritiker der Süddeutschen moniert, das Erdgeschoss sei »als Sockel für den riesigen Glassturz doch etwas niedrig geraten«, zudem könne man das dicht umbaute Grundstück »nur über enge Tunnel« erreichen. Aber das ist doch großartig! Der Tunneleffekt bewährt sich ja bereits in der Elbphilharmonie, wo man wie durch einen purgierenden Darmtrakt auf dem Laufband lichte Höhen erreicht.

Und der geradezu plattgedrückte Eingangssockel in München macht die Menschen so klein, wie es sich im Angesicht der Ewigkeit gehört, für die im Zuge der Säkularisierung die Sinfoniker des 19. Jahrhunderts zuständig wurden. Nun könnte man immer noch befürchten, dass eine gläserne Hülle durch ihre Transparenz recht zugänglich, um nicht zu sagen demokratisch wirkt, wie etwa der vor sechs Jahren in Helsinki eröffnete Konzertbau »Musiikitalo«, der entspannt aus quadrigen Elementen gefügt ist, sein Volumen eher verbirgt als ausstellt und sogar mit nassen Stiefeln betreten werden darf. (Oder das von Ólafur Eliasson entworfene Konzerthaus Harpa in Reykjavík, d.Red.) Dieses Risiko wird mit dem Münchener Entwurf ausgeschlossen, auch wenn da pflichtgemäß die soziale Durchlässigkeit des Projekts beschworen wird. Ein fugenloser, spiegelglatter Schrein wie dieser signalisiert Exklusivität im Wortsinn.

In München wird die Klassik eingesargt. Volker Hagedorn in @vanmusik über das geplante neue Konzerthaus.

Klar, dass das mehr kostet als die 190 Millionen Euro in Helsinki, oder die 114 Millionen für die zwölf Jahre junge, nicht ganz so große Philharmonie in Luxembourg, ganz zu schweigen von den 38 Millionen, die für das neue Musikzentrum in Bochum genügten. Die Elbphilharmonie hat da ganz andere Maßstäbe gesetzt, neben denen mutmaßliche 300 Millionen Euro für den Münchener Neubau fast etwas zu bescheiden wirken. Da aber in der Jury auch Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer nebst zwei Ministern für den pharaonischen Bau stimmte und 2018 eine Landtagswahl ansteht, gibt es bestimmt noch Luft nach oben. Solange es nur nicht »die Luft von anderem Planeten« ist, die seit 1908 so beunruhigend durch die Musik weht!

Naja, vielleicht darf Schönbergs Zweites Streichquartett auch mal im Kammermusiksaal unter dem 1800-Plätze-Konzertsaal gespielt werden. Für alles, was darüber hinausweht, gibt es in München seit gut 70 Jahren die Reihe »Musica viva«. Wenn da nagelneue Stücke von Rebecca Saunders oder Helmut Lachenmann gespielt werden, bleiben die Freaks im Herkulessaal schön unter sich. Der neue Sarkophag sieht nicht so aus, als solle sich das ändern. ¶

…lebt als Buchautor, Journalist und Musiker in Norddeutschland. Er studierte Viola in Hannover, war Feuilletonredakteur in Hannover und Leipzig und ist seit 1996 selbstständig als Autor u.a. für ZEIT und Deutschlandfunk. Im Rowohlt Verlag erschienen von ihm »Bachs Welt« (2016) und »Der Klang von Paris« (2019). Sein neues Buch »Flammen. Eine europäische Musikerzählung 1900–1918« erscheint im April 2022.