Bayreuth fällt aus, und Streaming ist große Mode? Alles schon mal dagewesen, nur anders. Volker Hagedorn wirft einen Blick ins Jahr 1913, entdeckt die neueste Technik, skeptische Politiker, ein Sommerloch mit Pfannkuchen und einen französischen Schriftsteller, der ohne confinement zu Hause bleibt.

Streaming kann süchtig machen. Als Marcel Proust, 39 Jahre alt, wegen diverser Leiden meist daheim auf der Chaiselongue bleibend und schreibend, am 21. Februar 1911 eine Liveübertragung aus der Opéra-Comique hört, erwischt es ihn. Pelléas et Mélisande von Claude Debussy sei eine Offenbarung, bekennt er einem Freund. Fortan verpasst er keine Übertragung dieser Oper, auch keine seines Lieblingswerks Tristan und Isolde. Das wird am 21. Mai 1913 sogar aus Paris nach London übertragen. Hallo? Streaming, vor dem Ersten Weltkrieg? Natürlich nannte man es nicht so. Und dass 1913 die Bayreuther Festspiele abgesagt wurden, hatte keine gesundheitlichen Gründe. Doch sind die Parallelen zu unseren Tagen zu verblüffend, um ihnen nicht nachzugehen.

Gestreamt wird in der späten »belle époque« nicht aus der Konserve, auch wenn sich schon zehntausende Schellackplatten drehen, mit drei Minuten Musik pro Seite. Es sind ausführliche Liveübertragungen im Telefonnetz, in Paris 1881 erstmals vorgestellt, ab 1890 kommerziell betrieben als »Théâtrophone«.  Die Signale der am Bühnenrand befestigten Kohlemikrophone werden auf zwei Leitungen verteilt, wodurch mit zwei Ohrlautsprechern sogar stereophones Hören möglich ist – allerdings nur mit teurem Zusatzgerät oder an speziellen Münzautomaten. Vor allem in Frankreich und England ist die Technik beliebt, Queen Victoria war schon um 1900 Kunde der »Electrophone Ltd«.

Marcel Proust wird 1911 Abonnent der Compagnie du Théâtrophone. Für 60 Francs im Monat, immerhin knapp 300 Euro (er ist wohlhabend) erhält er einen großen schwarzen Ohrhörer, mit dem er Übertragungen aus acht Pariser Theatern und Konzertsälen hören kann – umso wichtiger, als er selten in Laune und Verfassung ist, das Haus zu verlassen. Dass er mitunter kein Wort versteht, stört ihn nicht. Tristan kennt er auswendig, Pelléas bald auch. Diese Werke bilden das Hintergrundrauschen der Suche nach der verlorenen Zeit; deren erster Teil 1913 erscheint. Es rauscht in der Tat. Proust gesteht seinem Freund Reynaldo Hahn, dass er das Grollen im Hörer einmal für einen amorphen Teil der Musik gehalten hat, ehe er merkte, dass es die Pausengeräusche waren…

Zur Liveübertragung des Tristan nach London schnellt die Zahl der dortigen »Electrophone«-Abonnenten auf 2.000 hoch, unter dem Zähneknirschen des Wagner-Clans vermutlich: An solchen Übertragungen verdienen die Rechteinhaber nichts. Ansonsten beläuft sich das Wagner-Vermögen anno 1913 auf umgerechnet knapp 30 Millionen Euro, dank Tantiemen aus Aufführungen in aller Welt, und ist krass bedroht. Mit dem Ende dieses Jahres wird nämlich der Urheberrechtsschutz für Wagners Werke enden, dreißig Jahre nach dessen Tod (erst seit 1965 gelten in Deutschland 70 Jahre »Regelschutzfrist«). Cosimas letzte Hoffnung ist die Verfügung ihres Mannes, sein Parsifal dürfe nur in Bayreuth gespielt werden. Das Bühnenweihfestspiel soll unique selling point des Grünen Hügels bleiben, wenn schon die Tantiemen wegbrechen. Die Witwe bringt eine Petition an den Reichstag auf den Weg, die freilich nicht den finanziellen Aspekt, sondern den kunstmoralischen betont: Die Freigabe des Parsifal führe zur »Zerstörung seiner Kulturwirkung«. Rund 18.000 Personen unterzeichnen, auch Komponisten wie Humperdinck und Strauss.

Die Abgeordneten in der Reichstagskommission nehmen sich Zeit; das Protokoll der Sitzung am 5. März 1913 in Berlin füllt fünfzehn dicht bedruckte Spalten. Die einen fürchten eine Profanierung der Gralsoper, die anderen finden das »überspannt«. In Bayreuth »spielten auch sehr materielle Rücksichten mit«, lautet eine Stellungnahme, »höchsten Heiles Wunder« erschließe sich nur »finanziell gutgestellten Menschen.« Der Billethandel zeige »skandalöse Auswüchse«, wird protokolliert, »von Kunstverständnis sei bei vielen Besuchern keine Spur. (…) Der Aufmarsch der Gäste erinnere stark an die Helgoländer Lästerallee [das Spalierstehen bei der Ankunft neuer Kurgäste am Hafen], der Einzug der Dynastie Wagner sei ebensowenig erhebend.«

Sozialdemokraten und Liberale geben den Ausschlag. Mit 20 gegen fünf Stimmen beschließt die Kommission, über die Petition II Nr. 5811 zur Tagesordnung überzugehen, und Festspielleiter Siegfried Wagner zieht eine drastische Konsequenz. Das undankbare Vaterland wird für den »Parsifalraub« mit Festspielentzug bestraft. Zu Richard Wagners 100. Geburtstag bleibt es auf dem Grünen Hügel still. Siegfried beginnt mit der Komposition des Vokalwerks Märchen vom dicken fetten Pfannkuchen und erklärt: »Wir feiern, indem wir arbeiten.« Keine Pandemie, kein Krieg, nur grotesker Clanstolz bewegt die Wagners zu diesem Schritt. Ob und wie die Sänger, Musiker, Künstler, Techniker entschädigt werden, die nun vor einem Sommerloch stehen?

Das ist freilich auf Bayreuth begrenzt, und im Sommer 1914 sind alle wieder dort. Für acht Vorstellungen. Die weiteren entfallen mit der Kriegserklärung Deutschlands an Russland. Nach dem Krieg sind die Wagners bankrott, erst 1924 können wieder Festspiele stattfinden. Und das Theatrophon? Noch bis 1932 kann es der Konkurrenz vom Hörfunk trotzen, seitdem ist es Geschichte.

2020 ist so 1913. Sagt Volker Hagedorn in @vanmusik.

Und heute? Kein Rauschen trübt die Übertragung, bewegte Bilder gibt´s dazu, alles gratis, aber von Pelléas live können wir nur träumen. Debussy dürfte sich derzeit nicht mal vor kleinem Publikum ans Klavier setzen, wie das auch mitten im Krieg geschah. In Deutschland schafft man es ganz ohne Krieg, die Kulturschaffenden dem Bankrott zu überlassen; das Bayreuther Sommerloch 1913 wirkt neben unserem wie eine zauberhafte Idylle. Und die eingesperrten Franzosen (»Nous sommes en guerre!«) denken wohl lieber nicht an Marcel Proust. Er blieb zwar meist im Haus, aber freiwillig. Wie denn auch sonst, in einer Republik? Und Reynaldo konnte jederzeit vorbeikommen. ¶

…lebt als Buchautor, Journalist und Musiker in Norddeutschland. Er studierte Viola in Hannover, war Feuilletonredakteur in Hannover und Leipzig und ist seit 1996 selbstständig als Autor u.a. für ZEIT und Deutschlandfunk. Im Rowohlt Verlag erschienen von ihm »Bachs Welt« (2016) und »Der Klang von Paris« (2019). Sein neues Buch »Flammen. Eine europäische Musikerzählung 1900–1918« erscheint im April 2022.