Es hat Vorteile, nicht richtig Klavier spielen zu können. Wie es ist, als Amateur mit einer Mazurka von Chopin zu leben, wie sie mit ihrem Geheimnis zum Teil der Umgebung wird – Volker Hagedorn ist mit mühsam ertasteten 20 Takten aus den 1830ern glücklicher als mit einer bequemen Youtube-Session.
Das Stück begleitet mich seit Wochen, besser gesagt, seit längerem begebe ich mich zu ihm, in seine seltsame Geborgenheit und Offenheit, die von Frédéric Chopin. Ich bin beim Blättern darauf gestoßen, die Mazurken standen sowieso auf dem Flügel, eine ältere Peters-Ausgabe. Wahrscheinlich habe ich das Stück zuerst nur ausprobiert, weil der Anfang so leicht aussieht: Zwei Stimmen in der rechten Hand, im Oktavabstand beginnend, aufeinander zulaufend. Die ersten vier Takte sind tatsächlich kinderleicht, schon in der Konzeption. Es ist eines der frühesten Spielchen, die man auf einer Tastatur gern veranstaltet, wenn auch meist mit beiden Händen: Die Rechte wandert von oben runter und die Linke von unten rauf, bis sie sich treffen. Eine spannende kleine Choreographie.
Vielleicht sollte ich an dieser Stelle sagen, dass ich nicht wirklich Klavier spielen kann, den alten Flügel für einen Spaßpreis bekam und immer nur ein paar Minuten spiele, etwa während das Wasser kocht. Manche Aspekte von Musik erschließen sich gerade unter solchen Bedingungen! Das Hände-Treffen also: Falls Fryderyk dieses Spiel als Junge in Warschau nicht von allein entdeckte, dann vielleicht, als sein erster Lehrer ihm Klaviermusik von Bach hinstellte. Die sechste Invention funktioniert genau so, in E-Dur, die Stimmen synkopisch versetzt, aufeinander zulaufend, auseinander gehend. Allerdings nicht in Halbtonschritten wie in dieser Mazurka, die 110 Jahre später in Paris entstand, und die Pianisten und Kenner natürlich schon längst erkannt haben, »aber ja, 24, Nummer 4, kennt man!«
Ich kannte sie nicht, die ersten 20 Takte kenne ich jetzt um so besser. Und die Profis? Ich sah mir gerade Rafał Blechacz auf Youtube an, weil er mich mit den Préludes opus 28 sehr beeindruckt hat, 2007 aufgenommen. Zehn Jahre später spielt er die ersten vier Takte von 24,4 so plänkelnd elegant, als wäre es ihm etwas peinlich, dass das so einfach beginnt. Es beginnt mit zwei f´s, das untere als Auftakt zuerst. Nach dem zweiten lässt der Chopinpreisträger die Rechte erstmal schweben. Was zwar zu einem passt, der zu Beginn seines Auftritts das weiße Taschentuch über das Manual hat streichen lassen wie eine Karikatur bemooster Virtuosenrituale – aber überhaupt nicht zur gefährlichen Stringenz dieser Takte. Ja, gefährlich. Wo soll das hinführen, wenn sich die Linien so einander nähern? Enger und enger? Auf der letzten Viertel von Takt vier leuchtet schon »Emergency« , und nichts ist klar. Tritonusabstand, gis´– d´´.
Auf der nächsten Eins wird das d zum des, zugleich spielt die Linke im Bass ein F, so dass das gis nun ein as bedeutet, uff, Des-Dur, und ein Viertel später… Wahnsinn! Wenn man vor der Stelle bedeutsam bremst, wie etwa Ingolf Wunder, ist es kein Wahnsinn mehr. Dann zeigt man nur feierlich, dass man sich was gedacht hat und es jetzt gleich »richtig« losgeht. Aber was heißt »richtig«? Dass ab jetzt der Dreiertakt ins Drehen kommt und harmonische Funktionen deutlich werden? So deutlich werden die bei Chopin gar nicht. Alles, was klar scheint, in einem sequenzierenden Muster, wird sofort derart in Vorhalte und gerade noch zu rechtfertigende Dissonanzen gespannt, dass sich im Detail ein so krasser Stapel wie c-f-b-e-as ergibt. Und das in der Mitte der 1830er!
Wenn ein Klavierstümper wie ich sich in ein Stück auf diese Weise vernarrt, hat bei ihm höchstens noch Arthur Rubinstein eine Chance, der sich wirklich und glaubwürdig für das kleine Drama der ersten vier Takte interessiert und vor dem fünften Takt zwar zögert, aber eher wie einer, der ein bisschen Angst hat: Was könnte nun passieren? Diese Ungewissheit schwindet übrigens nicht, wenn sogar der Klavierstümper irgendwann die ersten zehn Takte auswendig hinkriegt. Allmählich gehören die aufgeklappten, altersgelben Notenseiten zum Inventar dieses Spätherbsts, aber irgendwie werden sie immer geheimnisvoller. Ich habe noch nicht umgeblättert, ich kenne erst 20 Takte, die Seite endet mit einem verheißungsvoll melancholischen kleinen Mollseptimenakkord.
Je öfter ich da draufgucke oder mich daransetze, desto mehr ist mir in diesem Abschnitt zumute wie in einem Viertel am Rande einer großen Stadt, in die man sich noch nicht hineintraut, die man aber in der Dämmerung rauschen hört. Im Viertel hat man sich schon etwas vertraut gemacht, hier ist der Kiosk, da der Bäcker, da eine Haltestelle, da ein etwas dubioser Hauseingang, aus dem es kühl und modrig riecht, dort eine gelegentlich festlich erleuchtete Wohnung im ersten Stock, in die man gern mal eingeladen werden würde. Eine Mischung aus Verheißung und Ungewissheit, bei einsetzendem Nieselregen. Es ähnelt dem, was Kinder wahrnehmen, wenn sie anfangen, ihr Stadtviertel zu erkunden. Vielleicht ja auch, weil das Stück so beginnt, wie wenn ein Kind ein Klavier erkundet.
Wenn man nicht wirklich Klavier spielen kann, ist man so langsam, dass man das Gras zwischen den Tönen wachsen hört. Vielleicht macht dieser Alltag mit 20 Takten von Chopin auch besonderen Spaß, weil er das Gegenteil von bequemer Verfügbarkeit ist. Ich könnte mir die Mazurka am PC von 20 Superpianisten von vorne bis hinten vorspielen lassen. Stattdessen werde ich sie nach und nach erforschen, wie eine Stadt, und zu Fuß, vielleicht nie bis ganz ans andere Ende. Am andern Ende stehen tausende von Pianisten, die sowas vom Blatt spielen können. Mögen sie die Freuden der Amateure belächeln – aber das Stück Himmel, das sich in einer Schaufensterscheibe spiegelt, Takt 7 auf der 2, das finde ich halt nur auf meinem alten Grotrian in der Kaffeepause. ¶