Frauen im Musikleben sichtbar, ihre Werke hör- und ihre Biografien und ihr geistiges Umfeld besser erforschbar machen, das ist das Ziel des Archivs Frau und Musik. Im November 2019 feiert es sein 40jähriges Bestehen. Mit seinen rund 26.000 Archivalen (Noten, Tonträger, Konzertplakate, Briefwechsel, Zeitungsartikel, Nach- und Vorlässe sowie Literatur) ist es das weltweit größte seiner Art.Wenige Tage vor der Jubiläumsfeier am 17. November spreche ich mit Gitarristin Heike Matthiesen, die seit 2017 ehrenamtlich im Vorstand des Archivs tätig ist, aber nach eigener Aussage »schon seit Ewigkeiten Mitglied im Verein«. Warum? »Ich habe im Studium kaum Kontakt gehabt mit Musik von Komponistinnen. Gitarre ist sowieso ein Macho-Instrument, extrem männerdominiert, auch, was die Musizierenden angeht. In meiner Gitarrenschule waren ein paar Stücke von einer Komponistin, ansonsten kannte ich gar keine. Inzwischen habe ich 700 Komponistinnen gefunden, die allein für Gitarre solo geschrieben haben.« (Matthiesens Hörtipp dazu: Die Serenade von Sofia Gubaidulina. »Gubaidulina hat in drei Minuten alles hineingepackt, was auf einer Gitarre möglich ist. Musik, die am Nichts dran ist, ganz schwer zu spielen: unendlich lange Töne, dann wieder ganz schnelle Passagen. Und der gesamte Raum der Gitarre wird ausgeschöpft, in nur drei Minuten! Da wusste die Komponistin wirklich ganz genau, was sie tut mit dem Instrument.«)

VAN: Das Archiv legt den Fokus auf Komponistinnen, nicht so sehr auf Interpretinnen, oder?
Heike Matthiesen: Das Archiv wurde 1979 von der Dirigentin Elke Mascha Blankenburg ins Leben gerufen, die damals ziemlich allein auf weiter Flur war. Ihr Ziel war es, Dirigentinnen und Komponistinnen zu fördern. Das steht auch weiterhin im Zentrum. Wir haben aber auch Material zur Aufführungspraxis, zur Rolle von Musikerinnen, zum Beispiel eine wunderschöne kleine Nebensammlung bestehend aus historischen Postkarten mit Damen-Blaskapellen aus dem 19. Jahrhundert. An der sieht man: Das war damals eine gesellschaftlich akzeptierte Möglichkeit, als Frau Profimusikerin zu sein.
Heute gibt es natürlich unendlich viele Interpretinnen, deswegen ist es nicht so dringend notwendig, speziell zu Interpretinnen zu sammeln, dazu ein Auskunftszentrum zu bilden. Denn das wollen wir ja sein für Veranstalter*innen, Forscher*innen, Medienschaffende, damit die sich erkundigen können: Welche Komponistinnen gibt es? Wo finde ich die?
Ich kann zwar ›Komponistin‹ in meine Suchmaschine eingeben, aber es ist die Frage, ob die jeweiligen Künstlerinnen dann beim Verlag zum Beispiel auch wirklich als Komponistin verschlagwortet sind, ob man sie so also überhaupt findet. Solange man diese Namen nicht durch einfache Recherche finden kann, muss es uns als Mittler geben.
Werde Sie denn tatsächlich häufig angefragt von Dramaturg*innen oder Programmplaner*innen?
Immer öfter! Besonders aber von Interpret*innen, die Repertoire für ihr Instrument suchen. Es kommen auch immer mehr Schulklassen oder Kurse von Universitäten. Bei uns schlummern ja unendliche viele Promotionsthemen. Die Konzertveranstalter*innen versuchen sich eher auf anderen Wegen zu informieren. Oder ihnen werden von Künstler*innen Programme mit Werken von Komponistinnen angeboten und dann wollen die Veranstalter*innen sich bei uns schlau machen, um wen es da eigentlich geht. Ich habe für mich als Gitarristin die Regel: In jedem Programm muss mindestens ein Stück einer Frau drin sein. Das ist bei den meisten Veranstalter*innen überhaupt kein Problem. Vor einem reinen Komponistinnen-Programm schrecken viele dann eher noch zurück. Es sind also vor allem Musiker*innen, Medienschaffende und Leute, die in irgendeiner Form unterrichten, die sich mit uns in Verbindung setzen. Kontakt zu Konzertveranstalter*innen würden wir uns noch sehr viel mehr wünschen.

Gibt es von Seiten der Veranstalter*innen sowas wie ›Best Pracitce‹-Beispiele? Die Magdeburgische Philharmonie zum Beispiel hat ja neuerdings ein ähnliches Credo wie Sie: In jedem Konzert mindestens ein Stück von einer Komponistin. Viele wirklich große Klangkörper wie die Berliner Philharmoniker zum Beispiel scheinen das Thema dann wieder gar nicht auf dem Schirm zu haben …
Ein sensationelles Beispiel sind für mich die Programme vom Konserthuset in Stockholm. Die machen aktuell die Reihe ›LvB‹ – das heißt aber bei denen ›Ladies versus Beethoven‹ – bei der jeder Beethovensinfonie eine große Sinfonie einer Komponistin aus dem 19. Jahrhundert gegenübergestellt wird. Im Moment besteht aber auch das Risiko, dass Werke von Frauen nur als Alibi auf die Programme gesetzt werden, weil gerade eben Diversität erwartet wird. Wir alle, die in dem Thema arbeiten, beten dafür, dass sowas nicht passiert, sondern dass das Interesse wirklich nachhaltig ist und keine Mode. Der Lackmustest wird jetzt nach dem Clara-Schumann-Jahr zum Beispiel sein: Wie viel von ihr wird 2020 noch gespielt?
Was halten Sie von den Feierlichkeiten zu 200 Jahren Clara Schumann?
Ich war überrascht, dass sich so viele Programme mit Clara Schumann schmücken, die erstaunlich wenig Musik von ihr enthalten, in denen dann gerne der Weg gegangen wird, die Männer aus ihrem Umfeld zu spielen. Viele sind auf den Zug aufgesprungen, ohne sich wirklich mit ihrem Werk zu beschäftigen. Ohne das Jubiläum hätten viele Veranstalter*innen wahrscheinlich aber nicht den Mut gehabt, überhaupt soviel von ihrer Musik zu spielen, darum brauchen wir solche Jubiläen. Wir hoffen natürlich jetzt, dass das Publikum neugierig geworden ist, noch mehr von ihr hören will. Ich gehe im Gegensatz dazu davon aus, dass nach dem Beethoven-Jahr niemand mehr Beethoven hören mag. Beim Beethoven-Jubiläum geht es aber wahrscheinlich auch deutlich mehr um die Musik als beim Clara-Schumann-Jubiläum. Allerdings: Dass in den britischen Verkaufscharts die Einspielung des Klavierkonzerts von Clara Schumann auf Platz 1 steht, hätte vor 10 Jahren noch niemand für möglich gehalten.
Wie stehen Sie zu einer Komponistinnen-Quote für Konzertprogramme?
Ich bin für eine Quote, weil ich von der Qualität des Repertoires überzeugt bin und ich glaube, dass viele Leute nicht den Mut haben, so sehr ihre Hausaufgaben zu machen, dass sie dieses Repertoire selbst entdecken – die muss man ein bisschen auf ihr Glück schubsen. Andererseits weiß ich, dass Quoten auch sehr sehr viele Animositäten auslösen, dass irgendwann entnervt die Augen gerollt werden: ›Muss das sein?‹
Welche Vorbehalte oder Widerstände erleben Sie ansonsten, wenn es um die Frage geht, ob man mehr Komponistinnen auf die Programme setzt?
Der Klassiker ist natürlich die Reaktion: ›Wenn die Stücke wirklich gut wären, würde man sie ja kennen.‹ Und genau das ist eben nicht der Fall. Die Komponistinnen im 19. Jahrhundert mussten am Nadelöhr Verleger vorbei. Die wenigsten sind verlegt worden, und von denen, die verlegt wurden, haben einige unter Pseudonym gearbeitet, um überhaupt von Interesse für weiße männliche Verleger zu sein. Aus dem 19. Jahrhundert ist wirklich nur ein Bruchteil der Musik von Komponistinnen verlegt worden. Das hat viele Frauen daran gehindert, auch mal große Werke zu schreiben, weil sie wusste: Sie schreiben für die Schublade. Die haben dann Klavierstücke geschrieben, Lieder, Kammermusik. Fanny Hensel wiederum hat ihre großen Werke erst geschrieben, als sie wusste: Das wird eh nicht aufgeführt, also schreibe ich, was mir Spaß macht. Aber das war eine Luxusposition, die nicht jede hatte, eigentlich nur sehr wenige. Wenn man dann sagt: ›Es gibt so wenige Opern von Komponistinnen aus dem 19. Jahrhundert‹ – das ist doch klar. Man schreibt keine ganze Oper für die Schublade.
Das ist heute ganz anders, heute kann ich als Komponistin eine eigene Homepage aufsetzen, meine Partituren als PDF online stellen, ich brauche nicht unbedingt einen Verlag. Die Chance, Musik auffindbar, hörbar zu machen, ist heute viel größer, auch dank Youtube, wo man einfach Konzertmitschnitte hochladen kann.
Die gläserne Decke gibt es natürlich auch noch heute: Was passiert nach dem Kompositionsstudium? Ins Studium rein kommen Frauen mittlerweile relativ leicht, aber dann einen Beruf daraus zu machen, ist immer noch schwer.
Warum?
Es gibt nicht so viele Posten für Kompositionsprofessuren, von denen sind viele sind noch mit Männern besetzt und werden erst langsam frei. Auch ist die Frage: Wie wird man als Komponistin Teil dieser Seilschaften? Wie viele Komponistinnen werden zum Beispiel prominent in Donaueschingen gespielt oder bei den Darmstädter Ferienkursen? Oder: wie schafft man es als Komponistin, dass das Ensemble Modern auf einen aufmerksam wird? Diese Art von Netzwerkbildung fangen die Komponistinnen gerade erst an: größere Netzwerke bilden, sich gemeinsam über Ausschreibungen informieren, sich gegenseitig unterstützen. Bisher waren Komponistinnen eher Einzelkämpferinnen. Dass man sich jetzt zusammentut, das ist erst seit den letzten 10, 15 Jahren so.
Aber zurück zu den Vorbehalten: Konzertveranstalter*innen unterschätzen oft die Neugier des Publikums. Bei solo-Recitals zum Beispiel ist es inzwischen vollkommen normal, ein paar Worte zu den Stücken zu sagen, man macht automatisch auch Musikvermittlung. Und wenn man dann ein Stück einer Komponistin spielt und die richtigen drei Sätze zur Person findet, dann kommt das Publikum nach dem Konzert und sagt: ›Ach, das war ja interessant, das wussten wir gar nicht! Dass man solche Musik nicht kennt …‹ Das sind die ganz typischen Reaktionen.
Welches Archivale ist Ihnen persönlich besonders wichtig?
[überlegt] Am meisten berührt mich immer das Faksimile von Noten von Hildegard von Bingen. Das ist jetzt fast 1.000 Jahre alt. Und schon aus dieser Zeit haben wir Noten, wirklich Musik von einer Frau. Die erste uns bekannte Komponistin war Kassia im 8. Jahrhundert im Oströmischen Reich. Diese Komponistinnen sind so etwas wie Mahnmale aus einer früheren Zeit, die sagen: ›Hallo, uns gab es damals schon.‹ Und das finde ich faszinierend. In den Kalifaten im maurischen Spanien war es auch üblich, dass Frauen musizierten, dichteten und komponierten. Die haben keine Musik aufgeschrieben, da wissen wir nur die Namen. Die Stücke sind weg. Bei Hildegard von Bingen können wir wirklich die Musik anschauen. Und wir sorgen eben dafür, dass das so bleibt, dass alles aufbewahrt, gesichtet, sortiert wird und nichts unwissend weggeworfen wird.
Noch eine Anekdote am Rande: Marianne von Willemer, die Freundin von Goethe, hat auch komponiert, wohl über hundert Stücke. Ich habe mit Hilfe des Goethe-Hauses ihre Nachkommen kontaktiert und alle gebeten: Bitte schaut in alten Kisten, auf Dachböden, nach Noten. Aber es da ist nichts aufgetaucht, das ist alles weg.
Gibt es ansonsten ganz besondere Schätze im Archiv oder Paukenschläge im Lauf Ihrer Arbeit?
Wir haben zum Beispiel den gesamten Nachlass von Felicitas Kukuck und den gesamten Vorlass von Tsippi Fleischer … Insgesamt liegen bei uns Werke von knapp 2.000 Komponistinnen. Wir wissen gar nicht, was für Paukenschläge sich da noch verstecken, weil die ganzen Querverbindungen noch gar nicht gezogen sind. Unser Archiv ist ja entstanden aus einer privaten Sammlung entstanden, die dann nach einem Archivsystem angelegt wurde. Das wurde dann wieder digitalisiert, das hat dann nicht mehr funktioniert, dann wurden neue Archivsysteme drübergelegt … Im Moment haben wir drei Kataloge online, die nicht deckungsgleich sind. Wir betreiben also die Archäologie unseres eigenen Ablagesystems, das noch nicht systematisch durchstrukturiert ist. Das Archiv wurde ein einer heißen Phase gegründet. Dann sind Komponistinnen ein bisschen aus dem Fokus der Öffentlichkeit verschwunden, es ging zum Teil wirklich ums Überleben des Archivs. Es durfte kein Radiergummi angeschafft werden, es ging nur noch darum, das Ding irgendwie am Laufen zu halten. Da hat sich dann keiner über die Systematik der Katalogsysteme Gedanken gemacht. Im Moment sind wir finanziell aus dem Allergröbsten raus. Wir hangeln uns durch mit dem üblichen Gemisch aus Projektgeldern, Geld aus verschiedenen Stiftungen, vom Land, der Stadt. Aber die Möglichkeit, unser komplettes Archiv auf ein System umzustellen, wirklich zu wissen, was wir alles haben, haben wir bisher nicht, da fehlt einfach das Geld.

Was bräuchten Sie dafür? Eine langfristige feste Stelle?
Wir brauchen auf jeden Fall mehr festangestellte Mitarbeiter*innen. Wir haben zwar einen Pool von Mitarbeiter*innen, die immer mal wieder für ein ein-, zweijähriges Projekt beschäftigt werden. Aber eine volle, langfristige Bibliothekar*innenstelle wäre wichtig. Jemand, die oder der zwei Jahre bei uns gearbeitet hat, kennt gerade den ganzen Laden, könnte dann fundamentale Veränderungen wie eine Umstellung des Archivierungssystems anschieben und stemmen und dann ist das Projekt und damit die Finanzierung gerade wieder vorbei.
Warum hatte das Thema Komponistinnen vor 40 Jahren Konjunktur, warum ist es dann erstmal verschwunden und wo stehen wir heute?
Die Archiv-Gründung war eine Spätfolge der 68er, der Frauenbewegung. Das aktuelle Interesse ist ganz wesentlich beeinflusst von Metoo. Da wurde ja im gesamten Kunstbetrieb geschaut: Wer arbeitet auf welchen Positionen? Gibt es überhaupt Komponistinnen und Dirigentinnen und wie geht es denen? Die ganze Frauenfrage ist wieder hochgekommen in den letzten paar Jahren. Das hat unser Archiv komplett verändert. Wir spüren die gesteigerte Aufmerksamkeit auch daran, dass die Finanzierung jetzt wieder einfacher wird, dass neue Gelder kommen, dass wir wieder gut arbeiten können. Die Anfragen von außen sind explodiert. Wir sind im Moment mit unserem Wissen wirklich sehr gefragt.
Die feministische Theorie hat sich ja auch weiterentwickelt in den letzten 40 Jahren. Wie gehen Sie zum Beispiel mit Queerfeminismus um? Wird das Archiv vielleicht zum ›Archiv Nicht-cis-männliche-Komponierende und Musik‹?
In unseren Statuten steht noch, dass es um Komponistinnen geht. Aber ich lehne mich da jetzt mal aus dem Fenster und sage: Wir werde das früher oder später anpassen. Die Grenzen sind ja fließend.
Machen Sie sich auch Mehrfachdiskriminierung zum Thema? Vernetzen Sie sich mit Gruppen, die sich zum Beispiel mit rassistischer Diskriminierung auseinandersetzen?
Es gibt mittlerweile auch viel Forschung zu PoC-Komponistinnen. Florence Price boomt in den USA. Sie war die erste PoC, von der Sinfonien aufgeführt wurden. Die sind übrigens wirklich fantastisch und es ist eine Schande, dass die so lange nicht gespielt wurden. Wenn wir sagen: Wir kümmern uns um Komponistinnen, sind wir uns der Grundthematik der Diskriminierung, auch anderer Diskriminierungsmechanismen, durchaus bewusst. Und wir wissen, dass das unser Feld nochmal massiv erweitern wird in Zukunft. ¶