Darf Don Giovanni in metoo-Zeiten faszinierend sein? Soll man es stehen lassen, wenn der Lutheraner Bach »Papst und Türken« als Gefährder vertont? Darf ein moderner Opernkomponist auch Terroristen singen lassen? Volker Hagedorn plädiert für ein komplexes Ja und die Mündigkeit des Publikums.

Neulich spielte ich als Bratscher mit in Johann Sebastian Bachs Kantate Gleich wie der Regen und Schnee vom Himmel fällt, mit vier Violas besetzt, grandioses, frühes Stück aus Weimar, mit einem Rezitativ, in dem sich die gläubige Seele vor »der Türken und des Papsts grausamen Mord und Lästerungen« bewahrt sehen will. So steht es in der Lutherschen Litanei, auf die Bachs Textdichter Neumeister zurückgriff. Bach, als orthoxer Lutheraner erzogen, wuchs zur Zeit eines »Türkenkriegs« auf, der vor seiner Geburt begonnen hatte und erst 1699 endete, und der Dreißigjährige Krieg hatte die Generation seiner Großeltern in Thüringen tief geprägt. Er vertonte also nicht nur Glaubensworte, sondern auch kollektive Erfahrungen. Dass er nicht gegen Katholiken und Muslime des 21. Jahrhunderts anschrieb, versteht sich von selbst. Wirklich?

In der Urtextausgabe des Carus Verlags  (2014) fanden wir den Originaltext nur in der Fußnote. Der »Wortlaut des Luthertextes« sei »durch eine abgemilderte Variante ersetzt worden«. In der Partitur selbst liest man, kursiviert und mit Sternchen versehen, von »des Teufels und der Feinde grausamen Mord«. Wer will, kann die originalen sechs Silben ohne weiteres wieder ihren sechs Tönen zuordnen. Die Ausgabe, erklärt Programmleiter Uwe Wolf auf Anfrage, ziele, »überspitzt gesagt, nicht auf die Bibliothek, sondern auf die Aufführung«, auch »außerhalb der Spezialensembles«, die sich den Originalen verpflichtet sehen. Darum habe man auch in einer weiteren Kantate eine Alternative zu »Papst und Türken« geboten. Doch die Vorsicht hat Grenzen: »Die Bedeutung eines Wortes entsteht auch im Kopf des Lesers und ist nicht immer vorhersehbar.«

Allemal ist die »Abmilderung« ein Indiz für die gesteigerte Sensibilität und Nervosität, mit der wir selbst jahrhundertealte Meisterwerke im Spannungsfeld der Gegenwart sehen. Die religiöse Militanz, die sich in Luthers und Bachs Furcht vor »Papst und Türken« äußert, ist ja nicht aus der Welt verschwunden. Ob Christen mit und ohne Papst, Muslime oder Juden – irgendwo sehen sich heutzutage Angehörige jeder Konfession bedroht. Den Wunsch, es möge nicht so sein, kann gerade die größte Kunst nicht erfüllen, ebenso wenig den nach vollendeter Gleichberechtigung der Geschlechter und Ethnien, Gewaltverzicht, Gerechtigkeit. Der Verstörung über »diskriminierende« Passagen historischer Werke können indessen Einsichten folgen, die die Kunst nicht kleiner machen: Bachs Kantate spiegelt wie alle Kunst auch die Bedingungen ihrer Entstehung.  

Man kann freilich auch, im Vollgefühl moralischer Überlegenheit, einem Claudio Monteverdi »kriegstreiberische, frauenfeindliche und christliche Propaganda« vorwerfen – wie im Schwetzinger Programmheft 2017 –, da in seinem Combattimento von 1624 eine muslimische Frau einen Kreuzritter sterbend um die Taufe bittet. In den USA wird von Musikwissenschaftler*innen diskutiert, ob man Don Giovanni, dessen Titelheld einen Weinstein in den Schatten stellen könnte, noch spielen darf. Dem Publikum wird da offenbar ein Differenzierungsvermögen auf dem Level jener Kinder zugetraut, für die in Jim Knopf »Chinesen« durch »Mandalanier« und in Pippi Langstrumpf der »Negerkönig« durch den »Südseekönig« ersetzt werden und in Die Kleine Hexe »Chinesenmädchen« und »Türken« aus dem Kinderfasching verschwinden.

Was die Musik betrifft: Vielleicht sind viele Werke, an deren Weltbild oder Wortwahl man sich stören kann, aktueller und nicht nur überholter, als dem Kunstgenießer lieb ist – und zwar schon vor dem Zugriff des Regietheaters. Nach diesem aber erst recht. Wo das Gewaltpotential von Opern deutlich gemacht wird, ist der Skandal fast garantiert, von der Dresdener Csárdásfürstin, die Peter Konwitschny in den Ersten Weltkrieg verlegte, bis zu einer Entführung aus dem Serail, deren blutigste Szene 2015 in Aix-en-Provence vor der Premiere gestrichen wurde: Martin Kušej hatte Osmin als Hardliner konzipiert, der seine Gefangenen köpft, anstatt nur buffonesk davon zu schwärmen. Nachdem bei Lyon ein mutmaßlicher Islamist einen Unternehmer enthauptet hatte, entschied die Festivalleitung, die IS-Anspielungen von der Bühne zu nehmen.

Die Frage, wie nahe, wie schmerzhaft nahe die Kunst uns kommen darf, lässt sich nicht für die beantworten, die sich die Distanz nicht aussuchen können. Lisa und Ilsa Klinghoffer, die Töchter des 1985 ermordeten Leon Klinghoffer, erklärten zum Bühnentod ihres Vaters in einer Oper, in der auch dessen Mörder singen: »It appears to us to be anti-Semitic.« The Death of Klinghoffer von John Adams, 1991 in Brüssel uraufgeführt, war von Anfang an umstritten. Das Werk folgt den Vorgängen 1985, als palästinensische Terroristen das Kreuzfahrtschiff »Achille Lauro« kaperten und den auf einen Rollstuhl angewiesenen jüdischen Passagier Leon Klinghoffer ermordeten. Schon durch die Erhebung zum Opernsujet würde hier der Terrorismus verherrlicht, es sei implizit antisemitisch: So lautet, verkürzt gesagt, die Kritik am Werk.

Gleichwohl ging es in szenischen Produktionen um die Welt, bis 2014, an der von Peter Gelb geleiteten Metropolitan Opera in New York. Heftigen Protesten im Vorfeld kam Gelb, selbst Jude, mit dem Verzicht auf eine weltweite HD-Übertragung der Produktion entgegen; dennoch wäre die Premiere fast abgebrochen worden. Demonstrant*innen hatten Opernbesucher schon am Eingang beschimpft, in der Vorstellung gab es Zwischenrufe – und am Ende einen Applausorkan. »Weder ist die Oper antisemitisch, noch verherrlicht sie den Terrorismus«, konstatierte Alex Ross im New Yorker. »Ob man es mag oder nicht, Klinghoffer wird uns noch für eine Zeit begleiten, unsere Ängste spiegelnd.« Doch seit der letzten Vorstellung an der MET am 15. November 2014 hat kein Haus das Werk mehr auf die Bühne gebracht. Vielleicht ziehen es die Intendant*innen vor, dem Spannungsfeld Klinghoffer auszuweichen. Indessen ist Adams weiterhin einer der meistaufgeführten lebenden Komponisten. In diesem Jahr erhält er den mit 150.000 Euro dotierten Preis der Stiftung Praemium Erasmianum – nicht zuletzt für »die humanistische Natur seiner Themen.«  

Mündigen Rezipient*innen muss zugetraut werden, dass sie die Vielschichtigkeit gerade von musikalischen Kunstwerken nicht auf einfache Positionen herunterbrechen. Auch dann nicht, wenn demnächst zu Ostern wieder zahlreiche Aufführungen der Passionen von Johann Sebastian Bach anstehen. Über die Wutchöre der »Jüden« darin – zurückgehend auf Luthers Übersetzung – wird seit längerem differenziert diskutiert. Die Musik selbst bringt uns auf ein Niveau weit über der lutherischen Perspektive. Wenn in der Johannespassion, in Lässest du diesen los…, die Chorstimmen, synkopisch und in Schritten drängend, ineinander verzahnt werden, unaufhaltsam, erblickt man jegliche Mobdynamik, vom römischen Reich über das Deutschland um 1700 bis heute, geradezu eine klingende Strukturanalyse kollektiver Gewalt, ein unfassbarer Blick aus dem Geschehen heraus und zugleich auf das Geschehen hinab.

»Darf Don Giovanni in metoo-Zeiten faszinierend sein?« Volker Hagedorn über Fußnoten und Proteststürme in @vanmusik.

Gleichzeitig hat dieser Blick seine Geschichte, die Grenzen, aus denen heraus dieses Niveau erreicht wurde. Wer die ausblendet, will auch über die eigene Begrenztheit nichts erfahren. Der weitere Blick, den die Kunst erlaubt oder provoziert, sei es, weil sie klüger ist als die Künstler, sei es, weil die Künstler sich diesem Blick verpflichtet fühlen wie John Adams, ist eine Perspektive, in der sich auch Wege aus den Sackgassen der Realität finden lassen. Jeder und jede kann für sich entscheiden, die Augen zu verschließen – aber nicht für alle. Und die Fußnote in unserer Bachkantate wurde nicht zur Scheuklappe: Historisch wie zeitgenössisch bewusster habe ich selten Musik gemacht. ¶

…lebt als Buchautor, Journalist und Musiker in Norddeutschland. Er studierte Viola in Hannover, war Feuilletonredakteur in Hannover und Leipzig und ist seit 1996 selbstständig als Autor u.a. für ZEIT und Deutschlandfunk. Im Rowohlt Verlag erschienen von ihm »Bachs Welt« (2016) und »Der Klang von Paris« (2019). Sein neues Buch »Flammen. Eine europäische Musikerzählung 1900–1918« erscheint im April 2022.