Gustavo Gimeno im Interview.
Ich treffe Gustavo Gimeno in einer Amsterdamer Brasserie, einen Steinwurf entfernt vom Concertgebouw, wo seine Karriere als Solo-Schlagzeuger im Concertgebouw-Orchester anfing. Eigentlich war der Plan, nur zwei Jahre zum Studium nach Amsterdam zu gehen, und sich danach irgendwo ein Orchester zu suchen, erzählt er. Aber dann sei alles aus dem Ruder gelaufen. Seit 2015 ist Gimeno mittlerweile Chefdirigent des Orchestre Philharmonique du Luxembourg, ab der Saison 2020 wird er zusätzlich die Position des Musikdirektors beim Toronto Symphony Orchestra übernehmen. »Ab acht Jahren fühlt sich eine Dirigent-Orchester-Beziehung nach Substanz an«, sagt er später im Gespräch. Er wird also vermutlich eine Weile transatlantisch unterwegs sein. Die Frage, ob dies auch einen Wohnortwechsel mit sich bringt, erübrigt sich gleich zu Beginn: Gimeno ist mit seiner Familie gerade in die Nähe des Concertgebouw gezogen und hat die Handwerker zu Hause.
VAN: Kannst Du auf Anhieb sagen, was die drei wichtigsten Momente Deiner bisherigen Karriere waren?
Gustavo Gimeno: Erstens, das Angebot, Mariss Jansons in Amsterdam zu assistieren, und dann im Anschluss Claudio Abbado beim Orchestra Mozart und in Luzern. Drittens, ein paar Monate später, für den erkrankten Jansons bei einem Konzert mit dem Concertgebouw-Orchester einzuspringen. Es gibt auch einen vierten und fünften Moment. Das Angebot aus Luxemburg war ein wichtiger, der Einspringer für Lorin Maazel bei den Münchner Philharmonikern… Das geschah alles 2013 und 2014, in einer Zeitspanne von nur anderthalb Jahren.
Wenn Du zurückschaust: Wie groß ist der Anteil von Glück an dem, wo Du heute stehst?
Ich kann es nicht in Prozent sagen, aber es ist mit Sicherheit ein sehr großer. Glück, Zufall, Schicksal. Aber dann kommt sofort die nächste Frage: Was machst Du draus? Kannst Du die einmalige Gelegenheit in etwas transformieren, woraus Neues entsteht? Oder bleibt es ein isoliertes Einzelevent? Es ist ja nicht so, dass ich, bevor sich diese Chancen boten, zu Hause saß und Fernsehen geguckt habe.
Hat es Dich überrascht, wie schnell alles ging?
Ja. Als der Künstlerische Leiter des Concertgebouw mich fragte, ob ich Mariss Jansons assistieren wolle, war ich so überrascht, dass ich erst um Bedenkzeit bat. Ich war nicht einfach nur euphorisch, sondern auch eingeschüchtert. War ich wirklich so weit? Er meinte dann, ›ok, aber beeil dich‹. Meistens brauche ich bei solchen wichtigen Entscheidungen eine Weile für mich alleine. Es war mir dann schnell klar, dass ich zusagen musste: Ich liebe Musik, Jansons ist ein wundervoller Musiker, ich würde viel Spaß haben und viel lernen können. Natürlich gab es auch Druck. Aber ich hätte es später sehr bereut, wenn ich abgelehnt und die Chance verpasst hätte.

War es nicht schwierig, gleichzeitig Assistent des Chefdirigenten und als Schlagzeuger Mitglied des Orchesters zu sein?
Doch, absolut. Aber in meinem Beruf ist es wichtig, nicht zu viel darüber nachzudenken, wie andere dich sehen. Es wird immer viele Menschen geben, die das, was du machst, nicht teilen oder mögen. Besser du bleibst bei dir und loyal gegenüber deinen eigenen Ideen.
Können solche Gelegenheiten, die sich Dir boten, zu früh kommen? Ich denke zum Beispiel an Deinen Kollegen Lionel Bringuier, der mit 27 Chefdirigent beim Tonhalle-Orchester Zürich und nach vier Jahren nicht verlängert wurde. Auch Daniel Harding hat der frühe Aufstieg eine Zeitlang sehr unter Druck gesetzt.
Es ist kompliziert. Wenn du nur nach Bequemlichkeit gehst, kommst du nicht voran und lernst weder als Mensch noch als Künstler. Andererseits ist es ein großes Risiko, etwas zu machen, wofür du noch nicht bereit bist. Als ich in Amsterdam oder in München einsprang, war es so ein früher Zeitpunkt meiner Karriere, dass ich eigentlich nur gewinnen konnte. Ich weiß noch genau, wie es war, zum ersten Mal das Concertgebouw zu dirigieren … ich habe mich high gefühlt, over the moon. Natürlich stand ich unter Druck, aber es war auch ein einmaliges Erlebnis, weshalb ich es wirklich genossen haben. Danach beginnt das wirkliche Leben. Heute spüre ich eine größere Verantwortung, weil ich viel mehr zu verlieren habe.
Ist es einfacher oder schwerer ein Orchester zu dirigieren, in dem Du selbst gespielt hast?
Es ist einfacher, weil ich weiß, worüber sie reden, wie sie fühlen und atmen, was sie mögen und was nicht. Gleichzeitig weiß ich auch, wer mich mag und wer vielleicht nicht, für wen es sich wie ein Affront anfühlt, dass ich auf dem Podium stehe. Aber ich hatte einen guten Draht zum Orchester, sie haben mich sehr warm und herzlich aufgenommen und wollten mir helfen. Bei einem ›normalen‹ Debüt können sie viel prüfender sein.
Ist es als junger Dirigent überhaupt möglich zu sagen: ›Nein danke, ich bin noch nicht so weit‹?
Es sollte eigentlich möglich sein. Vielleicht sind wir es aber nicht mehr gewohnt, dass es wirklich jemand sagt. Allerdings habe ich das Gefühl, dass wir gerade am Ende einer Entwicklung angekommen sind, in der alles, was ›jung‹ war, automatisch attraktiv erschien. Es gab viel Bohei darum, möglichst jung möglichst rasant Karriere zu machen. Ich habe den Eindruck, dass sich diese extreme Entwicklung in den letzten Jahren wieder etwas ausbalanciert hat. Orchester entscheiden sich nicht mehr unbedingt für den jungen Shooting-Star, sondern für jemanden, der mehr Erfahrung hat.
Welche Fehler hast Du gemacht?
Ich erzähle dir von einer Entscheidung, bei der ich aus Fehlern gelernt hatte: Ich habe letzten Dezember das Swedish Radio Symphony Orchestra dirigiert. Die erste Hälfte des Programms war ein Stück von Anna Thorvaldsdottir und das Klavierkonzert von Daníel Bjarnason, die zweite Hälfte war noch offen. Natürlich wollte ich Repertoire machen, mit dem ich mich sicher fühle und das ich mag. Aber mir war auch klar, dass es kein Daniel-Harding-Stück sein darf [Harding ist der Chefdirigent des Orchesters].
Kein Mahler, kein Schumann …
.. kein Bruckner 5. Also habe ich die Sechste Symphonie von Tschaikowsky gewählt, den Harding so gut wie nie dirigiert. Manchmal hatte ich zuvor den Fehler begangen, bei der Auswahl eines Repertoires für ein Debüt nur musikalische Gründe in Betracht zu ziehen, ohne zu berücksichtigen, wer bei dem Orchester der Chefdirigent ist und wer ein Stück dort die letzten 20 Jahre schon gemacht hat.
Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Jakub Hrůša, der meinte, dass es ihn gerade am Anfang seiner Karriere beunruhigt habe, in die Schublade des tschechischen Dirigenten, der tschechische Musik macht, gesteckt zu werden. Gab es ähnliches mal bei Dir mit spanischer Musik?
Eine gute Entscheidung, die wir gleich zu Beginn getroffen haben, war: Ich mache Debüts nie mit spanischer Musik, sondern mit Mahler, Schubert, Beethoven, französischer Musik… Nächstes Jahr bin ich bei einem Orchester zum fünften oder sechsten Mal zu Gast und habe vorgeschlagen, die Zweite Suite aus de Fallas El sombrero de tres picos zu machen. Niemand assoziiert mich mit spanischer Musik. Aber warum auch? Ich lebe mittlerweile schon zwanzig Jahre nicht mehr in Spanien. Warum sollte ich spanische Musik machen? Wegen meines Passes? Ich mag El amor brujo oder die wunderbare Anmut einiger Zarzuelas. Aber meine Liebe zu Mahler ist größer.
Was ist heute für einen jungen Dirigenten anders als für den jungen Haitink, Abbado oder Jansons?
Alles – von Social Media bis zur Tatsache, dass Orchester heute offener sind für verschiedene Ansätze und weniger das Gefühl haben, die richtige Interpretation ›gepachtet‹ zu haben – so lange die Ideen des Dirigenten Hand und Fuß haben. Das Gewese um den ›Maestro‹ hat abgenommen, die Distanz zwischen Orchester und Dirigent ist kleiner geworden. Auf der anderen Seite habe ich den Eindruck, dass über Dirigenten und Solisten heute schnell gerichtet wird [schnippt mit den Fingern]. Wenn es beim ersten Mal nicht läuft, wirst du halt nicht wieder eingeladen. Ich habe das Gefühl, dass zum jungen Abbado an der Scala, bei den Wiener Philharmonikern oder beim London Symphony Orchestra auch nicht immer alle nett waren, aber die Orchester sahen sein Talent und haben ihm immer wieder eine Chance gegeben. Der Aufbau einer langfristigen Beziehung wird heute nicht mehr so geschätzt, was ich schade finde. Dirigenten und Orchester sollten mehr Geduld miteinander haben. Wenn du nach der ersten Probe schon den Stab brichst, und das Urteil negativ ausfällt, ist es schwierig, das Ruder rumzureißen. Früher blieben Dirigenten oft sehr lange bei einem Orchester, heute ist es schnelllebiger. Manchmal habe ich den Eindruck, Orchester sind einfach gelangweilt und entscheiden sich deshalb für einen Wechsel. Ich bin mir nicht sicher, ob sich das langfristig auszahlt. Klar, es bringt den Reiz des Neuen mit sich, aber ist es wirklich besser für die Musik, die musikalische Entwicklung des Orchesters, die Institution, die Wertschätzung durch das Publikum?

Was ist für Dich die ideale Zeitspanne für eine Orchester-Dirigent-Beziehung?
Sechs Jahre ist zu kurz, ab acht Jahren fühlt es sich nach Substanz an. Aber in vielen Fällen funktioniert es auch länger als zehn Jahre, Jansons beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks und in Oslo, Harding beim Swedish Radio Symphony Orchestra, Tugan Sokhiev in Toulouse. Es heißt nicht, dass jeder Tag schön und ohne Reibung verläuft. Manchmal können wir nicht akzeptieren, dass es wie in jeder Beziehung auch mal Durststrecken gibt. Das finde ich bedauerlich. Manchmal reagieren Orchester sehr emotional und aus dem Moment heraus. Ein Wechsel des Dirigenten ist aber nicht immer die Lösung.
Heute haben einige Dirigenten manchmal drei, vier Posten gleichzeitig, womöglich auf verschiedenen Kontinenten. Warum ist das so?
Vielleicht fühlst du den harten Wettbewerb, vielleicht ist es auch eine Art Sucht, vielleicht eine Frage des Egos.
Kennst du das Risiko?
Ich habe schon eine Ahnung davon bekommen. Manchmal bist du mit einem Repertoire auf Tournee, mit dem du dich gut fühlst, das dir jeden Abend einen Adrenalinschub gibt. Es ist dann so ein gutes Gefühl, auf dem Podium zu stehen, dass sich alles danach ein wenig wie kalter Entzug anfühlt.

Was hindert Dich daran, dem zu erliegen?
Wenn ein neues Stück ansteht, das ich noch nicht so gut kenne, bekomme ich Angst. Ich gehöre nicht zu den Menschen, die sagen, ›ach, irgendwie wird es schon klappen.‹. Ich tendiere zur Panik. Es ist ein schreckliches Gefühl, auf der Bühne zu stehen und nicht ausreichend vorbereitet zu sein. Also studiere ich ein neues Stück intensiv, und bin dann entspannt. Glücklicherweise bewahrt mich diese Eigenschaft davor, dass ich mich im Jetset verliere: Am Ende des Tages muss ich immer wieder zurück an den Schreibtisch, um Partituren zu studieren.
Aber setzt der Erfolg nicht automatisch eine endlose Spirale in Gang, die immer neue Ziele generiert?
Als ich zum Studieren nach Holland kam, nahm ich ein Taxi vom Flughafen und traf mich ein paar Blocks von hier mit einem Schlagzeug-Lehrer am Künstlereingang des Concertgebouw, der gerade aus einer Probe mit dem Orchester kamen. Ich hatte damals den Wunsch, zwei Jahre am Konservatorium zu studieren, und danach ein möglichst gutes Orchester zu finden. Das war meine Vorstellung von Zukunft, und es klang nach einem sehr guten Plan. Ich war glücklich, die Möglichkeit zu haben, im Ausland zu studieren, an einem Ort, an dem das Kulturleben pulsierte. Nichts, was nach diesen zwei Jahren kam, war geplant. Ich hätte mir nie träumen lassen, eine Anstellung beim Concertgebouw-Orchester zu finden. Hätte es mir damals jemand vorhergesagt – ich hätte ich mich gefühlt wie ein Fußballer, der davon träumt, ein anständiger Profi zu werden, und dem jemand sagt, dass er einmal bei Real oder Bayern spielen werde. Ich hatte die Option gar nicht auf dem Schirm. Das bedeutet aber auch, dass es mir heute leichtfällt, dankbar zu sein für das, was ist. Aber klar, vor der eigenen Ambition und den Mechanismen, die sie in Gang setzt, bin ich natürlich nicht gefeit … jetzt habe ich etwas erreicht, was kommt als nächstes?
Was machst Du, damit die eigene Ambition nicht pathologisch wird?
Ich erinnere mich daran, welches Glück ich hatte. Sein Leben davon abhängig zu machen, ob ein bestimmtes Engagement kommt oder nicht, wäre ziemlich dumm. Wenn du es nicht bekommst, bist du unglücklich. Was aber passiert, wenn du es bekommst? Ich liebe Musik, ich bin hungrig nach Musik, ich bin motiviert und habe Energie. Aber wenn es zu viel wird, wachst du in einem Hotel auf und fragst dich, für wen du das alles machst? Die Welt braucht meine Interpretation nicht, meine Familie findet es nicht toll, wenn ich zu viel unterwegs bin, what’s the point? ¶