Eines der abgesungensten Weihnachtslieder der Welt ist das doppelbödigste von allen. Volker Hagedorn folgt seiner Spur aus dem feudalen Frankreich über Mozart und den Dichter Fallersleben bis in die Kreismusikschule, enthüllt die weiblichen Anteile des Rauschebarts und plant das 12.000 Arrangement.

Ich höre es dauernd und werde es nicht leid. Nicht mal in der grausigen Popschnulzversion, mit der Stimme eines verkaterten deutschen Barden der 1980er, wie sie aus den Lautsprechern des Kinderkarussells dringt: »Morgen kommt der…«, es klingt abgewetzt und klebrig, und dazu drehen sich voll besetzt die hochbetagten Motorräder und Flugzeuge und Polizeiautos. Es kann gar nicht gestrig genug sein! »Kinder«, sagt der französische Soziologe Philippe Ariès, »sind eine der konservativsten Gesellschaften der Welt.« Und sie lieben dieses Lied. Zurzeit übt Paul es auf dem Horn, dem F-Horn, er hat sich dafür sogar selbst das A gesucht, denn bis dahin wusste er nur die Töne C bis G zu spielen, und das Lied umfasst nun mal eine große Sexte.

Es umfasst noch viel mehr, und auch deswegen werde ich es nicht leid, selbst dann nicht, wenn ich im leeren Versammlungsraum einer norddeutschen Kreismusikschule warte, während Frido Harfenunterricht hat (Roter Himmel, blaue Wolken) und die Weihnachtsweise aus Saxophontrichtern durch die Korridore plärrt, neben Mozarts Klarinettenkonzert mit Klavierbegleitung. Von Mozart ist sie gar nicht weit entfernt, das ist es ja. Seinetwegen katapultiert mich die simple Melodie, nur Viertel und Halbe, nur Quinten, Quarten und Tonleiterteile, ins vorrevolutionäre Europa der 1780er, nach Paris und Wien, und statt eines Weihnachtsmanns erscheint eine junge Dame der besten Kreise, nach Mode der Zeit grandios dekolletiert, mit irrem Haarturm …

Die Melodie soll schon in den 1740ern in Frankreich gesungen worden sein. Berühmt wurde sie aber erst mit passendem Text in der Zeit verführerischer Intrigen, wie Choderlos de Laclos sie in den »Gefährlichen Liebschaften« offenlegte. 1780 erschien in Paris das Lied Ah, vous dirai-je Maman…, das Geständnis einer jungen Dame, die einem Verehrer erlegen ist. »Leider, Mama, ließ ein Fehltritt / mich in seine Arme fallen.« Eleganter gesagt: »Hélas, maman! un faux pas / me fit tomber dans ses bras.« Dieses Chanson wurde ein europäischer Hit, der offenbar 1781 ungefähr gleichzeitig mit Mozart in Wien ankam – und bei Josepha Barbara Auenhammer. Sie war eine der ersten Klavierschülerinnen des 25jährigen, zweieinhalb Jahre jünger als er, und sie spielte »zum entzücken«, wie er seinem Vater schrieb, dem er zugleich versicherte: »die freulle ist ein scheusal!« Denn der misstrauische Kontrollfreak Leopold kannte das Wiener Gerücht wohl schon, da sei was im Busche.

Ob hässlich oder schön, diese Josepha war »närrisch« (laut Mozart) verliebt in ihn, der große Stücke auf die Pianistin hielt und öffentlich mit ihr spielte – das Es-Dur-Konzert für zwei Klaviere zum Beispiel. Sechs Violinsonaten widmete er ihr. Und als seine Variationen über Ah, vous dirai-je Maman, in dieser Zeit entstanden, gedruckt wurden, setzte der Verleger »Iosephe d´Aurnhammer« als Widmungsträgerin auf den Titel – vielleicht auf Wunsch Mozarts, der ihre Karriere unterstützte: Sie wolle, schrieb er, keinen »kanzley Helden« heiraten, sondern als Pianistin in Paris reüssieren. Wie gut sie spielte und komponierte, hört man ihren sechs Variationen über Der Vogelfänger bin ich ja an, die es an Virtuosität und Esprit tatsächlich mit Mozart aufnehmen können.

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Josepha Auernhammer, die heute vermutlich zwischen Aufträgen und Auftritten pendeln würde, heiratete dann doch einen Beamten und bekam vier Kinder, trat aber immerhin professionell in Wien auf. Vielleicht hat sie auch die genialen Variationen inspiriert, die Mozart aus dem frivolen Chanson machte. Dieser Zwölfteiler in C-Dur sorgte dafür, dass die Tonfolge aus dem ancien régime in die Weltliteratur und ins Repertoire geriet. Derweil machte sich in Deutschland ein schwerbewaffneter Rauschebart auf den Weg: »Morgen kommt der Weihnachtsmann, / kommt mit seinen Gaben. / Trommel, Pfeife und Gewehr, / Fahn und Säbel und noch mehr, / Ja ein ganzes Kriegesheer / möcht´ich gerne haben.« So las man es 1837 im »Deutschen Musenalmanach«.

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So las es auch der Musiklehrer Ernst Richter aus Frankfurt an der Oder, der zum Gedicht des Hoffmann von Fallersleben flugs eine Melodie ersann. Rhythmisch zufällig identisch mit dem französischen Thema, aber in der Linienführung um genau die Spur daneben, die den Kick verfehlt. Wer es war, der um 1900 den militanten deutschen Weihnachtsmann mit der französischen Abenteurerin vermählte, die bei Mozart untergeschlüpft war, das weiß nicht mal der Musikwissenschaftler Ulrich Konrad, der alle Spuren verfolgte.

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Jedenfalls vertrugen sie sich seither bestens, auch wenn sie unterschiedliche Vorstellungen von einem Fest der Liebe haben. Mittlerweile hat der Weihnachtsmann seine Waffen an der Garderobe der Geschichte abgegeben (leider als einziger), und man kann sich einbilden, dass er nach und nach seine weiblichen Anteile entdeckt und den Europäer in sich.

»Leider, Mama, ließ ein Fehltritt / mich in seine Arme fallen.« Volker Hagedorn entdeckt die Urspürunge von ›Morgen kommt der Weihnachtsmann in @vanmusik.

Das alles schwirrt mir durch den Kopf, wenn ich das Lied höre, dröhnend, scheppernd, glühweinumwölkt, gezupft wie gesungen. Deshalb ist es für mich nicht kaputtzukriegen, egal in welcher Version. Schon gar nicht von Paul, dem Siebenjährigen, der der Lebenslust des vordemokratischen 18. Jahrhunderts und ihren Folgen die Entdeckung des A auf seinem F-Horn verdankt. Ich werde jetzt Stimmen für Harfe und Bratsche dazu schreiben, dann spielen wir Trio. Vermutlich das zwölftausendste Arrangement, aber – quelle tradition! ¶

…lebt als Buchautor, Journalist und Musiker in Norddeutschland. Er studierte Viola in Hannover, war Feuilletonredakteur in Hannover und Leipzig und ist seit 1996 selbstständig als Autor u.a. für ZEIT und Deutschlandfunk. Im Rowohlt Verlag erschienen von ihm »Bachs Welt« (2016) und »Der Klang von Paris« (2019). Sein neues Buch »Flammen. Eine europäische Musikerzählung 1900–1918« erscheint im April 2022.