Etwas verwirrt blickt unser Autor auf die musikalische Gegenwart. Volker Hagedorn war ein bisschen zu lange im 19. Jahrhundert, findet aber manches im frühen 21. um so intensiver, bizarrer und, last not least, vertrauter.
Es ist wunderbar, nicht auf dem Laufenden zu sein, oder fast nicht. Die letzte von mir besuchte Veranstaltung mit lebenden Musikern liegt fünf Wochen zurück, die Tageszeitung habe ich schon vor drei Monaten abbestellt, und online lese ich nur wenig über das, was sich gerade in der Musik tut – ich war auf einer Großbaustelle im 19. Jahrhundert und komme als verwirrter Outsider zurück. Es ist interessant, wie das die Wahrnehmung verändert. Das Beste ist zweifellos, dass das Minimum live erlebter Musik enorme Bedeutung bekommen kann und sich eher mit der restlichen Welt, der Realität verbindet als mit einer Kette von Festivaleindrücken, wie man sie als Reisekritiker hinter sich herschleift. So ging mir das mit Salome in Salzburg.
Ich war skeptisch, als vor dem Orchestereinsatz lautes Grillenzirpen zu hören war und dann die Leute mit ihren halbroten Gesichtern auftauchten. Auf die postwagnerische décadence von Strauss ging Regisseur Romeo Castellucci nicht ein, er ist auf seltsame Weise unmusikalisch. Aber vielleicht kommt man nur so auf die Deutung des Propheten Jochanaan als eine Art schwarzem Engel, einem Machofanatiker, der den Messias missbraucht. Ein Fundamentalist, den Salome erlösen könnte statt umgekehrt. Asmik Grigorian ist in dieser Rolle eine extrem moderne, selbstbewusst sinnliche Frau, die auf dem Konzept Liebe besteht. Eigentlich lässt sie nicht dem Mann den Kopf abschlagen, sondern der alttestamentarischen Versessenheit auf Tod, Rache, Keuschheit – so könnte man auch den Kernspruch interpretieren, das Geheimnis der Liebe sei größer als das des Todes.
Seltsame kultische Aktionen gibt es da mit Milch und Pferd und verpackten Menschen, teils eklig, aber immer wahrhaftig, und in aller Rätselhaftigkeit sieht man Gegenwart gespiegelt, von der Menschenverachtung bis zum Wachsen der Schatten. Erschlagen und erfüllt ging ich da raus, begab mich zur Pariser Premiere von Wagners Tannhäuser im März 1861 und traf schon wieder lebende Tiere auf der Bühne, nämlich die zehn lebenden Jagdhunde von Landgraf Hermann, die da allerdings nicht so gut ankamen wie der Hengst im Salzburg 2018, während die Logenpreise ein Vielfaches… aber egal, jetzt genieße ich es, auf die eigene Gegenwart zu gucken wie einer, der sich in einer Epoche nur halbwegs auskennt und sich erstmal an den Auffälligkeiten orientiert.
Hier gibt es einen Pianisten, der via Twitter aus der 1. Klasse des ICE gegen die Bahn wütet, weil ein Zug ausnahmsweise zu früh gefahren ist, und die Wutanfälle kann man in einer großen Wochenzeitung nachlesen! Es gibt einen Musikpreis, der nach einem Skandal abgeschafft wurde und ein paar Monate später unter neuem Namen wieder installiert wird, ohne dass sich am hohlen Kern der Sache etwas geändert hätte – eine als Preisverleihung kostümierte Branchen-Image-Pflege-Maßnahme der Plattenfirmen, die durch eine Übertragung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen geadelt wird. Und alle machen mit, sicher auch die, die ihre alten Trophäen empört zurückgaben. Lustig!
Es gibt Skandale, die irgendwie doch keine sind: Ein Komponist, der nach Donaueschingen weder eingeladen noch von dort ausgeladen wurde, sammelt Unterschriften gegen »Zensur«, weil ihm der Intendant privat erklärt hat, dass er komponierter Kritik an Israel kein Forum bieten wolle. Jedenfalls denkt man wieder über das politische Potential von Musik nach. Noch mehr neue Musik: Die Deutsche Bahn will mit atonalen Klängen sozial Benachteiligte aus ihren Hallen verscheuchen, während der sonst Atonalste von allen es auf über 9000 Youtube-Klicks bringt (für neue Musik ein Hammer in so kurzer Zeit) mit einer diabolisch diatonischen marche fatale für Orchester, in der Helmut Lachenmann Strauss und Strauß, Ravel und Mahler fusioniert.
Das sind die Phänomene, die mir entgegenragen wie auch die Stapel neuer CDs, alle noch in Cellophan. Mal schauen. Der wütende Pianist aus dem ICE hat sich ohne Kopf fotografieren lassen, das ist mal was Neues. Vier Herren eines Streichquartetts haben ihre Gesichter vierteln und zu einem neuen Gesicht zusammensetzen lassen, das ist gruselig. Drei Herren und eine Dame eines weiteren Streichquartetts sitzen so unbehaglich lächelnd vor roter Wand, als erwarteten sie gerade das Urteil des Komponisten selbst über ihre neue Aufnahme, die originellerweise sieben Streichquartetten von Beethoven gilt. Auf drei Covers haben sich Musiker wetterfeste Kleidung angezogen und die Kragen hochgeklappt. Wenn da nicht der kalte Zeitgeist weht!
Aber es gibt auch Pianistinnen in sehr dünnen Kleidern und unterm Strich den Eindruck, dass gute Musikerfotos heute seltener sind als 1860, wo man noch acht Sekunden lang stillhalten musste, bis die Nassplatte belichtet war… Was noch so herumliegt, ist die Zeitschrift »Das Orchester«, der ich entnehme, dass die Komische Oper Berlin ab sofort zwei Tuttibratscher sucht, während die Düsseldorfer Symphoniker nur einen brauchen, im nächsten Sommer. Bis dahin hätte ich also noch Zeit zum Üben, wenn ich unter Dreißig wäre… Grandios, dass es überhaupt noch so etwas wie Orchester gibt! Und dieses Kernrepertoire! Normalerweise ist es musikjournalistische Pflicht, das Übermaß an »Romantik« in den Spielplänen zu geißeln. Aber noch kommen mir Schumann und Berlioz wie Zeitgenossen vor. Mal sehen, wie lange der schöne Effekt anhält. ¶