Ein Interview mit Christoph Dittrich, dem Intendanten des Theater Chemnitz.

Text · Titelbild strassenstriche.net (CC BY-NC 2.0) · Datum 5.9.2018

Eine Welle von Ausschreitungen, Aufmärschen und Demonstrationen ist in den letzten Tagen über Chemnitz hinweggerollt. Nach dem »Wir sind mehr«-Konzert am Montag, veranstaltet das Theater Chemnitz am kommenden Freitag ein Gratis-Open-Air auf dem Theaterplatz mit Beethovens Neunter. Unter dem Motto »Gemeinsam stärker« will das Theater ein Zeichen setzen für eine Kultur der Offenheit und Vielfalt und gegen Fremdenfeindlichkeit, Hetze und Gewalt. Am Freitag will auch die rechtsradikale Szene wieder vor dem Karl-Marx-Monument aufmarschieren. Wir sprachen mit Christoph Dittrich, seit 2013 Generalintendant der Städtischen Theater Chemnitz, über Erklärungsversuche und Grabenkämpfe, die Ausrichtung der bürgerlichen Mitte nach rechts, die Möglichkeiten von Kunst und den Diebstahl von »Wir sind das Volk«.

Foto © Dieter Wuschanski
Foto © Dieter Wuschanski

Sie sind in Dresden geboren, kommen aus einer sächsischen Handwerkerfamilie, Sie haben in Dresden studiert, dann in Riesa bei der Elbland Philharmonie gearbeitet und sind seit 2013 Intendant in Chemnitz, haben also quasi ihr ganzes berufliches Leben in Sachsen verbracht. Die Chemnitzer Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig hat gerade gesagt, dass sie sich jeden Tag und jede freie Minute die Frage stellt, warum die Stimmung so eskaliert ist, aber noch keine Antwort darauf hat. Haben sie schon eine?

Das ist eine große Frage. Ich habe Erklärungsansätze, aber die Situation ist so komplex, dass sie wahrscheinlich im Augenblick niemand kurz und knapp wegerklären kann. Für uns in der Stadt war es schon ein Schock und ein großes Erschrecken, weil wir uns in vielerlei Hinsicht in einer guten, gesicherten Situation wähnten, keine problemlose, aber wirklich eine im Aufwind was die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt, aber auch zivilgesellschaftliche Netzwerke angeht. Rechte Gruppen wollten zum Beispiel schon vor vielen Jahren zum Gedenktag an die Zerstörung von Chemnitz am 5. März die Stadt als Aufmarschgebiet missbrauchen, was erfolgreich zurückgedrängt wurde. Es ist bekannt, dass es rechtsextreme Strukturen gibt, auch wenn wir sie im Alltag selten erleben. Das ist auch immer wieder thematisiert worden. Dass aber innerhalb kürzester Zeit ein Verbrechen zu einer derartigen Mobilisierung des Mobs geführt hat, war ein wirklicher Schock.

Welches Gefühl überwiegt denn mittlerweile?

Die ersten Tage waren es Enttäuschung, Ohnmacht, Wut. Es war kein schönes Gefühl, bei den vielen Anfragen, die kamen, für Dinge haftbar gemacht oder mit Ideen identifiziert zu werden, mit denen man nicht nur nichts zu tun haben will, sondern die man grundsätzlich ablehnt. Nach etwa drei Tagen, und das hält auch immer noch an, ist das Gefühl einer großen Motivation gewichen, so schrecklich das klingt, der Situation auch etwas Gutes abzugewinnen: Dass sie ein Startpunkt sein kann für eine neue, ehrliche Beschäftigung mit den Ursachen für die Probleme, die viele Leute verleitet haben, sich neben die »Falschen« zu stellen. Die verschiedenen historischen Analogien, die einem da aufscheinen, egal welcher Generation man angehört, sind auf der einen Seite erschreckend, auf der anderen Seite ein Ansporn, sich um die Situation zu kümmern.

Hatten Sie in der letzten Woche auch manchmal das Gefühl, in einer Blase zu leben, in der sich alle permanent ihrer selbst vergewissern, vielleicht auch ihrer moralischen Überlegenheit, die aber wenig durchlässig und dialogbereit ist, wo es wenig Kontakt nach außen gibt?

Die Frage trifft einen Kern. Wir alle leben in irgendeiner Blase, diese leeren Echoräume, die Bestätigung des Immer-wieder-Gleichen und der erwarteten Antworten, der Verlust der Diskursfähigkeit, das ist wirklich das Problem. Dem gilt es sich zu stellen. Ich glaube, dass es viele Ängste gibt bei den Menschen, die hier leben. Die haben ganz unterschiedliche Auslöser, werden aber stark auf eine Angst vor Ausländern gelenkt. Natürlich sind wir hier Mitten im Osten Deutschlands, mit den vielen gebrochenen Biographien, mit den 60.000 zum Großteil jungen Menschen, die hier nach der Wende weggegangen sind.

Es ist jetzt viel vom Verlust oder der Wiedereroberung von bürgerlicher Mitte die Rede. Gleichzeitig hat man das Gefühl, dass sich auch in der kulturbürgerlichen Mitte der Kompass zunehmend nach rechts eicht, wenn man zum Beispiel an die »Charta« von Uwe Tellkamp und deren Unterstützer*innen denkt. Verschiebt sich da gerade etwas?

Ich bestätige auch aus meiner Erfahrung, dass es eine Verschiebung dessen gibt, was für möglich und unmöglich gehalten wird, besonders für uns Deutsche aus der historischen Verantwortung heraus. Durch Entgrenzungen, die von Extremisten betrieben werden, sind bestimmte Dinge hoffähig geworden, die aus dem nationalsozialistischen Umfeld kommen. Ich denke zum Beispiel an den Diebstahl der Symbolik und des Vokabulars der Wendezeit, als die DDR-Diktatur wirklich durch das Volk abgeschafft wurde. Der Diebstahl von »Wir sind das Volk!« ist hingenommen worden. Wir haben die Verantwortung, da ein Stoppzeichen zu setzen.

Was ist jetzt die richtige Strategie? Muss man den Dialog suchen? Wenn ja, wo ist die rote Linie? Oder sollte man Radikalität mit Radikalität begegnen?

Mein persönlicher Ansatz ist immer, auf alle Menschen zuzugehen. Wir können ja immer nur ein Offenheitsangebot unterbreiten. Wenn das nicht angenommen wird, wenn man auf wirkliche Radikalität mit Hass und Gewalt trifft, die nicht kommunikationsbereit ist, dann ist das demokratische System dazu verpflichtet, dem Grenzen zu setzen, im juristischen Sinne, aber auch im moralischen. Offen zu sein und Gesprächsangebote zu unterbreiten, sind aus meiner Sicht der Kunst auch wirklich immanent, das ist das, was wir leisten können. Die Kunstausübung lebt per se von ihrer Internationalität und Grenzenlosigkeit. Sie bearbeitet nicht nur mit Argumenten und Kriminalitätsstatistiken den Kopf, sondern geht eben auch an das Herz ran.

Es gibt eine rechtsextremistische Plattform in den USA, für die klassische Musik das Ideal weißer, westlicher Überlegenheit verkörpert. Klassische Musik ist immer auch von autoritären Regimen instrumentalisiert worden. Es gibt auch prominente klassische Musiker, die offen für die AfD arbeiten. Macht es sich die Klassikkultur manchmal zu einfach, wenn sie – wie Ihr Generalmusikdirektor – sagt: Wir machen Musik, also sind wir Humanisten, und Musik verbindet sowieso alle?

Die Wirksamkeit von Kunst entsteht natürlich immer aus der Kommunikation mit der Situation, im Positiven wie im Negativen. Wir nehmen für uns in Anspruch, es in einem verbindenden Sinne zu tun. Was wir zum Beispiel am Freitag vorhaben, mit unserem Konzert auf dem Theaterplatz, einem wichtigen Ort in der Stadt, einer der wenigen, der nach der vielfachen Zerstörung und Umgestaltung der Stadt noch ein historisches Gebäudeensemble beinhaltet: Sich dort zu treffen und das Mittel der Kunst zu wählen, um Gemeinschaft herzustellen – das kann über die Ratio weit hinausgehen und den Einzelnen in seinem Empfinden erreichen. Das ist das Wichtige und ein Wesensmerkmal von Kunst.

Foto strassenstriche.net (CC BY-NC 2.0)
Foto strassenstriche.net (CC BY-NC 2.0)

Muss es dafür wieder unbedingt Beethovens Neunte sein?

Das hat ganz pragmatische Gründe, das gebe ich ganz offen zu. Wenn man innerhalb von Stunden so etwas synthetisiert, muss es einfach leistbar sein. Bei der Neunten ist das Repertoire verfügbar, dazu kommt die hohe Zahl möglicher Beteiligter an diesem Werk, und dann war uns auch wichtig, für ein völlig heterogenes Publikum, von unseren Fans und Klassikkennern bis zu Menschen, die vielleicht niemals den Fuß über die Schwelle eines Theaters oder Opernhauses setzen würden, einen Nukleus zu bieten, der Bekanntheit und Identifikation mit einer humanistischen Idee gewährleistet. Deswegen war diese Entscheidung relativ schnell gefällt. Wir erhalten gerade stündlich weitere Zusagen von Chorsänger*innen aus ganz Deutschland, die hierherkommen, um uns zu unterstützen.

Konzerte wie das am Montag oder Ihres am Freitag sind wichtige, aber auch einmalige, symbolische Akte. Gibt es darüberhinausgehende, längerfristige Pläne?

Die Frage wurde mir schon am Dienstagmorgen gestellt, als ich dachte, ›mein Gott, ich habe Mühe den Muskeltonus zu lösen, und die wollten schon wissen, was ich jetzt mache. Ich bin doch nicht der Polizeipräsident‹. Einige Dinge, die wir zusätzlich tun werden, scheinen aber mittlerweile auf. Wir haben zum Beispiel unglaublich viele Sympathiebekundungen aus unserem Theaterumfeld bekommen, ob das Hasko Weber vom Nationaltheater Weimar war, oder eine ganze Reihe von Schauspieler*innen, die in Berlin und ganz Deutschland heiß geliebt werden, ihre Karriere aber hier in Karl-Marx-Stadt begonnen haben, Horst Krause oder Andreas Schmitt-Schaller zum Beispiel. Das ist für uns ein Ansatzpunkt zu sagen, ›Mensch, dann kommt doch mal her, das Thema ist viel größer als Chemnitz, wir setzen das fort, und zwar genau in dem Augenblick, wenn die Kameras hier wieder abgezogen, die Mikrofone ausgeschaltet sind und auch die Bundespolizei wieder weg ist. Wir sind dann immer noch hier und können, dürfen und müssen uns diesem Thema widmen.‹ Wir haben außerdem gerade in dieser Spielzeit – als ob wir es geahnt hätten –  eine Uraufführung, ein Musical von Wolfgang Böhmer und Peter Lund, in Kooperation mit der Neuköllner Oper. Es nimmt Ideen aus der Nibelungengeschichte auf, die Zugehörigkeit zu einer Clique, das Anders- und Ausgestoßen-Sein, auch der Gewalt, und überträgt sie auf eine Jugendsituation der Gegenwart. Da ist der Finger total drauf, das ist eine gute Möglichkeit, sich diesen Fragen im Rahmen der Theaterpädagogik an den Schulen zu stellen.

Waren sie gestern bei dem Konzert?

Ja, wir sind hier gerade in einem Ausnahmezustand. Wir sind mitten in der Spielzeitvorbereitung und haben extra unsere Probenpläne so umgestrickt, Dinge vor- und zurückgeschoben, das möglichst viele, oder eigentlich alle, irgendwie hingehen können. Auf der einen Seite, um dabei zu sein und sich zu zeigen, aber natürlich auch, damit die Künstler*innen die Eindrücke mitnehmen können in ihre Arbeit.

Beneiden sie Popkultur dafür, dass sie Widerspruch und Protest so direkt artikulieren kann?

Ein Neidgefühl habe ich nicht, ich freue mich, dass es so ist. Ich fand es ganz toll, und ich hoffe die Popkollegen sind mir nicht böse, ich spreche da wirklich von Kollegenschaft, das ist Kunst, egal wie der Einzelne seinen Selbstausdruck gestaltet. Es ist toll, dass so ein Konzert über Kraftklub, die ja aus Chemnitz kommen, so schnell möglich war. Ein ganz enorm wichtiges Zeichen. Einen Neid gibt es da überhaupt nicht, wir tun es ihnen gleich, einfach mit anderen Mitteln. Wir sind ja hier vor Ort, wir tun es jeden Tag.

Wie ist denn das Stimmungsbild innerhalb ihres – internationalen – Ensembles?

Einige ausländische Künstler*innen, die zum ersten Mal bei uns sind und bald ihren Saisonstart haben, waren natürlich wirklich verstört. Die sind ein paar Tage hier, und plötzlich gibt es Aufmärsche, bei denen »Deutschland den Deutschen – Ausländer raus« gebrüllt wird und einige den Hitlergruß zeigen. Wir haben im Theater Gottseidank einen fantastischen Zusammenhalt, die Kolleginnen und Kollegen fühlen sich betreut und auch wohl hier, aber das zeigt uns immer ganz persönlich, wie wahnsinnig diese Grenzziehungen sind, in einer Stadt, deren Wirtschaft dringend angewiesen ist auf ausländische Fachkräfte, deren Technische Universität den höchsten prozentualen Ausländeranteil aller sächsischen Universitäten hat, und dann kommt es zu einem solchen Widerspruch, das ist unglaublich. Ich persönlich erlebe im Theater ausschließlich Bekenntnisse und Engagement für die Offenheit, weiß aber auch, dass wir mit unseren 450 Mitarbeiter*innen genau wie die Polizei und andere Institutionen einen Querschnitt der Bevölkerung abbilden. Es gibt bestimmt auch einige, die anderweitig sympathisieren. Aber ich kenne keinen.

Ihre Oberbürgermeisterin hat auch gesagt: »Mein Eindruck ist, dass sich hier ein Graben aufgetan hat und ich bin mir nicht sicher, was in diesem Graben gerade zu verschwinden droht.« Was wird darin verschwinden, was ist ihre Prognose wie es weitergeht?

Ich finde die Beschreibung wirklich ganz treffend. Was das Positive daran ist, was ich auch als hoffnungsvoll empfinde: Wenn man jetzt die Ehrlichkeit aufbringt, einen solchen Graben zu beschreiben, nicht zu sagen, das wird schon, und wir reden ein bisschen, und dann ist alles wieder in Ordnung. Nein, es gibt dort Gräben die sich auftun, und nur, wenn man sie sieht und kennt, kann man daran arbeiten, sie zu überwinden. Dieser Graben, das sind auch die Kategorisierungen, die immer stattfinden im Diskurs. Es ist nicht mehr möglich, wirklich eine Diskussion um eine These zu führen, es gibt sofort einen Stempel: Das ist links und das ist rechts, und in der Mitte ist der Graben. Dann ist kein Austausch mehr möglich. Ich glaube daran müssen wir arbeiten. Wir werden uns darum bemühen, diese Gesprächsräume zu ermöglichen.

»Das ist links und das ist rechts, und in der Mitte ist der Graben.« Ein Gespräch mit Christoph Dittrich, Intendant des Theater Chemnitz, in @vanmusik. 

Auch Sachsen hat einen Stempel bekommen, ich denke zum Beispiel an das Cover der aktuellen Ausgabe des Spiegel. Schmerzt Sie das?

Das schmerzt mich wahnsinnig. Ich bin wirklich von Innen heraus ein stolzer Sachse. Dieser Stolz rührte für mich immer aus der unglaublich reichen Kunsttradition, ob August der Starke und die Bildersammlung, oder die Musiker, die hier gearbeitet haben, Schütz, Wagner, Mendelssohn, Bach, die gesamte Musiktradition des Erzgebirges, die Gesangskultur, der Instrumentenbau, was das für ein Geschenk ist in dieser Dichte. Und jetzt spielt das überhaupt keine Rolle mehr und wird alles vom Rechtsextremismus überschattet, das schmerzt mich sehr. Ich bleibe trotzdem gerne hier. Der Heimatbegriff hat natürlich viel mit Familie zu tun, dort wo man sich wohlfühlt, aber auch mit Orten, mit Landschaften, der Sächsischen Schweiz, dem Erzgebirge, den wunderbaren Städten, die wir hier haben. Aber die Sächsische Schweiz ist es eben auch ein Hort rechten Gedankenguts. Man könnte wahnsinnig werden. ¶

... ist Herausgeber von VAN. Er studierte Development Studies, Ethnologie und Asienwissenschaften in Berlin, Seoul, Edinburgh und an der London School of Economics und arbeitete im Anschluss zehn Jahre als Berater in Projekten der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. 2014 gründete er mit Ingmar Bornholz den VAN Verlag, wo er auch als Geschäftsführer fungiert. hartmut@van-verlag.com