Während die meisten Musikjournalisten ihre Koffer für die Festivals packen, steht unser Autor in einer norddeutschen Kleinstadt am Kopierer und gerät per Zeitschleife in eine atemberaubende Folge von Uraufführungen: Guillaume Tell, Le Prophète, Faust. So weit sind die gar nicht entfernt, findet Volker Hagedorn.
Vielleicht braucht man einen sonnigen ersten Ferientag wie, zum Beispiel, in Niedersachsen, um in die große Zeitschleife zu geraten, wo ferne, große Opern auftauchen zwischen den Schreibwarenregalen einer norddeutschen Kleinstadt. Dort, wo Guillaume Tell, Le Prophète, Faust keinen interessieren und schon vor 189 bis 159 Jahren keinen interessierten, als sie in Paris, der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts, uraufgeführt wurden. Wie sie auf die Bühne gebracht wurden, welcher Sänger wo stand und wohin ging und in welchem Gewand, das haben die Regisseure aufgeschrieben. Die Opern, im Team auf den Erfolg hin konzipiert, sollten überall und durch die Jahre so gespielt werden können, dass sie bestens funktionierten und volle Häuser und volle Kassen brachten.
In Paris sind tausende solcher livrets scéniques aufbewahrt worden, eine Auswahl ist gedruckt zu haben. Ein paar brauche ich für meine Arbeit, länger, als es die Leihfrist für den raren Band erlaubt, und so gehe ich ins Schreibwarenkaufhaus der Kleinstadt, wo ein paar Kopiergeräte stehen. Sie haben dort viel mehr als nur Papier und Stifte, es gibt auch aufblasbare Gartenpools, Süßigkeiten und eine Spielwarenabteilung. Wenn in der Kleinstadt ein Kindergeburtstag ansteht, geht das Kind mit der Mutter hin (hier gilt noch die alte Rollenverteilung), sucht sich Comics und Spielzeug aus, Teile um die zehn Euro, und legt sie in eine Kiste mit seinem Namen. Auf den Einladungen für die anderen Kinder steht dann: »Ich habe eine Kiste im Kaufhaus.«
So muss sich keiner den Kopf zerbrechen über das passende Geschenk. Man wählt eines der Teile, geht zur Kasse, die Verkäuferin fragt, ob es für einen Jungen oder ein Mädchen sein soll, und packt es dann blau oder rosa ein. Man kann daran sehen, mit welch festen kleinen Ritualen sich die Leute in so einer Kleinstadt gegen die Beunruhigungen der weiten Welt versichern, die natürlich trotzdem jeden beinahe in Sekundenschnelle erreichen. Von dem Tempo war man zur Zeit von Gounods Faust auch nicht weit entfernt, 1859, es wuchs schon ein world wide web, die elektrische Telegraphie, und ein Jahr später wurde das erste Telefax verschickt, die in Signale aufgelöste Unterschrift von Gioacchino Rossini, der sich das zur Zeit seines Tell nicht hätte träumen lassen.
Da stehe ich also am Kopierer und wende die Seiten. Immer zwei auf ein Din-A-3 Blatt, die Klappe bleibt offen, und immer kurz bevor die grelle Lichtleiste über den Buchrand hinausgleitet, schließe ich die Augen… Während der Tell-Ouvertüre ist der Vorhang schon offen, die Schweizer Dörfler kommen über eine Brücke von hinten nach vorn, später auch Tell selbst mit geschnürten Ledersandalen, braunem Mantel aus Serge und kleiner Kappe mit Adlerfeder. Es war die letzte große Premiere im Königreich der Bourbonen; ein gutes halbes Jahr später kam die Julirevolution und fegte Karl X. hinweg, aber nicht Guillaume Tell. Alle diese Opern haben ihren politischen Hintergrund, irgendetwas brodelte immer. Die Lichtleiste eilt über die Jahrzehnte, ihre Kostüme und Regieanweisungen, während sich der vormittägliche Laden belebt.
Ah, der Prophet! Ich würde zu gern mal ein präzises Remake der Blockbuster-Produktion von 1849 sehen. Da war Louis Napoléon noch Präsident der 2. Republik und sah aus seiner Loge zufrieden zu, wie auf der Bühne ein dahergelaufener Gekrönter im flammenden Inferno endet. Drei Jahre später war er schon selbst Kaiser, ein superkapitalistischer Kaiser, der mit dem Vertrauen der Armen zur Macht gekommen war – es ist alles nicht so weit weg. Faust, Charles Gounod. Der hatte doch gerade erst Geburtstag, 200 Jahre. Oder war neulich die Uraufführung? Das Théâtre Lyrique war wunderschön, eine schmale Fassade mit schlanken Säulen, hinter der kein Fremder eine geräumige Oper vermutet hätte. Das Haussmann dann hat abreißen lassen, der Terminator.
Welche der abertausenden Takte, die hinter den Pariser Regienotizen tönen, schwirren noch hier zwischen den Regalen? Das Allegro aus der Tell-Ouvertüre würden die Leute wohl kennen. Und die Juwelenarie aus Faust wenigstens den Worten nach: »Ha, welch ein Glück, mich zu seh´n…!« Denn das ist der Dauerbrenner der Bianca Castafiore aus Tim und Struppi, sie hat ihre realen Kolleginnen längst in den Schatten gestellt, jedenfalls beim großen Publikum. Man könnte mal ihr opulentes Renaissanceornat für diese Rolle in Der Fall Bienlein mit dem schlichten Kleid der Uraufführung vergleichen… ein letztes Mal gleitet die Lichtleiste über die Zeilen. Augen zu, Augen auf.
An der Kasse wird ein Geschenk eingepackt. Rosa Papier. Ich habe Zeit, viel Zeit, 160 Jahre, 190 Jahre… Auch die andern Leute haben Zeit. Kein Schulstress mehr, sanfte Sommermilde breitet sich aus, während die Welt, wohin man blickt und klickt, aus dem Ruder läuft. Auf einmal mag ich dieses kleine, geordnete, zerbrechliche Dasein hier im Laden, das sich gegen die Zeitläufte behauptet, so wie die Opern in meinem Stapel. Schon lange haben Karl X., Louis Philippe, Napoléon III. abgedankt, Regierungen und Theater sind zusammengestürzt und neu entstanden, und immer noch singt man dieses Zeug! »Dreizehn sechzig.« Also knapp zwei Francs. Und die Sonne ist dieselbe. ¶