Musik des 19. Jahrhunderts kann auch jetzt Avantgarde sein – und ein social event dazu. Wenn man es so macht wie Ingo Metzmacher, der für das gigantisch besetzte Requiem von Hector Berlioz das musikalische Hannover zusammentrommelte. Volker Hagedorn findet das horizonterweiternd.
Die Erde ist keine Scheibe, aber meistens wird auf ihr noch so gelebt und gedacht – am Tellerrand ist meistens Schluss. Was man schon kennt, ist das Maß aller Dinge, jeder bewacht sein Revier, und neben dem aktuellen Tag ist alles andere nur Vergangenheit. Das merkt man am deutlichsten, wenn es mal nicht so ist. Wie jetzt in Hannover, wo im Kuppelsaal so viele Tellerränder überschritten wurden, dass einem schon schwindlig werden konnte. Vielleicht eignet sich die Stadt für so etwas, weil sie nicht am Rand, in einer Nische, in einem Kessel liegt, auch nicht unter einer Käseglocke von Metropolenstolz. Das hindert Hannover nicht, sich für 2025 als Kulturhauptstadt zu bewerben – was allein die Chöre angeht, dürfte die Stadt in Europa konkurrenzlos sein.
Ich wüsste jedenfalls nicht, wo man sonst neun exzellente Chöre fände, die sich, Tellerrand Nr. 1, ohne Reviergezicke zusammentun zu einem Chor von 300 und auch dann nicht brüllen, wenn Forte in den Noten steht, sondern homogen, sauber, beschwingt ein Werk intonieren, das keineswegs zum Repertoire gehört. Tellerrand Nr. 2: Das Requiem von Hector Berlioz, die Grande Messe des Morts von 1837, ist schon deswegen selten live zu hören, weil man außer dreihundert Sängern noch, unter anderem, zwölf Hörner, vierzehn Pauken, hundert Streicher und mehrere Fernensemble mit Blechbläsern braucht. Dafür teilten sich Musiker der Radiophilharmonie mit Studenten die Pulte. Lohnt sich der Aufwand?
Tellerrand Nr. 3, eigentlich der Wichtigste: Das Requiem, so, wie Ingo Metzmacher es mit 500 Mitwirkenden vor 2500 Zuhörern und Zuschauern realisiert hat, ist ein krass modernes Stück, weit weg von den gängigen Musiksprachen um 1840, selbst von Berlioz´ eigenen Werken bis dahin, eingeschlossen die Symphonie fantastique. Extreme Farbkombinationen, einsame Linien, zersplitterte Satzweise, Harmonien wie vom Mond gefallen, Verteilung von Gruppen im Raum, sodass die Zuhörer zum Jüngsten Tag von allen Seiten angeblasen werden. Oder zur Revolution. Die von 1830 hatte Berlioz mitten in Paris erlebt, akustisch vor allem, da er zähneknirschend an seiner Bewerbungskantate für den Rompreis bastelte. Jetzt kann man hören, wie eine Situation explodiert, Kampfrufe und Kanonendonner eingeschlossen.
Nur eben, Tellerrand Nr. 4, nicht als Historiengemälde, sondern als strukturelles Ereignis, in dem wir unsere Verunsicherung und Verletzbarkeit wiedererkennen, dem wir auch körperlich ausgeliefert sind: Zwischen Paukendonner von vorn und einem Blechbläserseptakkord im Rücken wird der Körper ganz Ohr, und die Jahre zwischen 1837 und 2018 sind nur noch ein Windhauch. Ebenso, wenn Werner Güra das Sanctus in lichter Höhe so unangestrengt singt, als hörte man Adolphe Nourrit, den Tenor der Uraufführung im Invalidendom. Über den Tellerrand der Zeit gerät man, Nr. 5, auch konkret: In Hannover hat sich Berlioz schon 1853 sauwohl und besser verstanden gefühlt als im hassgeliebten Paris. Neuer Chef der Hofkapelle war Joseph Joachim. Und Georg V., der junge, blinde König von Hannover, war glühender Fan des Komponisten.
Briefe dazu kann man in Sekundenschnelle finden auf hberlioz.com, der besten Website, die es zum Künstler gibt, seit gut zwanzig Jahren betrieben von zwei Enthusiasten in Edinburgh. Für VAN hatte ich sie im vorigen Jahr interviewt. Dieses Porträt hat man im Team der Kunstfestspiele Herrenhausen gelesen – und daraufhin den Tellerrand (Nr. 6) zwischen Netz und Praxis übersprungen: Monir Tayeb und Michel Austin wurden nach Hannover eingeladen. So kamen sie aus dem Schatten ihrer 13.000 Berlioz-Dateien mitten ins Geschehen. Einer Sache sahen sie allerdings skeptisch entgegen: dass nach dem Requiem ohne Pause Stille und Umkehr (1970) von Bernd Alois Zimmermann gespielt werden würde.
Es war, Überschreitung Nr. 7, eine geniale Idee. Denn Berlioz’ Totenmesse ist eine offene Musik, kein fugendichtes Werk, in dem man Bach´sche Oratorien fortgeschrieben hören oder sich an einem vertrauten Personalstil wärmen könnte. Es ist zerfetzt und existentiell, es endet mit leisen, einsamen Tönen der Pauke, die eher ins Weite führen als in den Himmel. In dieser Weite trafen sie sich mit dem zerbrechlichen und meditativen Gewebe eines Orchesterstücks, das um den Ton d und einen kreisenden, triolischen Rhythmus herum sparsam Farben blühen lässt. Das war kein Kommentar, keine Dramaturgenvirtuosität – es war ein Raum zum Nachdenken und Weiterdenken, nichts ging verloren.
Fazit: alles gut? Besser: Alles offen, auf einem Niveau, das man selten erlebt. Über den Dirigenten Ingo Metzmacher, klar, inspirierend, ohne einen Hauch von Herrschermacke, könnte der blinde König Georg V. wie damals zu Berlioz sagen: »Wie Sie dirigieren! Ich kann Sie nicht sehen, aber ich fühle es gut.« ¶