Ein Walzer für das Unterbewusstsein in Kubricks Eyes Wide Shut.

Die Hauptfigur Fridolin aus Arthur Schnitzlers Traumnovelle begibt sich auf eine erotische Odyssee, nachdem er und seine Frau sich gegenseitig ihre Betrugsfantasien gestanden haben. In einer Geheimgesellschaft sieht er sich einem Tableau der Nacktheit gegenüber, die seine Lust am Zuschauen befeuert und ihn in seinem Begehren gleichzeitig abweist: »…und dass jede dieser Unverhüllten doch ein Geheimnis blieb und aus den schwarzen Masken als unlöslichste Rätsel große Augen zu ihm herüberstrahlten, das wandelte ihm die unsägliche Lust des Schauens in eine fast unerträgliche Qual des Verlangens.«In seinem letzten Film Eyes Wide Shut verhandelt Kubrick die Spannung aus Lust, Sehen, Begehren und Scham.

Mit ihrem Erscheinen 1926 ließ Schnitzlers Traumnovelle die Wiener Gesellschaft erschaudern. In seiner vieldeutigen Erzählung legt der Autor den Seelengrund eines Wiener Ärzteehepaares bloß und blickt in den Abgrund der Triebwelt. Die Träume, die sich Albertine und ihr Mann Fridolin gegenseitig anvertrauen, bleiben nicht bloße Träume. Von der Eifersucht getrieben begibt sich Fridolin in die traumhaft verzerrte Realität einer maskierten Geheimgesellschaft mit ihren Orgien- und Mysterienfeiern, in denen die Gesetze der Moral ignoriert werden.

Aus dem Wien des beginnenden 20. Jahrhunderts transferiert Kubrick die Geschichte von Albertine und Fridolin ins New York des endenden 20. Jahrhunderts. Die Inszenierung von Spiel, Licht und Raum evoziert beim Zuschauer einen lustvollen Blick, der immer wieder beschränkt, beschämt abgewendet wird und neugierig hinter der Maske hervorblinzelt.

Bereits im Vorspann des Films, in den ersten eineinhalb Minuten wird dieses Spiel mit Lust, Verlangen und Scham vorgeführt. Zwischen den schlichten Schrifttafeln des Titels erscheint drei Sekunden lang eine Einstellung, die die Protagonistin wie durch ein Schlüsselloch beobachtet. Mit dem Rücken zur Kamera, in der Mitte eines Raumes lässt sie ihr schwarzes Abendkleid zu Boden fallen und tritt im Rhythmus der Musik aus ihm heraus. Im nächsten Augenblick ist die Leinwand wieder schwarz. Der Eindruck der unbekleideten Frau nur noch verschwommen, wie kurz nach dem Aufwachen im Kopf des Zuschauers. Hier wird der voyeuristische Blick des Zuschauers vorgeführt und ihm gleich wieder entzogen. Der unmittelbar danach eingeblendete Titel des Films bringt das Ganze auf den Punkt: Eyes Wide Shut. Die Augen weit aufgerissen, um sehen zu wollen, es aber nicht zu können und die darauffolgende geblendete, beschämte Abwendung.

Begleitet wird die Eröffnung des Films von Schostakowitschs Walzer Nr. 2 aus der Suite für Varieté-Orchester. Der Walzerrhythmus weckt Assoziationen mit Wien, an Strauss‘ Walzer und damit an die Literaturvorlage des Films. Gleichzeitig schafft die Melodie in c-Moll einen lust- und geheimnisvollen Rahmen für die ersten Einstellungen des Films. Sie zieht den Zuschauer mit in die Zimmer des New Yorker Apartments, lässt die Distanz zur nackten Frau schwinden. Die Musik, die ursprünglich Anfang der 1950er Jahre von Schostakowitsch als Hintergrundmusik für eine Volksfestszene komponiert wurde, bekommt dank Kubrick ihren idealen Einsatzort. Sie untermalt immer wieder die tägliche Routine der Protagonisten und lässt hinter der alltäglichen Normalität einer Großstadtfamilie Verlangen, Geheimnis und Lust durchschimmern.

Schostakowitschs Walzer ist die musikgewordene Maske. Die Maske, in Freuds Traumdeutung das Symbol für den Tod, versinnbildlicht den Wunsch, sich selbst zu verbergen und gleichzeitig den anderen zu sehen. Sehen ohne gesehen zu werden, sich vor dem Blick des anderen aus Scham zu verwehren, verhüllte Blicke im Angesicht nackter Körper – all das spielt bei der oberflächlichen Betrachtung der Alltagsszenen der Hauptfiguren keine Rolle. Durch Schostakowitschs Musik wird diese Ebene den Szenen auf erstaunliche Weise hinzugefügt. Dieser Walzer macht die morbide Gefährdung unseres Alltags durch die Macht unseres Unterbewusstseins hör- und spürbar. ¶