Der Librettist Stephen Wadsworth über die Zusammenarbeit mit Leonard Bernstein
Als Komponist erlebt Leonard Bernstein im Jahr seines 100. Geburtstags eine Art Comeback. Schon klar, seine West Side Story erfreute sich immer ungebrochener Popularität. Aber sie war auch die Hypothek, die Bernstein von 1957 an sein ganzes restliches Leben lang belastete. In einer Zeit, in der man, um als Komponist ernst genommen zu werden, seriell schreiben musste und der Begriff des Eklektizismus’ noch anrüchig war, hatte es jemand wie Bernstein, der an die Tonalität glaubte, ein genialisches Talent für melodische Songs hatte und am liebsten die unterschiedlichsten Stile und Tonlagen mischte, mehr als schwer. Regelmäßig wurden die Uraufführungen der Werke, die er nach seinem Weggang von den New Yorker Philharmonikern 1969 schrieb, verrissen. Heute trifft man nicht nur sein Violinkonzert im Repertoire der Geiger an, auch früher kaum nachgespielte Stücke wie seine gewaltige Mass von 1971 liegen mittlerweile in zig Aufnahmen vor. Allerdings gibt es weiterhin vieles zu entdecken. Darunter Bernsteins vielleicht ambitioniertestes, auf jeden Fall aber sein persönlichstes Werk: Seine einzige »richtige« Oper, A Quiet Place, mit seiner düsteren Darstellung einer amerikanischen Alptraum-Familie, in deren Zentrum der schwule Junior steht, ein stark autobiografisches Werk, dazu Bernsteins komplizierteste Partitur. Für einen Film über diesen »unbekannten« Komponisten Bernstein für ARTE, der im Herbst gesendet wird, treffe ich in New York Stephen Wadsworth, von dem das A Quiet Place-Libretto stammt, in der Juilliard School, wo er unterrichtet. Wadsworth ist ein extrem gut gelaunter Zeitgenosse ohne Scheu seine Gefühle zu zeigen, dazu mit einem entwaffnenden Sinn für Humor, der sicherlich einen guten Anteil daran hatte, dass er die nicht immer einfache Zusammenarbeit mit Bernstein unbeschadet überstand und heute so breitwillig darüber erzählt.

VAN: Denke ich an Bernstein, sehe ich die Bilder aus der West Side Story-Verfilmung vor mir und die zahllosen Konzerte, bei denen er dirigierte und die in meiner Kindheit in den 1980ern wieder und wieder im Fernsehen liefen. Wie bekannt war denn Bernstein als Komponist Anfang der 1980er, als Sie ihn kennenlernten?
Stephen Wadsworth: Es war ernüchternd. Alles, was Ende der 1970er, Anfang der 1980er über ihn als Komponisten geschrieben wurde, war: ›Leonard Bernstein ist die größte Enttäuschung der amerikanischen Musikgeschichte. Es ist ihm nicht gelungen, eine zweite West Side Story zu schreiben.‹ Überall war das zu lesen. Furchtbar. Und sehr persönlich.
Wie kam es zur Zusammenarbeit mit Bernstein 1980? Sie waren ja damals noch sehr jung und hatten keinerlei Referenzen.
Ich hatte gelesen, dass er keinen Librettisten finden konnte. Er hatte es mit ein paar seiner alten Partner versucht, aber es hatte nicht geklappt. Er wollte etwas Größeres schreiben. Eine Oper. Zur selben Zeit hatte ich eine Kolumne für den ›Saturday Review‹, und es gab eine Reihe namens ›Creators on Creating‹. Und ich schlug vor, etwas über Bernstein zu machen. Also schrieb ich ihm: ›Ich war mit Ihrer Tochter in Harvard, habe allerdings keinen Abschluss. Und – äh – könnten Sie mir ein Interview geben? PS: Interessiert an Libretti?‹ Ich war 26 Jahre alt. Und er rief zurück. ›Kommen Sie am Dienstagnachmittag vorbei mit einem Szenario zu einer Fortsetzung von Troubel in Tahiti, und Sie kriegen Ihr Interview.‹ Cool. Abgemacht!

Offensichtlich ging die Sache gut für Sie aus …
Ich musste mir eine Aufnahme besorgen und Partituren. Und alles ziemlich flott, weil es schon Freitagabend war. Und ich glaube, ich schlief zwei Tage nicht, und schrieb am Ende eine Art Treatment über die Figuren aus Trouble in Tahiti und was aus ihnen nach all den Jahren wurde. Darin war es noch der Sohn, der gestorben war, nicht die Mutter. Und diese Trauer war echt, denn ich hatte erst kurz davor meine Schwester bei einem Autounfall verloren. Und das war es, was uns verband, denn seine Frau Felicia war im Jahr zuvor an Krebs gestorben. Er sagte: ›Oh mein Gott, ich kann nicht glauben, dass wir beide gerade erst jemanden verloren haben …‹
Wie war er damals?
Er rauchte zwei Zigaretten gleichzeitig und trank einen Scotch nach dem anderen. Viele leere Gläser im Zimmer. Er war wirklich fertig. Nicht sehr glücklich und sehr misstrauisch. Er erzählte mir sofort, was alles falsch an meinem Leben war. Es war ein dreistündiger Rede-Marathon. Und dennoch fanden wir zwischendrin heraus, dass es viele Dinge gab, die uns beide faszinierten. Das war dann die Grundlage für die Zusammenarbeit.
Hatte sein desolater Zustand etwas mit dem Tod seiner Frau zu tun?
Er liebte Felicia über alles. Sie war sein bester Freund. Fehlte trotzdem etwas in der Ehe? Ja, sicher. Wie in allen Ehen. Er fühlte sich verantwortlich für ihren Tod, da er sie kurz zuvor für seinen Freund Thomas Cothran verlassen hatte. Als er dann wieder zu ihr zurückkehrte, bekam sie Krebs. Und er blieb bei ihr und war für sie da. Aber er kam nie über seine Trauer und seine Schuldgefühle hinweg.
Ich hatte eigentlich eher das Bild eines strahlenden Stars vor mir, wenn ich an den selbstbewussten, charmanten Bernstein aus den TV-Shows der 60er und 70er denke.
Damals hatte er unglaubliche Selbstzweifel. Es war nicht so, dass er glaubte, das größte Stück der Welt zu schreiben. Es war vielmehr so, dass er wusste, dass es die reinste Hölle für ihn werden würde, diese Oper zu schreiben. Aber das Schlimme war die Ablehnung der Leute um ihn herum, als sie erfuhren, dass ich mit ihm arbeiten würde. Sie sagten: ›Na, dann viel Glück. Das wird eh nichts.‹

Wie kann man sich die Zusammenarbeit vorstellen?
Ich erzähle Ihnen eine Episode als Beispiel. Lange passierte wenig. Aber dann fuhren wir im Winter 1982 für ein paar Monate nach Bloomington. Der Direktor der Universität dort hatte Bernstein eingeladen und angeboten, er könne in Workshops mit den Studenten seine Musik ausprobieren. Und er kam dort an – und schlief neun Tage lang. Wenn ich das sage, meine ich das buchstäblich: Von 24 Stunden schlief er 22. Die Fenster waren mit schwarzen Müllbeuteln verklebt, so, dass es dunkel war. Aber eines Tages hörte ich das Klavier. Einen alten Schlager. Who put the snatch on the Lindbergh baby? Ich lief nach oben. Alle Mülltüten waren weggerissen. Und da saß er. Splitterfasernackt und spielte Klavier. Er sah aus, als wäre er vor 20 Minuten geboren worden. Ich sagte: ›H- hallo.‹ Und er sagte: ›Okay, womit fangen wir an?‹
Wie vertrug sich denn Bernstein, der Dirigent, mit Bernstein, dem Komponisten?
Einmal hatte er unabsichtlich Brahms‘ zweite Sinfonie zitiert, eine Melodie und ein paar Harmonien daraus, und ich sagte: ›Ah! Brahms‘ Zweite!‹ Und er rief wütend: ›Fuck you!‹, und radierte es aus. ›Siehst du, das ist genau das Problem. Ich gehe auf Tour und dirigiere Brahms‘ Zweite und Mahlers Fünfte und versuche, nicht daran zu denken, und wenn ich dann komponiere, sind sie plötzlich wieder da.‹
Die Uraufführung von A Quiet Place fand 1983 in Houston statt. Wie lief sie?
Die Leute in Houston waren gekommen, um eine Ägyptische Prinzessin und Elefanten zu sehen. Sie verstehen schon, was ich meine. Und dann sahen sie dieses weiße Vorstadthäuschen und all diese Alpträume ihres eigenen Lebens und dem ihrer Kinder auf der Bühne. Es war das Schlimmste, was sie je gesehen hatten. Wahrscheinlich ein wenig zu schockierend. (lacht)
Es gibt dieses ominöse Projekt einer ›Holocaust‹-Oper, die Bernstein in den 1980ern in Angriff nahm. Waren Sie da involviert?
Er sagte, er wolle eine Oper schreiben, die viele verschiedene Sprachen beinhaltete. Das interessierte mich. Und es sollte um den Zweiten Weltkrieg gehen. Und es ging, glaube ich, um ein Kunstwerk, das durch die Länder und Zeiten reisen sollte. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern. Aber es kam ein Punkt, an dem ich sagte: ›Wenn ich das mache, werde ich die ersten zehn Jahre meiner Karriere nur mit Lenny gearbeitet haben, und außerdem verstehe ich nicht ganz, was er mit dem Projekt will, also – lassen wir es doch.‹ Das war 1985. Ich flog nach New York und sagte es ihm beim Abendessen. Ich glaube noch immer, es war die richtige Entscheidung. Aber in diesem Moment sagte er nur: ›Oh.‹ Es war, als hätte ihm jemand den Stecker gezogen. Er sagte: ›Ich muss ins Bett.‹ Und schlurfte davon.
Hat sich die Opernlandschaft in den USA geändert seit Ihrer Arbeit mit Bernstein?
Erst in den letzten fünf, zehn Jahren gibt es viele amerikanische Opern über die Zukunft oder die Gegenwart Amerikas. Von jungen amerikanischen Komponisteninnen. Und Librettisten. Das Verrückte ist, dass mittlerweile diese neuen Stücke manchmal zum Hit eines Programms werden. Die Dinge haben sich wirklich geändert. Man kann La Traviata geben und ein neues Stück, und für das neue Stück mehr Karten verkaufen. Das war 1983 definitiv nicht der Fall, als wir unser Stück schrieben.

Sind Sie im Nachhinein mit Ihrem ersten Opus als Librettist zufrieden?
Ich treffe viele junge Komponisten, die nicht wissen, dass ich der Librettist der Oper bin, und sagen: ›Oh, ich liebe dieses Stück.‹ Sie lieben es, weil es so schräg ist und vieles nicht an ihm stimmt. Sie lieben es, weil es darum geht, wie eine Familie sich nicht versteht und es am Ende doch tut. Sie lieben es, weil sie es nicht verstehen, aber fühlen, worum es geht. Ironischerweise wird A Quiet Place wahrscheinlich das Stück sein, das noch in 100 Jahren gespielt werden wird. Daran glaube ich felsenfest. Auch wenn ich dann nicht mehr da sein werde, um das zu erleben. Aber egal, oder? ¶