Der Komponist Klaus Huber ist mit 92 Jahren in Umbrien gestorben – ein Großer, auf den kein Etikett passt, ein Lehrer, der vielen auf den Weg half. An Begegnungen mit ihm und seiner Musik erinnert sich Volker Hagedorn.
»Seit drei Jahren habe ich nichts komponiert«, sagte er lächelnd, »zu faul!« Das war vor zwei Jahren. Klaus Huber war neunzig und wusste ganz gut, dass seinem Oeuvre nichts mehr fehlte. Er nahm noch eine Mozzarella in Carrozza und einen Schluck Prosecco und blinzelte in die norddeutsche Aprilsonne, vielleicht schon in Vorfreude auf den Sommer in seinem Haus in Panicale, mit Blick auf den Trasimenischen See, wo er und seine Frau Younghi Pagh-Paan jedes Jahr für mehrere Monate lebten und komponierten. Dort hatte ich sie erstmals besucht, als Klaus Huber der Preis der Ernst-von-Siemens-Musikstiftung zugesprochen worden war, der als Nobelpreis der Musik gilt, dort ist der 92jährige, auf den Krückstock und einen Assistenten gestützt, auch in diesem Sommer noch zur Piazza gegangen, zum abendlichen Espresso, den Bewohnern der kleinen Bergstadt so vertraut wie allen, die mit Neuer Musik zu tun haben.
Seen von Klängen, kostbar, fein, funkelnd, unauslotbar in ihren Farben, hochbewusst angerichtet, aufgebrochen durch kleine Perkussionsschläge, behutsame Bläserakzente, transparent wie die Lasuren William Turners, die einen durch die Zeit blicken lassen – das war das erste, was ich von Klaus Huber hörte, in seinem einzigen Bühnenwerk Schwarzerde über Ossip Mandelstam, 2001 in Basel uraufgeführt. Ein großer, ruhiger Atem war darin, erst mit der Zeit bemerkbar, in der sich die Flächen mählich überlagern und einander ablösen, während über ihnen knappe Worte gesprochen und gesungen werden, ein weit daherkommendes Driften. Die Angst und Enge des von Stalin vernichteten Dichters Mandelstam lösten sich darin nicht auf. Sie wurden deutlich wie der Mensch, der in dieser Musik wieder lebte. So entdeckte ich Huber für mich.
Warum so spät? Eine Gestalt mit medienaffiner Bugwelle, wie die anderen Großen seiner Generation, war er nicht. Der hyperkluge Imperator Boulez, der sinnenfrohe Künstlerfürst Henze, der Galaktiker Stockhausen hatten alle schon ihre Bahnen beschritten, als Klaus Huber noch 40 Geigenschüler pro Woche unterrichtete und nur vormittags einer Berufung nachging, die er schon lange kannte. Er komponierte bereits mit sechs Jahren, als Sohn eines ebenfalls Musik schreibenden Schulmusikers und Chorleiters in Basel. »Er hat mich nicht ermuntert beim Komponieren. Ich sollte Geige spielen. Er dachte: Wenn jetzt der Sohn ins gleiche Messer läuft wie ich … weil mein Vater mit seinen Kompositionen keinen Erfolg hatte. Das hat mir wehgetan, dass er nicht interessant fand, was ich schrieb.« Umso heftiger befreite sich der Sohn von der Romantik, in der der Vater schwelgte. »Am besten gar keine Harmonik!«
Der 33jährige instrumentierte einstimmige Musik des Mittelalters. Zu Texten der Mechthild von Magdeburg schrieb er eine Kammersinfonie mit Altsolo, die wurde 1958 in Strasbourg zum Durchbruch. Aber gegenüber der Avantgarde um Boulez und Stockhausen stand der späte Newcomer einsam da mit seinen mystisch christlichen Texten und einer Zwölftönigkeit, in die er die naturreinen Intervalle hineinnahm. Zehn Jahre später konnten ihn die Kollegen nicht mehr ignorieren. Die Passionsmusik Tenebrae für Orchester ist ungeheuerlich, ein steiniges Stück vom Berg, der nicht nur Golgatha heißen muss. Drei Zwölftonreihen sind zu dunkler Transparenz komprimiert. Natürlich hört kein Mensch auf Anhieb, wo sich da vierteltönige Kanonstrukturen entwickeln. Aber dass das alles tief gearbeitet ist, gibt der enormen Expressivität ihre Wahrheit und dazu etwas Objektivierendes, Befreiendes. Man wird von keiner Botschaft bedrängt, man sieht etwas.
Jetzt, könnte man denken, mit Mitte Vierzig, hatte er »seinen« Stil gefunden, bereit, »auf eine marktgängige Ansammlung von stilistischen Merkmalen festgelegt zu werden«, wie sein Schüler Brian Ferneyhough mit Blick auf »manche Generationsgenossen« schreibt. Er bewundert an Huber, dass »jedes seiner Werke eine höchst individuelle Antwort auf eine klar fokussierte und technisch genau ausgefeilte Reihe von Sachverhalten ist und zugleich auch ein präzises, stets erneutes Nachdenken über das Verhältnis der zeitgenössischen Musiksprachen zur realen, unvollkommenen Welt.« Diese durchaus politische Haltung führt über Schwarzerde bis zur innigen Beschäftigung mit arabischer Musik. Sie führt aber erstmal auch zu den Studenten, die wie Ferneyhough ab 1973 an der Freiburger Musikhochschule einen Kompositionslehrer von unfassbarer Offenheit, Genauigkeit und Motivationskraft fanden.
Wolfgang Rihm, Michael Jarrell, Johannes Schöllhorn gehörten dazu. Toshio Hosokawa fand erst durch Huber zurück zu den musikalischen Quellen Japans, und so ging es auch Younghi Pagh-Paan aus Südkorea, der die Begegnung mit dem »Abendland« zunächst schier den Atem verschlagen hatte. Sie und ihr Lehrer wurden ein Paar, das vielleicht erste glücklich gleichberechtigte Komponistenpaar der Musikgeschichte. Einem Barkeeper in Panicale waren sie 1982 so sympathisch, dass er ihnen ein Haus besorgte – das Haus, in dem Klaus Huber sich immer neue Horizonte erschloss. »Im ersten Golfkrieg ging´s bis zu den kleinsten Blättern: Der Oberteufel auf der Welt ist der Islam. Das konnte ich so nicht sitzen lassen, deswegen ging ich dieser Sache nach.« Er vertiefte sich in die arabische Musikkultur, mit anderen Intervallen als den temperierten. Die führten ihn über Schwarzerde noch viel weiter aus Europa hinaus.
2002 schreibt im belagerten Ramallah der Palästinenser Mahmud Darwisch ein Gedicht mit der zentralen Zeile »Die Seele muss vom Reittier steigen«, und Klaus Huber, der gläubige Christ, geht darauf mit ebensolcher Empathie ein wie auf den jüdischen Dichter Mandelstam, in rarer Besetzung: Countertenor und moderne neben barocken Instrumenten, Harfen und Schlagzeug zur Theorbe, ein Cello, ein Baryton … Stundenlang ging Klaus Huber das Werk mit mir durch, Seite für Seite. Er zeigte, wo der Wolf auf seinem Opfer träumt, »er träumt wie ich, wie der Engel, schreibt Darwisch – was kann man Lieberes zum Feind sagen?« Irgendwann kamen wir zum Schluss: »Jetzt kommt das As. Das hängt mit meinem Vater zusammen, er hat das so analysiert in der Literatur: Das As ist der Liebeston, schon bei Bach. Hier in der Theorbe und der Flöte und ein Sechstelton höher in der Klarinette und ein Sechstelton tiefer im Fagott …«
So, wie er das Werk erschloss, zwischen Details und Deutungen springend, poetischen Gedanken und instrumentalen Feinheiten, zwischen der »Trunkenheit des Lichts« und den Schwebungen der Sechsteltöne, in größeren Abständen eine Zigarrenpause machend, so hatte ich Musik noch nie »gehört«, es war kein Sprechen über Musik, sondern in ihr, aus ihr, mit Verbindungen in die ganze Welt und in viele Jahrhunderte. Das war vor acht Jahren. Danach zog er sich nach und nach sanft zurück aus der Welt, auch wenn er, weißbärtig, im roten Rollkragenpullover, immer noch kein Donaueschingen versäumte, eine lebende Legende zwischen seinen Schülern und Enkelschülern – und stets an der Seite von Younghi, die über sein Wohl wachte. »Du hast da ein Zigarettli«, sagte er nach dem Prosecco interessiert, in seinem melodischen Schweizerisch, und ich griff für ihn nach der Schachtel, aber Younghi gebot freundlich Einhalt.
Jetzt rauche ich das Zigarettli für ihn. Klaus Huber ist am 2. Oktober 2017 in Perugia gestorben, mit 92 Jahren, in der umbrischen zweiten Heimat. In seiner Musik wird man zusehends finden, was die Werke in ihrer Vielfalt verbindet: Menschenliebe, so offen und zuversichtlich, dass sie die Welt verändern kann. ¶