Jedes Olympia-Event braucht heutzutage Musik – für jeweils ganz unterschiedliche Teile einer Veranstaltung. Markus Hinzke ist dafür in Tokio 2021 zuständig. Arno Lücker hat ihn kurz vor dem Springreit-Finale interviewt. Ein Gespräch über Ein- und Zurichtung, Zweck und Ästhetik klassischer Musik im Pferdesport.

VAN: Herr Hinzke, wie ist die Stimmung in Tokio?

Markus Hinzke: Die Stimmung ist gut. Die Reitwettbewerbe haben vom Ablauf her alle sehr gut funktioniert. Gestern hatten wir zwei Springreiter mit jeweils einem Abwurf, die leider nicht im Finale sind. Aber einer ist dabei – und da machen wir uns nicht unberechtigt Hoffnungen, dass der vielleicht eine Medaille holt. (Nachtrag: Daniel Deußer verpasste leider durch zwei Abwürfe eine Medaille.)

Vielseitigkeitsreiter Michael Jung (Mitte) mit Vater und Trainer Joachim (links) sowie Markus Hinzke

Was machen Sie denn als Music Director beim Springreiten? Ich gucke seit Jahrzehnten Springreiten bei Olympia, aber Musik habe ich während des Springens noch nie gehört…

»Music Director« ist der offizielle Begriff. Ich bin für alles verantwortlich, was hier an Musik die ganze Zeit über aus den Lautsprechern kommt. Obwohl es ja leider keine Zuschauer gibt, läuft hier schon eine Stunde vor Beginn des Springens Musik zur Einstimmung, auch während sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer den Parcours anschauen. Da muss dann Backgroundmusik laufen. Während des eigentlichen Ritts wird keine Musik gespielt, das ist richtig. Aber beispielsweise beim Rein- und Rausreiten. Rein instrumental. Das ist schon Arbeit, auch, wenn es der Zuschauer Zuhause am Fernseher oder im Internet nicht unbedingt hört.

Impressionen von der Springreit-Bahn

Und ist beispielsweise diese Ein- und Auslaufmusik von Ihnen produziert worden oder bedienen Sie sich dafür bei eingekaufter Musik?

Das ist ganz unterschiedlich. Ich habe eigenproduzierte Sachen, aber natürlich auch sehr viel eingekaufte Musik. Das obliegt aber mir. Hier in Japan haben die ein sehr striktes System. Das ist noch um Einiges strenger als bei uns mit der GEMA. Du musst jeden einzelnen Titel genau angeben – und wie oft du den gespielt hast und woher der ist. Das ist sehr viel Bürokratie, die man bewältigen muss, bevor man hier überhaupt Musik spielen darf.

Die olympische Glocke

Die größte Rolle spielt klassische Musik ja traditionell beim Dressurreiten. Wie entsteht eigentlich so eine musikalische Dramaturgie für eine Dressurreit-Kür? Stammen alle diese Arrangements von Ihnen?

Die Freestyles sind nicht alle von mir. Da gibt es verschiedene Produzenten in Deutschland, die das machen. Von mir kommt hauptsächlich die Background-Musik im »Grand Prix« und im »Grand Prix Spécial« beim Dressurreiten. Die werden mit Musik untermalt, um die verschiedenen Grundgangarten der Pferde besser herauszustellen. Und um das Ganze für den Zuschauer etwas interessanter zu machen. In der Entwicklung entsteht das so: Erst einmal macht sich der Reiter Gedanken, was er reiten möchte. Welche Lektionen in welcher Abfolge? Welcher Schwierigkeitsgrad? Das steht immer am Anfang jeder Entwicklung. Das wird dann geritten – und gefilmt.

Filmen Sie das selbst?

Manchmal machen das die Reiter selber – oder ich, je nach Budget der Auftraggeber. Ich fahre also da hin, filme das – und dann wird im Studio alles digitalisiert. Das heißt: Jeder Tritt, jeder Trabschritt, jeder Galoppschritt wird genau am Computer vermessen. Mit Beats per Minute quasi. Und dann macht man sich Gedanken: Was für Musik könnte zu diesem Reiter-Pferd-Paar passen? Bei Isabell Werth beispielsweise bietet sich klassische Musik an, weil ihre Sponsorin – Madeleine Winter-Schulze – ein ganz großer Klassik-Fan ist. Die ist über 80 – und liebt Klassik über alles. Deshalb kommt bei Isabell etwas anderes als Klassik gar nicht in die Tüte. Das ist schon seit vielen Jahren so – und kommt auch einfach gut an. Man muss sich also überlegen: Was passt zu der jeweiligen Kombination von Sportler und Pferd? 

Schwere Klassik nimmt man heute eigentlich nicht mehr. Du musst eher versuchen, das möglichst leicht aussehen zu lassen. Und da ist natürlich eine leichte klassische Musik, wo vielleicht sogar noch ein bisschen gesungen wird oder wo es einen Ohrwurm gibt, perfekt. Was auch ein Vorteil ist: Bei der Verwendung von klassischer Musik, insbesondere wenn die extra dafür von einem Orchester eingespielt ist, also auch nicht geschnitten werden muss, musst du einfach nicht so viele GEMA-Geschichten erledigen. Das ist auch deswegen empfehlenswert, weil das Internationale Olympische Komitee nach Olympia dann DVDs und CDs verkauft, aber für die jeweiligen Länder natürlich nicht gerne die ganzen GEMA-Gebühren zahlen will.

Rekord-Medaillengewinnerin Isabell Werth und Markus Hinzke

Machen Sie denn auch die Detailarbeit für die Dressurreit-Musik? Sind Sie es also, der unter Beethoven einen Beat legt?

Meine Lebensgeschichte ist etwas anders… Ich bin ein Quereinsteiger, mache das aber seit 25 Jahren. Und ich produziere viel Freestyle-Musik für das Dressurreiten. Also Kür-Musik. Und ich bin natürlich auch mit den Reitern im Dialog. Du betreust also deine Kunden von Anfang bis zum Schluss. Es würde ja keinen Sinn machen, wenn ich dahinfahre, den Ritt filme – und das dann nachher nicht mehr betreue. Das muss schon aus einer Hand kommen. Ich habe einen sehr guten Musiker in München im eigenen Studio sitzen, der selbst auch Reiter ist. Mit dem zusammen produziere ich das. Alles, was neu eingespielt werden muss, macht er – aber nach meinen Vorgaben. Und der Reiter bekommt das erst zu hören, wenn es fertig ist. Es gibt immer zunächst einen Rough-Mix vor der Produktion, mit Original-Tonspuren, die schon vorliegen. Das wird in dem Stadium auch nicht viel mit Beat hinterlegt oder dergleichen. Der Reiter muss dann erst einmal sagen: »Das finde ich gut von den Melodien her. Das ist das, was ich mir vorgestellt habe.« Vielleicht gefällt dem einen Reiter die Piaffe-Musik, die Trab-Musik oder die Passage-Musik nicht ganz so. Dann sagt der halt: »Hier stelle ich mir etwas anderes vor.« Deshalb gibt es erst einmal das grobe Gerüst – und dann geht es in die Produktion. Die Reiter haben zumeist aber gar keine konkrete musikalische Idee. Die sagen vielleicht: »Ich stelle mir etwas Klassisches vor.« oder etwas »Episches« – oder what ever. Am Ende sollen halt alle zufrieden sein.

Was sind denn eigentlich die rhythmischen Anforderungen für eine Dressur-Musik? Haben bestimmte Figuren einen bestimmten Takt?

Ja, genau so ist es! Nur die Geschwindigkeiten sind von Pferd zu Pferd unterschiedlich. Der Takt ist immer vorgegeben – aber ein schweres Pferd braucht einfach länger für diesen oder jenen Teil. Und ein leichteres Pferd ist schneller fertig.

Eines der Geländeritt-Hindernisse beim Vielseitigkeitsreiten

Der Bolero von Maurice Ravel ist ja virtuos von Torvill und Dean im olympischen Eistanz 1984 verwendet worden. Natürlich sind es dabei immer nur Teile, die erklingen…

 …zumal der Bolero am Anfang ja viel zu leise ist. Da passiert ja mal gar nichts die ersten Minuten.

Richtig, aber gibt es die eine legendäre Verwendung klassischer Musik auch im Dressurreiten?

(überlegt) Im Prinzip bleibt immer die Musik hängen, mit denen die Reiter eine Goldmedaille bei Olympia gewonnen haben. Die jetzige Kür hat Isabell Werth beispielsweise eigentlich schon in Rio 2016 geritten. Natürlich gibt es leichte Abänderungen, aber vom Grundsatz her bleibt es ähnlich. Das sind schon Darbietungen, an die man sich erinnert. Ich selbst bin ein Freund davon, dass man bestimmte Dinge nicht zu oft spielt, um die nicht abzunudeln. Nur, wenn es wirklich notwendig ist. Sonst hört man sich schnell satt. Außerdem musst du Kontraste in der Musik bringen. Wir sind nicht im Konzert, sondern beim Reitsport. Da müssen die Kontraste sitzen! Du kannst dabei nicht nur klassische Musik spielen – beziehungsweise: Du kannst die schon spielen, so drei, vier Mal. Die kann hier und da auch mal mit einem Beat unterlegt sein. Aber du musst dann natürlich auch mal etwas spielen, was in Richtung Popmusik geht. Es gibt ja eine ganz verschiedene Klientel auch an Zuschauern. Ich habe jetzt hier in Tokio unwahrscheinlich viele Nachrichten bekommen… Ich will mich nicht loben, aber ich glaube, ich habe hier ein glückliches Händchen gehabt. Die Leute sind zwischen 18 und 80 Jahre alt. Und niemand hat geschrieben: »Nee, das fand ich jetzt nicht so toll.« Hier finden die auch mal Musik schön, die sie sonst nicht anschalten würden. Wenn die eine bestimmte Musik jetzt vier Stunden hören müssten, dann würde ich sagen: »Mag schöne Musik sein, aber irgendwie holt es mich nicht richtig ab.« Die Leute müssen dranbleiben. Und das tun die, wenn du einen schönen Mix hast.

Impressionen von der Springreit-Bahn

Musste eigentlich schon einmal eine Musik geändert werden, weil das Pferd auf die Klänge bockig reagiert hat?

Ja, das hat aber weniger mit der Musik als Solches zu tun. Pferde reagieren auf Beat, auf Bass… Auf solche Elemente. Das wissen die Reiter natürlich. Wichtig ist auch die Lautstärke. Du hast teilweise Pferde, die richtige Rampensäue sind, so wie Dalera, das Pferd von Jessica von Bredow-Werndl. Die möchte das, die liebt das! Das merkst du, wenn die reinkommt! Die bewegt sich zur Musik! Das ist ja auch das, was man will. Das war einmal die Grundidee beim Dressurreit-Freestyle: Es soll so aussehen, dass das Reiter-Pferd-Paar ein Musikstück interpretiert. Früher hat man ein Musikstück genommen – und hat um das Musikstück herum die Freestyle-Lektion aufgebaut. Heutzutage ist es so, dass wir tricksen. Wir sagen: Zuerst ist die Lektion da, dann wird die Musik drumherum gebaut. Das hat sich gewandelt! ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.