Sommerzeit ist Festivalzeit: Bayreuth, Wacken, Salzburg, Ferropolis, Luzern, Scheeßel – überall gehen Musikliebhaber*innen steil, auch wenn die Formen des Eskapismus von Ort zu Ort ziemlich unterschiedlich ausfallen. Was außerdem sehr verschieden gehandhabt wird, ist das Nachdenken über Klima- und Umweltschutz bei der Organisation solcher Großveranstaltungen. Ein Bericht über die Erkundung eines weißen Flecks auf der Landkarte der deutschen Klassikfestivals.

Zunächst ein kurzer Abstecher in die »Gegenwelt Popmusik«: Die hat Umwelt- und Klimaverträglichkeit als Herausforderung bei Großveranstaltungen seit der Jahrtausendwende auf dem Schirm, erklärt Holger Jan Schmidt, Vorstandsmitglied der Sounds For Nature Foundation (einem Verein, der Musikveranstaltungen und vor allem Festivals umweltverträglicher gestalten will), außerdem »anchorman for green issues« bei Yourope, der European Festival Association, am Telefon. In den ersten 8, 9 Jahren sei das Thema unter großem Einsatz »auf die Agenda gedrückt« worden, heute gebe es in Deutschland kein größeres Pop-Festival mehr, das sich nicht über Klima- und Umweltverträglichkeit Gedanken macht: »Das ist nicht mehr Hot Topic, sondern einfach Mainstream geworden« – obwohl Maßnahmen zur Klimaverträglichkeit, anders als zum Beispiel im Sicherheitsbereich, vollständig auf Freiwilligkeit basieren und rechtlich nicht vorgeschrieben sind. Sounds For Nature berät hier ein recht breites Spektrum an Festivals, ein Klassikfestival habe sich bei ihnen allerdings noch nie gemeldet.

Die wichtigsten Stellschrauben in Sachen Klimaverträglichkeit von Musik-Großveranstaltungen sind laut Holger Jan Schmidt der Energieverbrauch, die An- und Abreise sowie der Transport von Equipment und Instrumenten, Catering, die Müllent- und Wasserversorgung und außerdem die Kommunikation der Maßnahmen gegenüber den Festivalbesucher*innen und darüber hinaus, um ein gesellschaftliches Umdenken anzustoßen. Nun wird bei Klassikfestivals für gewöhnlich nicht gezeltet, was vor allem Fragen nach Abfallmanagement, Verpflegung und Wasserversorgung an Dringlichkeit nimmt. Trotzdem bleiben die Mobilität von Künstler*innen und vor allem Besucher*innen (die laut der Green Music Initiative 40% des CO2-Fußabdrucks von Popfestivals ausmacht, was bei Klassikfestivals zumindest ähnlich ausfallen dürfte), der Energieverbrauch der Spielstätten und die Kommunikation nach innen und außen als Herausforderungen. Und hier sind die Freund*innen aus der »populären Musik« Meilen voraus:

Das Metal-Festival Wacken hat sich beispielsweise zum Ziel gesetzt, im Laufe der kommenden Jahre eine vollständige Klimaneutralität, also überhaupt keinen CO2-Ausstoß, zu erreichen – und das bei mittlerweile 85.000 Besucher*innen pro Jahr. Dazu will das Festival unter anderem komplett auf erneuerbare Energien umsteigen (auch beim Betrieb des Fuhrparks). Die Kolleg*innen aus der Welt der elektronischen Musik vom Melt-Festival haben vor einigen Jahren das Projekt »M!eco« aus der Taufe gehoben. Hier geht es vor allem darum, die Anreise klimafreundlicher zu gestalten, mit einem Hotel-Zug, einem Bahnticket-Rabatt, der Unterstützung bei der Organisation von Mitfahrgelegenheiten und sogar ganzen Shuttle-Bussen und einer Radtour von Berlin (von wo ein großer Teil des Publikums anreist) nach Ferropolis, wo das Melt stattfindet. Eine ähnliche Kampagne gibt es beim Hurricane-Festival mit »Grün Rockt«: hier sollen neben der PKW An- und Abreise auch Wasser- und Stromverbrauch sowie Lebensmittelverschwendung reduziert werden. Anders als Wacken, Hurricane und Melt verwandelt das Dockville nicht irgendeinen abgeschiedenen Flecken in eine temporäre Hedonist*innen-Hochburg, sondern steigt – wie die meisten großen Klassikfestivals – mitten in der Stadt, in Hamburg. Die Anreise mit öffentlichen Verkehrsmitteln ist problemlos möglich. Deswegen hat man dort auch überhaupt keine Parkplätze eingerichtet – mit dem Auto brauch man ausdrücklich gar nicht erst zu kommen.

Wie viele andere arbeiten die vier genannten Pop-Festivals mit dem Portal Fahrfahraway zusammen, das Mitfahrgelegenheiten zu über 3.000 Festivals in Europa organisiert. Nach den Zielorten Bayreuth, Salzburg oder Luzern sucht man hier allerdings vergeblich. In Bayreuth hat man offensichtlich auch gar nichts gegen die Anreise im (nicht vollbesetzten) eigenen Auto, zumindest ist dies das einzige Verkehrsmittel, für das die Website der Festspiele eine Anfahrtsbeschreibung bereithält. Der Weg vom Bahnhof zum Festspielhaus dauert zu Fuß zwar nicht mal 20 Minuten, aber Kleiderordnung und schickes Schuhwerk, in dem man diesen guten Kilometer möglicherweise nicht schafft, scheinen hier über der Klimaverträglichkeit zu stehen. Dass mit einem stärkeren Schwerpunkt auf dem Bahnverkehr oder der Unterstützung bei der Organisation von Mitfahrgelegenheiten (warum eigentlich nicht?) zusätzlich auch das Bayreuther Verkehrs- bzw. Parkplatzchaos umgangen werden könnte, hat hier niemand auf dem Schirm.

Bayreuth hätte außerdem einen riesigen Vorteil, wollte es Vorreiter in Sachen Klimaverträglichkeit werden: Weil es hier nur eine Spielstätte, das Festspielhaus, gibt, wäre es ein Leichtes, den Energieverbrauch zu analysieren, gegebenenfalls zu optimieren und auf Ökostrom umzusteigen. Nur: Bayreuth will nicht – oder will oder kann zumindest nicht darüber reden. Auf meine Anfrage nach Stromverbrauch und -anbieter war die (zunächst sehr überraschte) Presseabteilung zwar bereit, »beim Haustechniker nachzufragen«, ein Ergebnis dieser Erkundigungen hat mich bis heute allerdings nicht erreicht.

Das Beethovenfest Bonn gibt sich auf den ersten Blick betont umweltfreundlich: Es ist Partner des »Beethoven Pastoral Project«, das nach eigenen Angaben aus dem »in der Pastorale-Musik formulierten romantischen Naturbegriff heraus Aufmerksamkeit für das Thema ›Mensch und Natur‹ heute schaffen und eine aktive Auseinandersetzung mit den drängenden Fragen des Umweltschutzes und den Zielen des Pariser Klimaabkommens anregen« will – zumindest einmal so richtig, nämlich im »Beethovenjahr« 2020. Wie zentral des Thema allerdings langfristig in der Organisation des Beethovenfests selbst ist, zeigt abermals ein Anruf in der Presseabteilung: Ich solle mich doch bitte in einer Woche nochmal melden, die zuständige Kollegin sei gerade im Urlaub und sonst wüsste niemand Bescheid.

Auch im Rheingau hat man sich über Klima- und Umweltverträglichkeit noch keine Gedanken gemacht, wie ein Mitarbeiter des Rheingau Musik Festivals am Telefon freimütig eingesteht. Umso mehr freut ihn mein Hinweis, dass mit der Tatsache, dass die Eintrittskarten zum Festival auch als Nahverkehrstickets gelten, dort ja schon ein sehr wichtiger Schritt gegangen ist – bei der Entscheidung stand intern also wohl der Kund*innenservice stärker im Vordergrund als der Klimaschutz.

Das einzige Klassikfestival, das wie das Dockville konsequent nur die Anreise mit den öffentlichen Verkehrsmitteln vorschlägt, ist das sowohl in Bezug auf das Bestehen als auch das Publikum sehr junge Detect Classic Festival, das gerade in Berlin stattgefunden hat. Ist das Bewusstsein für Klima- und Umweltfreundlichkeit am Ende also einfach eine Generationenfrage und die Klassikwelt schlicht zu alt und in dieser Hinsicht im wahrsten Sinne des Wortes von gestern?

Ein Blick über die Grenzen der Bundesrepublik zeigt, dass das nicht der Fall ist. Die Salzburger Festspiele sind seit 2012 Mitglied im Klimabündnis Österreich, die Festspielkarten gelten auch als Tickets für den öffentlichen Nahverkehr, man macht sich Gedanken zur Energieeffizienz (das Licht im Publikumsbereich sowie das Arbeitslicht bei den Proben verströmen an allen Spielstätten energiesparende LEDs), zur Kühlung und Heizung der Festspielhäuser werden regenerative Energien verwendet, im Falle von Schlechtwetter werden bei Outdoor-Vorstellungen anstelle der Plastikponchos biologisch abbaubare Ponchos aus Maisstärke verkauft. An der Kommunikation dieser Maßnahmen hapert es allerdings noch: Auf der übervollen Website der Festspiele findet man hierzu überhaupt keine Informationen.

Und noch ein Sprung über eine Ländergrenze: Das Lucerne Festival hat sich ins Leitbild geschrieben: »Die Verantwortung gegenüber unserer Umwelt ist uns sehr wichtig.« Allerdings ist die Presseabteilung auch hier noch immer damit beschäftigt, herauszufinden, was damit eigentlich gemeint ist, abgesehen davon, dass auch in Luzern die Anreise mit öffentlichen Verkehrsmitteln empfohlen und durch die Gültigkeit der Eintrittskarten als Nachverkehrstickets und Rabatt-Aktionen beim Kauf von Fernverkehrsfahrkarten gefördert wird.

Ich habe nur ein einziges Klassik-Event finden können, das die Berücksichtigung von Umwelt- und Nachhaltigkeitsaspekten im gesamten Organisationsablauf konsequent durchzieht und darauf auch in der Kommunikation nach außen explizit hinweist: die »Opernredoute« der Oper Graz. Hier wurde dieses Jahr zum Beispiel der gesamte CO2-Ausstoß der Veranstaltung gemessen, beziehungsweise berechnet, um diesen im nächsten Jahr vor allem im Bereich Publikums-Mobilität senken zu können, Strom wird aus 100% Wasserkraft bezogen – um nur zwei von zahlreichen Maßnahmen zu nennen. Dafür wurde die Opernredoute kürzlich von »green events Austria« mit einem Sonderpreis ausgezeichnet. (Warum von der Klimafreundlichkeit einmal abgesehen für mich persönlich trotzdem alles gegen einen Besuch dieses Events spricht, fasst der Opernredoute-Imagefilm sehr schön zusammen.)

Es geht also, die Leute kommen trotzdem (oder gerade deswegen?). Natürlich ist die Klassikwelt inklusive Festivals auch in Deutschland auf ihre Art schon jetzt extrem nachhaltig: Sie ist alles andere als eine Eintagsfliege, die (öffentliche) Finanzierung ist (zumindest in den meisten Fällen und vor allem verglichen mit anderen Musikgenres) langfristig gesichert, Konzertorte sind fest in Kulturleben und Stadtbild verankert, die Ausbildung ist institutionalisiert und extrem professionell. Bei der Frage nach der Klimaverträglichkeit zeigt sich aber mal wieder, dass eine jahrhundertealte Tradition (neben miefigem Gepäck wie extremen Machtungleichgewichten, Exklusivität, Rassismus, Sexismus und Heteronormativität) eben auch mit sich bringt, dass aktuelle, sinnvolle Entwicklungen einfach verschlafen werden. Bis die Wellen irgendeines ansteigenden Ozeans an den Fuß des »Grünen Hügels« schwappen, zerbricht man sich in Bayreuth so lieber zum hundertsten Mal den Kopf über die Götterdämmerung statt über den Klimawandel. ¶

... machte in Köln eine Ausbildung zur Tontechnikerin und arbeitete unter anderem für WDR3 und die Sendung mit der Maus. Es folgten ein Schulmusik- und Geschichtsstudium in Berlin und Bukarest. Heute lehrt sie Musikwissenschaft an der Universität der Künste Berlin und ist Redakteurin bei VAN. merle@van-verlag.com