Die Geigerin Judith Stapf über ihre Wunsch-Begegnung mit Johannes Brahms und wie es ist, im Bundestag Ernest Bloch zu spielen.

Text · Fotos © Markus Bollen · Datum 07.11.2018

Judith Stapf, Jahrgang 1997, begann im Alter von drei Jahren mit dem Geigenspiel und nahm bereits mit elf Jahren ihr Frühstudium an der Hochschule für Musik und Tanz in Köln auf. Seit dem Wintersemester 2016/2017 studiert sie zusätzlich an der Barenboim-Said Akademie in Berlin. Judith gewann Preise bei internationalen Wettbewerben und konzertiert sowohl als Solistin mit Orchester als auch mit hochkarätigen Kammermusiker*innen. VAN-Autor Arno Lücker wurde vor vielen Jahren auf Judith anlässlich des Films »Spiel mir das Lied vom Leben« aufmerksam. Der Film erzählt die Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft: Die damals zwölfjährige Judith begegnete dem Holocaust-Überlebenden Jerzy Gross (1929–2014), der durch Oskar Schindler dem Tod entkam. Jetzt hat Arno Lücker die heute 21-Jährige in einem Café in Berlin-Charlottenburg getroffen.

VAN: Judith, Du hast schon mit elf Jahren mit dem Violin-Studium begonnen. Hast du dann eigentlich Abitur gemacht?

Judith Stapf: Nein. Ich habe am Pre-College studiert bis ich sechzehn Jahre alt war und bin dann nach der zehnten Klasse mit einem Hauptschulabschluss direkt ins Vollstudium übergegangen. Das war natürlich ein Riesenthema damals…

Für Dich oder für Deine Familie?

Am ehesten für mein Umfeld. Es gibt natürlich immer alle möglichen Lehrer und durchaus auch Verwandte und Bekannte, die so etwas hinterfragen. Meine Eltern haben das aber immer unterstützt. Zum Glück ist ein Bachelor-Abschluss gleichgestellt mit dem Abitur, das heißt, ich habe jetzt eine Allgemeine Hochschulreife.

Das wusste ich gar nicht…

Ja. Ich weiß nicht, ob ich alles studieren könnte, aber diese ›Sicherheit‹ ist halt trotzdem da.

Hast Du jemals erwogen, etwas anderes zu machen als Musik?

Ich habe natürlich immer mal wieder darüber nachgedacht. Gerade in der Zeit, in der sich mein Freundeskreis überlegt hat, was man denn später mal studieren könnte. Ich bin immer zu dem Schluss gekommen, dass eigentlich nichts anderes für mich infrage kommt als Violine zu studieren. Ich wollte immer Geigerin werden – und ich glaube nicht, dass sich das noch einmal ändert.

Du hattest also noch nie eine ›Schaffenskrise‹?

Ja, doch. Nach größeren Projekten fällt man in ein Loch oder man erlebt eine Niederlage. Ich glaube, dass das aber auch wichtig ist, damit man sich wieder neu findet und neu bestätigt fühlt.

Ich kenne Musiker*innen, die ganz spät, teilweise am Ende des Studiums, gemerkt haben, dass die Einsamkeit der Übezelle doch nichts für sie ist. Die sind teilweise in ein völlig anderes Berufsfeld übergegangen…

Atmosphärisch und klanglich sind Übezellen in der Hochschule wirklich keine Freude [lacht].

Kommst Du eigentlich aus einem – wie man so sagt – ›musikalischen Elternhaus‹?

Ja. Mein Vater ist Pianist und Organist und meine Mutter ist Sängerin. Und, ja klar, natürlich wurde mir das ›in die Wiege‹ gelegt. Mir war das immer sehr bewusst, dass mein Talent von meinen Eltern gefördert wird. Aber alles war ganz klar meine Entscheidung. Als Teenager habe ich mal gedacht, dass es ja ein enormer Druck wäre, jetzt aus der Musik auszusteigen, nachdem ich so viel investiert hatte. Mit dreizehn oder vierzehn Jahren kamen solche Gedanken mal kurz auf. Heute weiß ich, dass es sowieso ganz bei mir liegt, was ich mit meinem Leben mache.

Wenn man auf YouTube deinen Namen eingibt, dann kann man beispielsweise hören, wie du im Finale des Eurovision Young Musicians Wettbewerbs 2014 vor dem Kölner Dom mit dem WDR Sinfonieorchester den vierten Satz des ersten Violinkonzerts von Schostakowitsch spielst. Ist es okay für dich, dass alte Aufnahmen im Netz zu finden sind oder hat sich dein Anspruch an Dich selbst in der kurzen Zeit derart geändert, dass du Einiges gerne löschen wollen würdest?

Bei dem Schostakowitsch-Video denke ich das nicht. Ich bin da grundsätzlich entspannt. Manchmal finde ich es nicht so gut, wenn Leute ungefragt etwas von einem Konzert hochladen. Live-Musik ist für mich eher etwas für den Moment und nichts, was man immer wieder einfach so abrufen oder mit einem Handyvideo festhalten kann. Die Atmosphäre eines Konzerts ist eh immer einmalig.

Wie war denn die Atmosphäre für Dich bei Deinem Auftritt im Bundestag dieses Jahr im Januar anlässlich der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus? Du hast da Ernest Blochs Nigun gespielt, vor Merkel, Steinmeier, allen eigentlich…

Unglaublich… [überlegt] Gerade angesichts der politischen Ereignisse hier. Da denkt man schon drüber nach. Gerade bei einer Veranstaltung zum Holocaust-Gedenken im Bundestag. Ein Stück von Ernest Bloch vor Bundestagsabgeordneten der AfD… Das war ein krasses Gefühl, dass man da Leute hat, die in ihrem Wahlprogramm ganz offen rassistische und antisemitische Inhalte vertreten. Und die hören einem bei so einer Veranstaltung zu! Das ist skurril.

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Blöde Frage, aber warst Du da sehr aufgeregt?

Nein, tatsächlich nicht. Ich habe zum Schluss gespielt. Davor hat Anita Lasker-Wallfisch gesprochen, die ja als Cellistin eine der letzten Überlebenden des ›Mädchenorchesters von Auschwitz‹ ist. Ich war so beeindruckt von dieser Frau! Sie hat eine unglaubliche Stärke ausgestrahlt. Sie war sich so sicher in ihrer Sache. Ihr politisches Statement war so stark, da hatte ich das Gefühl, dass ich das, was sie gesagt hat, einfach mit meiner Musik unterstütze. Es klingt vielleicht komisch, aber ich habe mich in dieser Situation sehr stark gefühlt.

Du bist die jüngste Musikerin, die ich bisher für das VAN Magazin interviewe. Der älteste ist Thomas Sanderling, der ein Freund von Schostakowitsch war. Wäre Schostakowitsch deine erste Wahl, wenn du Dir einen bereits verstorbenen Komponisten aussuchen dürftest, um ihn persönlich zu treffen?

Nein, das wäre Brahms! Ich habe immer so Phasen. Schostakowitsch, Mendelssohn, Schubert… Brahms ist immer. Brahms ist eine Konstante in meinem Leben. Wenn ich Brahms treffen könnte, dann würde ich ihn fragen, ob er mit mir eine von seinen Violinsonaten spielt.

Welche?

Die dritte Sonate in d-Moll. Den zweiten Satz!

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Okay. Stellen wir uns die Situation mal ganz konkret vor. Brahms lebte die längste Zeit seines Lebens in Wien, aber im Alter ist er zur Erholung häufig nach Bad Ischl gefahren. Es gibt schöne Bilder, auf denen der alte Brahms mit ganz verschiedenen Personen, die er empfangen hat, zusammen zu sehen ist. Bei Kaffee und Kuchen sozusagen…

Ich glaube, dass er ein sehr gemütlicher Mann mit viel Muße war. Sehr entspannt. Seine Körpersprache spiegelt sich ja quasi in seiner Musik wider. Er wäre wahrscheinlich sehr wohlwollend gewesen. Und er hätte vermutlich über meine jugendliche Leidenschaft und Begeisterung für seine Musik gelächelt. Es hätte ihn amüsiert, wie sehr ich für seine Musik brenne.

Vielleicht passt Brahms zu Deiner Art, Geige zu spielen besonders gut. Ich habe im Vorfeld dieses Interviews versucht, Dein Geigenspiel zu charakterisieren. Darf ich das vorlesen und Du schaust, ob Du Dich da wiederfindest?

Ja. Gut.

Also, Dein Geigenspiel ist temperamentvoll, risikoreich im positiven Sinne, inbrünstig – mit einem fast ›russischen‹ Vibrato…

Das mit dem Risiko… Das ist genau das, was ich erreichen will. Ich mag das auch bei Musiker-Kolleg*innen immer sehr gerne, wenn ich spüre, dass die an dem jeweiligen Abend einfach bereit sind, ein hohes Risiko einzugehen. Wenn ich bei meinem eigenen Spiel merke, dass ich aktiv die Entscheidung in der Hand habe, ein Risiko einzugehen oder nicht, dann gehe ich es in jedem Fall ein. Und deine Formulierung mit dem ›russischen Vibrato‹ freut mich sehr!

Kommt das durch einen bestimmten Lehrer?

Ich hatte lange Zeit bei Ute Hasenauer Unterricht und teilweise auch bei ihrem Mann, Benjamin Ramirez. Und er hat immer gesagt: ›Du hast ein besonderes Vibrato! Das musst Du mehr machen!‹ Das hat er in jeder Unterrichtsstunde häufig gesagt! [lacht]

Es ist vielleicht genau diese Mischung von Leidenschaft und Konstruktion bei Brahms …

Es ergibt einfach komplett Sinn! Auch, wenn man es nur rational betrachtet. Wenn man ganz unemotional nur die Architektur eines Werkes von Brahms sehen würde, dann wäre allein das schon genial. Und im aktiven Spiel geht das Ganze dann total auf, ohne konstruiert zu wirken. Es ist weder nur Geschnulze noch Mathematik. Die zwei Schablonen von Konstruktion und Emotion schieben sich bei Brahms perfekt ineinander. Zu einer Einheit. Das hast du bei vielen anderen Komponisten nicht. Da überwiegt für mich teilweise die Emotion aber auch teilweise die Konstruktion.

Gibt es Musik, die Du aufgrund ihrer Emotionalität nicht häufig hören kannst, weil Sie Dir zu nahe geht?

Ja. Das ist bei mir ganz klar Schönbergs Verklärte Nacht. Das bringt mich in Zustände… Das sollte ich nicht zu oft hören. Das hat nicht unbedingt mit dem Komponisten, mit seiner Lebensgeschichte oder mit der Geschichte des Werkes zu tun. Verklärte Nacht weckt in mir Emotionen beim Hören, die beim letzten Mal noch gar nicht da waren. Das wiederholt sich also nicht. Das öffnet jedes Mal irgendetwas…

Und gibt es bei Dir Musik, der Du bewusst aus dem Weg gehst?

Es gibt Musik, die ich nur live hören will. Mit Opern geht es mir häufig so. Von einer CD abgespielt mag ich das nicht so gerne. Aber ich könnte nicht sagen, dass ich die Musik eines bestimmten Komponisten meide, nein.

Du vermeidest also auch nicht bewusst zeitgenössische Musik?

Es kommt immer drauf an. Bei zeitgenössischer Musik geht es mir wie mit Opern: Das will ich viel lieber live hören. Diese Musik kann live sehr viel Kraft haben und auf CD geht davon viel verloren.

Erarbeitest Du Dir Denn gerne Werke der zeitgenössischen Musik?

Ich hatte lange Zeit Angst davor. Das hat sich durch mein Studium an der Barenboim-Said Akademie sehr geändert. Wir spielen da viel Neue Musik. Vor allem im Bereich Kammermusik ist die Beschäftigung mit neuen Werken dort ganz normal und Alltag. Ich habe gemerkt, dass mir das eigentlich total viel Spaß macht. Es ist halt eine ganz andere Herangehensweise, eine ganz andere Art, Musik zu machen. Neue Musik ist ja häufig keine ›Blatt-Spiel-Musik‹, sondern wie ein Puzzlespiel. Man muss da erst einmal ganz viel auseinanderklamüsern und am Ende schauen, was da rauskommt. Es ist auch ein sehr gutes Gehirntraining – und im besten Fall versteht man auch den emotionalen Sinn dahinter. Das ist ein cooler Prozess, denn normalerweise ist es bei mir so: Ich erkenne die Emotion in einer Musik und dann kommt die Praxis, das Einstudieren. Bei zeitgenössischen Werken ist es genau anders herum.

»Ich glaube, dass er ein sehr gemütlicher Mann mit viel Muße war.« Die Geigerin Judith Stapf über ihre Wunsch-Begegnung mit Johannes Brahms und wie es ist, im Bundestag Ernest Bloch zu spielen. In @vanmusik.

Du spielst auf einer Violine von Andrea Guarneri aus dem Jahr 1663. Stresst es dich nicht, immer drauf zu achten, wenn du beispielsweise mit dem Zug verreist?

Ich bin so daran gewöhnt, überall mit diesem Instrument rumzulaufen, die immer am Körper zu haben. Aber tatsächlich stresst es mich, wenn ich ohne die Geige unterwegs bin! Denn dann frage ich manchmal plötzlich: ›Wo ist meine Geige?‹ Es passiert selten, dass ich ohne Geige Zug fahre, aber wenn, dann gibt es alle paar Minuten diesen Schreck-Impuls…

Jetzt erinnere ich mich wieder an das Interview mit Thomas Sanderling aus dem November des Jahres 2016. Ich wusste damals nicht, ob es nicht – angesichts seines nicht mehr ganz jungen Alters – anmaßend wirkt, ihn zu fragen, ob er noch eine große utopie habe, etwas, was er noch unbedingt mal musikalisch machen wollen würde…

Was hat er denn geantwortet?

Er meinte, er würde zu gerne alle vorletzten Fassungen von Bruckners Sinfonien dirigieren. Die seien viel risikoreicher und aufregender als die anderen Fassungen…

Coole Antwort.

Wenn Du Dir jetzt als Violin-Solistin aussuchen könntest, nein Müsstest: Werk, Dirigent, Orchester, Ort? was würdest Du sagen?

Oh Gott… Dann nehme ich eine Vision, die ich schon als Kind hatte. Also: Carnegie Hall, New York Philharmonic, Zubin Mehta, Brahms-Violinkonzert! ¶

... ist Konzertveranstalter, Moderator, Komponist und Pianist. Er gestaltet innovative Konzertformate, arbeitet als Musik-Satiriker, schreibt Stücke für Solist:innen und Ensembles und Texte für VAN, die Wiener Philharmoniker, die New York Philharmonics und die Bamberger Symphoniker. 2019 war er als Schauspieler an der Volksbühne zu erleben.