Bei der Fagottist:in und Komponist:in Joy Guidry läuft es gerade rund: Im Februar veröffentlichte sie ihr neuestes Album Radical Acceptance, im Juni gewann sie den Berlin Prize for Young Artists, ab Herbst ist sie Teil eines Doctoral Programs für Fagott an der University of California in San Diego. Guidry geht es bei ihrer Arbeit um mehr als interpretieren, komponieren und improvisieren. Als Gründer:in der Initiative Sounds of the African Diaspora, setzt sie sich außerdem dafür ein, Komponist:innen der afrikanischen Diaspora die Ressourcen und Räume zu geben, die sie brauchen, um sich ihrer Kunst zu widmen.
Guidrys eigene Musik ist elektroakustisch, klingt oft ätherisch und widmet sich inhaltlich häufig gesellschaftlichen Tabus wie psychischen Krankheiten oder dem verbreiteten Hass gegenüber dicken Menschen. Radical Acceptance verbindet Schwarze feministische Theorie, insbesondere die Arbeit von Bell Hooks, mit einer persönlichen Erzählung: Erfahrungen mit psychischen Krisen, romantischen Turbulenzen und familiärer Akzeptanz und Auseinandersetzung. Per Zoom spreche ich mit Guidry über ihr neues Album, Tokenism, Diversität und Glitch Feminism.
VAN: Deine Musik vermittelt nicht nur radikale Verletzlichkeit, sondern auch Humor und Wärme. Wie hat sich deine musikalische Sprache in den letzten Jahren verändert? Was hat funktioniert und was nicht?
Joy Guidry: Es hat sich bewährt, an meinen natürlichen musikalischen Instinkt zu glauben und auf ihn zu vertrauen, auch beim Experimentieren mit anderen Arten von Musik. Es kann sein, dass es bei einer Lesung oder einer Session nicht so gut läuft, aber ich nehme das dann als Erfahrungen mit, frage: ›Warum ist es nicht so gut gelaufen?‹ Und dann sehe ich schnell, dass ich versucht habe, eine Künstlerin zu sein, die ich nicht bin, und dann starte ich neu mit dem Vertrauen, dass ich in meine Musik habe, und versuche, sie mit dem Neuen zu kombinieren – und nicht das Rad neu zu erfinden.
Meine EP Darkness is a Myth arbeitet viel mit Superlativen, geht aufs Ganze. Bei Radical Acceptance bewegen wir uns auf ganz anderem Terrain. Erstens nehme ich jetzt Medikamente gegen meine psychische Erkrankung, und ich kann dadurch ganz anders denken. Ich wollte also verschiedene Areale meines Gehirns nutzen, ein paar Ambient-Sachen machen, ein bisschen Free Jazz. Ich habe mich von John Coltrane, Roscoe Mitchell, Jazmine Sullivan und Ari Lennox inspirieren lassen und all diese verschiedenen Formen der Schwarzen Musik mit dem Fagott kombiniert. Das Album wurde im Februar veröffentlicht, aber es hat sich weiterentwickelt, während wir es aufgeführt haben, auf Tour. Und jetzt bin ich mit meiner Musik an einen Punkt gekommen, an dem es zurückgeht zu meinen Wurzeln, nach Houston, Louisiana zu Zydeco, Gospel und Black Folk. Ich fange bald mit dem nächsten Projekt an, und ich reduziere bewusst alles, um einigen Dingen maximalen Raum zu geben. Aber ich versuche nicht, mich zu immer noch mehr zu zwingen – ich weiß, wann es OK ist, aufzuhören.
Du bist auch schon vor Radical Acceptance offen mit den persönlichen Themen umgegangen, die dort verhandelt werden. Wie war die Arbeit – kompositorisch wie emotional – bei so einer Vertonung von Identitätsfragen, insbesondere Geschlechterfragen?
Der Knackpunkt an diesem Album ist, dass es wirklich intersektional ist. Bei meinen Gender-Themen geht es um Rassismus, bei Fatphobia geht es um Rassismus, bei meiner Queerness geht es um Rassismus. Das geht nie wirklich auseinander, besonders im ersten Track [Just Because I Have a Dick Doesn’t Mean I’m a Man]. Er deckt alles ab, was da auf uns zukommt. Ich wollte, dass es sich anfühlt, als wäre ich verloren oder auf der Suche – verloren und auf der Suche – und deshalb ist Track 2 einfach eine Erweiterung von Track 1. Und es gibt so viele Schwarze Künstler:innen, die jetzt Sachen machen, die man eher Projekte nennen würde als Alben. Sie laufen durch, ohne Pause. Nimm zum Beispiel Beyoncés Lemonade oder Janelle Monáes Dirty Computer. Ich wollte auch so was Kontinuierliches.
Also habe ich mein ganzes Ich auseinandergenommen und konnte durch jeden Track gehen und die Musik als Therapie nutzen. Und jetzt habe ich gelernt, dass ich nicht jedes Stück aufführen muss. Ich spiele das erste Stück gar nicht mehr. Das ist zu schmerzhaft, besonders in einem Raum voller weißer Menschen. Jetzt beginne ich die Shows mit verzerrter Fagott-Improvisation und gehe direkt über in eine neue, sehr elektronische Version von Inner Child. Ich habe das also zu einem Teil einer Geschichte gemacht, in der es um Verarbeitung geht, um Liebe und Spaß in meinem Leben, und es macht jetzt wirklich Spaß, das aufzuführen. Die Technik macht mich nervöser als die Geschichte und der Schmerz es tun.
Was ich aus diesem Album und der Erkundung und Verarbeitung meines Ichs besonders gelernt habe, ist: dass die Leute deine Identität nehmen und sie für ihre Marketingzwecke nutzen. Wenn man mich googelt, steht in den meisten Interviews ›Joy ist dick, Schwarz und queer … ‹ und ich denke mir: ›Hört auf, mich als Punchline zu benutzen.‹ Ich bin verletzlich mit meiner Geschichte. Man kann auch einfach ›Joy ist Fagottist:in‹ schreiben. Das ist so eine Sache mit weißen Publikationen und diesem Album: dass sie wollen, dass das alles eine Minstrel-Show ist oder etwas in der Art ist, und das hat etwas sehr Ironisches, denn es ist ja so: ›Habt ihr eigentlich mein Album gehört? Ich spreche von euch!‹ Das hat mir gezeigt, dass ich meine Identität in Zukunft besser schützen muss.
Dieses Album, all meine Musik und meine gesamte Arbeit sind so zutiefst persönlich, und ich habe jetzt den Mut und die Kraft, den Leuten zu widersprechen und nicht zuzulassen, dass sie meine Geschichte als Clickbait benutzen.

Ich habe mich gefragt, was du davon hältst, dass man dich oft als ›Schwarze‹ oder ›queere Komponist:in‹ labelt und nicht einfach nur als Komponist:in. Was denkst du über diesen Tokenism in der Welt der Neuen Musik?
Das ist kompliziert, denn ich bin ja eine Schwarze Komponist:in, eine Trans-Komponist:in, es gibt all diese Überschneidungen. Wenn ich Workshops im Bereich Diversity gebe, sage ich immer: ›Wenn ihr im Februar ein Konzert nur mit Schwarzen Komponist:innen macht, aber dann in der ganzen Saison nie wieder Schwarze ins Programm aufnehmt, dann macht das Konzert einfach nicht.‹
Ich bin nicht dafür, Brahms oder Beethoven abzuschaffen, das ist großartige Musik. Und dann gibt es noch Florence Price, George Lewis, Yvette Jackson, Cleo Reed, Lisa E. Harris, Matana Roberts, Margaret Bonds, Nina Simone. Es gibt so viele erstaunliche Künstler:innen da draußen. Ich denke, ein perfektes Konzert könnte zum Beispiel bestehen aus Brahms’ Tragischer Ouvertüre – ein fantastisches Stück. Dann ein Stück von einer indigenen Person. Ein Stück von einer Schwarzen Künstlerin. Ein Stück von einem ostasiatischen und einem südasiatischen Künstler, denn Asien ist kein Monolith, genau wie Afrika kein Monolith ist. Zeigt die Realität! Zeigt, wie die Welt wirklich aussieht.
Ich finde es immer spannend, was Komponist:innen und besonders queere Komponist:innen denken über die Beziehung zwischen dem physischen Körper und dem musikalischen Klang, der ja insbesondere in der klassischen Musik als ›wie von einer anderen Welt‹ angesehen wird – in Bezug auf die Aufführung, die Beziehung zwischen Komponist:in und Interpret:in, zwischen Komponist:in und Instrument, zwischen Komponist:in und Stimme, und wie die Hörenden in all das hineinpassen. Wie siehst du das, vor allem was deine Offenheit gegenüber deinem eigenen Körper angeht?
Mich bringt das zu der Frage, ob man die Kunst von der Künstlerin trennen kann. Für mich ist das alles miteinander verbunden. Meine Musik bin ich, alle sind ihre Musik, sie entspringt ja dem eigenen Hirn. Ich habe irgendwie aufgehört, so viel von meinem Körper in meine Musik zu bringen, weil ich jetzt andere Sachen erforschen will, aber als ich das gemacht habe, war es, weil ich eben die Künstlerin bin, die ich bin. Die Leute haben versucht, diesen Teil von mir wegzuwischen, und ich meinte: ›Nein, ich bin auch fett.‹ Das ist die Kategorie, in die wir meinen Körper einordnen müssen, und ich sehe nichts Falsches daran, auch wenn andere Leute das vielleicht tun. Das hat mich so frustriert, dass meine Freundin Olivia und ich uns zusammengetan und She exists in several different time zones at once geschrieben haben. Ich wollte zeigen, dass das ist, wer ich bin, dass das der Körper hinter dieser Musik ist.
In Bezug auf Körper, Musik und Kunst hilft es mir dabei, mich mit dieser Art des Künstlerin-Seins, mit zeitgenössischer Kunst und Free Jazz und all diesen Überschneidungen wohler zu fühlen, wenn ich mir selbst ins Gedächtnis rufe, dass die Welt nicht für jemanden wie mich gemacht ist. Ich habe in diesem Jahr Legacy Russells Glitch Feminism gelesen, und da hat es oft klick gemacht. Wir leben in einem System, in dem vieles nicht in die binäre Ordnung passt – ich meine, ich bin buchstäblich nicht-binär. Das Gleiche gilt für Janelle Monáes Dirty Computer, das war so inspirierend: die eigene Identität als Kunst zu nutzen. Das ist schon seit einer Weile eine Grundlage für mich, und ich freue mich drauf, das weiter auszubauen: meinen physischen Körper zu verlassen und mit dem nächsten Album ein bisschen mehr in meine Seele und meine Herkunft einzutauchen.
Mir hat Glitch Feminism auch sehr gut gefallen, und jetzt, wo du es erwähnst, fällt mir auf, dass du ja in der Anfangsphase der Pandemie an Radical Acceptance gearbeitet hast. Wie war das? Ich habe das Gefühl, dass unsere technischen Devices in dieser Zeit besonders wichtig für uns waren, sogar noch wichtiger als vorher. Hat das deinen Kompositionsprozess beeinflusst?
Ich fühle mich immer noch sehr an mein Smartphone gebunden. Es ist ein bisschen verrückt, wie viel Zeit ich am Tag auf Tik Tok verbringe, aber es macht mich wirklich glücklich. Viele Künstler:innen und Akademiker:innen urteilen da schnell über andere: ›Du solltest nicht so viel am Handy hängen, geh lieber üben.‹ Dabei bin ich gerade verdammt erfolgreich und verbringe gleichzeitig so viel Zeit am Handy wie noch nie. Wenn du es nicht schaffst, stundenlang am Handy zu sein und trotzdem deine Arbeit zu erledigen, ist das deine Sache! Das ist auch ok, aber so bin ich nicht.
Ich habe das Gefühl, dass technische Geräte wirklich verteufelt werden, und Legacy hat das perfekt auf den Punkt gebracht, wenn sie schreibt, wie weiße Männer sagen: ›Ich will weniger von sowas abhängig sein‹, aber die Safe Spaces für Schwarze und PoC queere und trans Menschen sind nun mal online. Weiße Künstler:innen können einfach rausgehen und mit jedem reden, mit dem sie reden wollen, und gesehen werden. Das gilt auch für weiße queere Menschen und weiße Trans-Menschen. Weißsein ist Weißsein. Weiße sind über das gesamte Geschlechterspektrum hinweg vertreten. Natürlich sage ich hier auch mit Bedacht und Liebe, dass weiße Trans-Menschen nicht so präsent sind wie weiße Cis-Schwule oder weiße Cis-Lesben. Aber weiße Trans-Menschen werden immer noch viel besser repräsentiert als Schwarze, PoC, indigene Trans-Menschen, Two-Spirit-Menschen und nicht-binäre Menschen, und das wird auch so bleiben. Technische Geräte haben mir geholfen, andere Menschen zu finden, die so aussehen wie ich, haben mir geholfen, zu sehen, wie Menschen, die so aussehen wie ich, aufwachsen, haben mir geholfen, aufzuwachsen, haben mich viel gelehrt in Sachen Verantwortung und das Eintreten für Gerechtigkeit.
Damit habe ich jetzt noch nichts über das Komponieren gesagt, aber mein Leben steckt in meiner Musik, und die letzten zwei Jahre haben mich geprägt, den klanglichen Teil meiner Musik. Ich habe in letzter Zeit viel mit der Frage zu kämpfen, wie ich mich als Künstlerin identifiziere. Aber auch wenn ich nicht weiß, wo ich meine Musik einordnen soll, weiß ich, dass sie ihre Daseinsberechtigung hat, und ich weiß, dass ich immer einen Platz in dieser Welt haben werde, einen Platz in der Musikindustrie, einen Platz in meiner Familie und im Kreis meiner Freund:innen, und einige dieser Plätze werde ich mir selbst schaffen. Wenn es um meine Familie, meine Freund:innen und meine Community geht, habe ich aber durch radikale Akzeptanz auch gelernt, dass ich nie darum kämpfen sollte, gesehen, geliebt und gehört zu werden und dass sich jemand um mich kümmert. Diese Dinge sollten sich von selbst ergeben. ¶