»Vom Blatt gespielt« heißt: die Themen, die wir in VAN abbilden, in eine erweiterte Perspektive setzen, Sichtweisen miteinander verknüpfen. Mit Leuten, die was zu sagen haben und tief in der Musik verwurzelt sind. Das Format ist nicht neu. Unsere Leser/innen der ersten Stunde erinnern sich, dass wir bereits damals, als VAN noch eine App war, vom Blatt spielten. Die Folgen aus den ersten beiden App-Ausgaben, mit dem Cellisten Alban Gerhardt und der Bratschistin Tabea Zimmermann, sind bereits hier im Webmagazin erschienen, die dritte, mit dem Dirigenten Jonathan Stockhammer, reichen wir nun nach.
VAN: Fangen wir mit unserem Namenspatron VAN Beethoven an. Wann und wie ist seine Musik dir zum ersten Mal begegnet?
Jonathan Stockhammer: Meine Eltern waren beide klassische Musiker, doch die 6. Sinfonie, die Pastorale, die entdeckte ich ganz für mich alleine; das hatte eine enorm tiefe Wirkung auf mich. Ich kannte die Musik aus dem großartigem Disneyfilm Fantasia (1940). Klar fehlen mir, wenn ich den heute sehe, drei Viertel von Sacre du Printemps, und die Schnitte bei Beethoven sind auch nicht perfekt. Aber damals eröffnete mir der Film einen geheimnisvollen Zugang zur Musik. Als ich einmal krank im Bett lag, bin ich gleich zu Beginn einer ›richtigen‹ Aufnahme der Sechsten eingeschlafen. Als ich aufwachte, habe ich diese repetitiven Stellen aus dem ersten Satz gehört (setzt sich ans Klavier und spielt) und gedacht: ›Komisch, was ist das denn?‹ Diese Stellen kamen in Fantasia nicht vor, dort ist die ganze Durchführung rausgeschnitten, es geht gleich nach der Exposition in die Reprise. Und mich hat dieses fast schon Minimalistische erstaunt: ›Hängt meine Kassette?‹, dachte ich. So etwas bereitet ja schon fast John Adams oder Steve Reich vor, nicht nur in der 6. Sinfonie, sondern zum Beispiel auch im zweiten Satz des Streichquartetts op. 135.

Wir haben den Dirigenten Jan Caeyers, der vor zwei Jahren eine sehr erfolgreiche Beethoven-Biografie geschrieben hat, zu einer Diskussion befragt, die seit einiger Zeit intensiv geführt wird: ob das klassische Konzertformat ausgedient hat. Was denkst du, braucht es eine neue Aufführungskultur der klassischen Musik?
Ich hatte ein Schlüsselerlebnis als ich mit Péter Eötvös und sieben anderen Dirigenten die Universe Symphony von Charles Ives in der riesigen, frühromanischen Kölner Kirche St. Maria im Kapitol aufgeführt habe. Wir baten das Publikum, dabei umherzuwandern. Das verursachte zwar Geräusche – und das Konzert wurde aufgezeichnet –, aber uns war wichtiger, dass die Leute die Musik, das ›Universum‹, aus verschiedenen räumlichen Perspektiven entdecken und erfahren können. Da kamen so unglaublich enthusiastische Rückmeldungen zurück; viele allein wegen des Umstands, nicht sitzen zu müssen, sondern dahin gehen zu können, wo es einen lockt, und dabei die Musik und den Raum zu entdecken.
Ich verstehe, warum Clubs so cool sind, diese Ekstase. Ich weiß, was mir gefehlt hat, als ich auf Parties nur gehemmt in der Ecke saß und zuschaute. Wenn ich mich heute auf den Dancefloor traue, dann habe ich ein unglaubliches Gefühl der Verbindung. Le Sacre du Printemps zum Beispiel ist auch im Sitzen ein geiles Stück. Aber bist du dazu mal tanzend im Wohnzimmer herumgesprungen, bis dir die Luft ausging? Solche Momente sind einfach überwältigend; warum sollte das dem klassischen Publikum für immer verboten und verborgen bleiben?

Barbara Kuster vom Asasello Quartett schreibt über so eine ›Verbindung im Dunkeln‹, beim Spielen des Streichquartetts In iij. Noct. von Georg Friedrich Haas, das in völliger Dunkelheit aufgeführt wird, wodurch der Hörer mit ungewohnten Körper- und Hörerfahrungen konfrontiert wird. Haas setzt damit fort, was er bereits in Adolf Wölfli und in vain begonnen hatte. Letzteres hast du auch schon mehrmals dirigiert …
Ja, das ist eine meiner wichtigen Erfahrungen aus jüngerer Zeit. in vain trägt viele verschiedene, extreme Faktoren in sich. Nicht nur, weil auch hier 25 Minuten der Musik im Stockdunkeln gespielt werden. Es lösen sich auch die Grenzen zwischen dem Ort der Musikerzeugung, also dem Orchester, und deiner eigenen Hörempfindung langsam auf, man gewinnt ein völlig anderes Bild von dem Orchester. Und: die Dramaturgie des Stücks ist so wahnsinnig stark, alles Sterile ist ausgeschaltet, man kann als Hörender nicht unbeteiligt bleiben, das ist eine Musik, die wirklich beunruhigen kann.
Improvisation spielt eine wichtige Rolle bei In iij. Noct.. Verbale Beschreibungen von Klängen bestimmen die Struktur. ›Wir hängen uns nicht mehr an einen wie sonst in der europäischen Kunstmusik linearen Verlauf, sondern bewegen uns abgesehen von einem klar definierten Anfang und Ende frei schwebend durch die Stille zwischen den Klangmodulen von Hörerwartung zu Hörerwartung hin und her‹, schreibt Barbara. In unserer englischen Ausgabe hat die Cellistin Elena Cheah kürzlich darüber geschrieben, wie sie Improvisation aus einem Burn-out befreite: ›A burnout at 27. I needed a big break from the grown-up business of being a polished professional. I wanted to learn how to play like a child again, this time in music‹. Werden Zufall, Improvisation, aber auch eine neue Verortung von Körperlichkeit für klassische MusikerInnen heute wichtiger?
Ich glaube, es wird in diese Richtung gehen müssen. Student/innen werden an Hochschulen immer noch zu wenig ermutigt, nicht nur das eigene Instrument perfekt zu beherrschen, sondern zum Beispiel auch mal in andere Kurse zu gehen: Lied, Begleitung, Schlagzeug. Manche Sachen haben die Jazzmusiker einfach besser drauf: Als ich mit Chick Corea oder Gary Burton gearbeitet habe, wurden viel weniger technische Fragen thematisiert, sondern eher solche der plastischen Wahrnehmung: Wie intensiv soll es in einem Moment sein, welche Form soll es haben?
Wie hast du als Kalifornier, als du nach Deutschland kamst, die Neue-Musik-Szene wahrgenommen, die ja vor einiger Zeit – in den Traditionen von Darmstadt, Witten, Donaueschingen – noch sehr viel akademischer geprägt war als in Amerika?
Ich mache oft Witze darüber. Allein dieser permanente ›Kitsch‹-Verdacht: Wenn man die ganze Zeit zwanghaft versucht, Kitsch zu vermeiden, hat man sich enteit. Man muss sich zumindest manchmal die Möglichkeit erlauben, über die Grenzen zu gehen und im Kitsch zu landen. Das hat sich in den letzten zehn Jahren, in denen ich ziemlich viel Neue Musik mache, aber extrem aufgelockert. Ein Beispiel: Harry Vogt, den ich immer für einen konsequenten Gralshüter der deutschen Avantgarde gehalten hatte, lud mich ein, beim WDR ein Programm zu dirigieren. Und ich kam aus dem Staunen nicht mehr raus, als wir zusammen saßen, um über das Programm zu sprechen und er mir vorschlug, Bernsteins Sinfonische Tänze aus der West Side Story zu dirigieren. Ich hätte nie gedacht, dass so was geht in ernsten Kreisen.

Wir haben noch eine andere Form von Musik, die andere Musik beinhaltet, im Magazin, möglicherweise konzeptionell etwas unbelasteter als das, worüber wir bisher gesprochen haben. Julian Tompkin findet heraus, wie Klassische Musik und Heavy Metal zusammenhängen; wir hören ›Symphonic‹ oder ›Operatic Metal‹, kennst du so etwas?
Ja, ich habe selbst Gitarre in einer Metal Band gespielt, und meine großen Vorbilder waren Rush. Die fingen an in der »Power Trio« Tradition, wie Cream oder Led Zeppelin, gingen durch eine Progressive Rock Phase wie King Crimson oder Yes, durch eine Synthesizer-Phase in den 1980er Jahren und in den 90ern dann zurück zu einem Heavy-Metal-Sound. Auch Rush-Alben sind immer sehr lang, irgendwie opernmäßig aufgebaut, und auf jeder Platte gibt es ein komplexes Instrumentalstück. ich war vor zwei Jahren in Köln und Berlin wieder bei ihren Konzerten – die Aufregung die ich da spüre, erwarte ich auch vom klassischen Konzert.

Wir bekamen den Eindruck, dass Heavy Metal und diverse Spezialdisziplinen irgendwie nicht so an der Tonträger-Krise leiden. In unserer Streaming-Rallye haben wir verschiedene Streaming-Angebote unter die Lupe genommen, die sich explizit oder unter anderem klassischer Musik widmen. Brendan Finan zeigt auf, warum es für viele klassische Musiker/innen bessere Orte der Verbreitung gibt als die großen Streaming-Plattformen. An anderer Stelle schreibt Alex Ross darüber, wie Spotify und Co. gleichzeitig verlockend sind, aber dem Musikliebhaber mit dem physischen Objekt doch auch etwas Musik-Identität wegnehmen. Gleichzeitig gibt es eine Vinyl-Renaissance, der wir uns in einer unserer Stilkritiken widmen. Was ist deine Perspektive auf Streaming und die Krise des physischen Tonträgers?

Ich versuche es zu akzeptieren, wie die Tatsache, dass ich alt werde und sterbe, die auch nicht in allen Aspekten schön ist. Ich muss gestehen, es ist schon geil, schnell zwischen zwei Proben ins Internet tauchen zu können und irgendein Lied aus den 70ern, was man damals vielleicht einmal im Radio gehört hat, zu finden. Aber die Magie ist weg. Ich erinnere mich, wie es war, wochenlang eine bestimmte Aufnahme zu suchen oder von Freunden zu hören ›dieses neue Album musst du hören!‹, und die waren alle ausverkauft, und dann ist man von einem Schallplattenladen zum anderen gelaufen … auch das Vinyl selbst, diese coole schwarze Fläche, auf der es laut und leise wird … sogar die Booklets der CDs … man liebt diese Objekte einige Wochen und es definiert eine Phase im Leben.
Diese Definitionskraft ist weg, wenn ich hier parallel zehn Aufnahmen als Tabs in meinem Browser-Fenster habe. Ich bin nirgendwo emotional involviert, es kostet mich nichts.

Hast du eine ähnliches Gefühl gegenüber Remixen von klassischer Musik? Kann aus dem kreativen Umgang mit dem ›geschlossenen, heiligen Meisterwerk‹, der dieses einfach als Klangmaterial begreift, etwas wesentlich Originelles entstehen?
Auf jeden Fall! Wenn man einen Remix macht, ist man gezwungen, sich nicht nur mit den Elementen, sondern auch der Sprache des Stücks auseinanderzusetzen. Und diese Konfrontation bricht die statische Einheit des ›Werks‹ auf, das möglicherweise schon super perfekt wirkt, obwohl wir wissen, dass manche Meisterwerke, die sich heute so fest in unser Gehirn gebrannt haben, erst in letzter Minute noch mal vom Komponisten überarbeitet worden sind. Je mehr wir also mit dem Material arbeiten, desto besser verstehen wir, dass alles auch ganz anders hätte sein können.
In Ländern und Kulturen, wo man vielleicht drei Mal im Leben eine Oper erlebt, da kann ich verstehen, dass man nicht Don Giovanni in Latex und Ketten sehen will, aber Mozart wird durch so etwas nicht beschädigt, er hätte daran Riesenspaß gehabt! Ich finde gerade das Spielerische an Remixen so toll; das findet im klassischen Musikbereich so wenig statt, eine Rossini-Overtüre mal als Foxtrott zu spielen, mal als Tango, mal als Ballade, mal als Kabarett. Dadurch würde unsere Auseinandersetzung noch intensiver und lebendiger. Natürlich gibt es auch die Aldi-Variante, kann man es auch billig machen, einfach eine 4/4-Basedrum drunterlegen. Aber: Wenn man unkonventionelle Dinge mit einem Stück macht, das einem sehr vertraut ist, kommt es manchmal neu in die Seele hinein, man kann ganz jungfräulich neue Elemente entdecken, die man vorher nicht sah, weil man daran zu gewohnt war, fast wie betäubt.

Mit dem Text des Schriftstellers Thomas Pletzinger haben wir ein Dokument, wie jemand, der zum ersten Mal bei einem klassisches Konzert ist, viele Dinge zum ersten Mal wahrnimmt, die ganzen Äußerlichkeiten sieht, an die ein langjähriges Publikum der klassischen Musik auch sehr gewohnt ist. Die Rituale scheinen hohl, nicht mehr lebendig.
Ich glaube, das ist eine wichtige Beobachtung. Nicht nur, dass die Rituale ein wenig steif sind, sondern auch viele körperliche Signale und Gesten, über die wir uns als Musiker zu wenig Gedanken machen. Das betrifft aber auch das Orchester an sich, diese Hierarchien: Als ich anfing, Opernorchester zu dirigieren, bekam ich mit, dass die meisten MusikerInnen sich nicht getraut haben, sich länger und unter vier Augen mit mir zu unterhalten, obwohl viele genau das gleiche Alter hatten, ähnlich leben. Diese Ehrfurcht gegenüber dem Dirigenten verursachte das unerträgliche Gefühl, dass ich nicht ich selbst sein darf, Abstand halten muss. Andererseits war es problematisch, weil ich aus der angloamerikanischen Tradition kommend, eher versuchte, mich höflich auszudrücken, unterstützend, auf Augenhöhe; das wurde in Deutschland als nicht authentisch aufgefasst, als würde man um den heißen Brei herumreden wollen.
Aber auch das ändert sich gerade sehr stark, es gibt immer mehr Orchester oder Ensembles, die diese Hierarchie nicht haben, die duzen den Dirigenten, da bestimmen Musiker mit, wer eingeladen ist, was gespielt wird, auch den Bühnenaufbau. In vielen Fällen hat auch ein Generationenwechsel Einzug gehalten, und die Jüngeren erwarten nicht mehr diesen Tyrann; die fühlen nicht erst dann Vertrauen, wenn sie von einem Dirigenten erst heruntermacht werden, bevor er sagt: ›Jetzt baue ich euch auf und zeige es, wie es geht.‹ ¶