Das Plattenlabel Odradek Records ist die Antithese zur Vermarktungs-Strategie der großen Namen. Die Künstler/innen für Veröffentlichungen werden in einem ausgeklügelten Prozess anonym ausgewählt, also ohne Blick auf Ruhm, Biografie oder Aussehen. Eine Utopie, oder nicht? Einige Fragen an den Gründer, John Anderson, der in Italien das Aufnahmestudio für die Klassiksparte von Odradek betreibt.

Wie läuft das mit eurem Auswahlprozess?

Wir sind ein Klassik- und Jazzlabel, und für jede der beiden Richtungen haben wir eine eigene Version der Software Anonymuze. Es gibt darin ein Bewerbungsformular, die Künstler laden ihr Demomaterial hoch. Das System teilt nach dem Zufallsprinzip jedem Demo eine Teilgruppe der gesamten Jury-Liste zu. Für die klassische Musik sind es insgesamt 60 Personen. 33 davon bekommen ein Demo. Weil es immer andere 33 sind, haben wir einerseits eine repräsentative Teilmenge, andererseits wird der Arbeitsaufwand für alle etwas reduziert. Das System addiert die Ja- und die Nein-Stimmen, die Mehrheit gibt den Ausschlag. Wenn die Wahl positiv ausfällt, dann teilt uns das Programm mit, wer der Bewerber oder die Bewerberin ist. Im anderen Fall erfahren wir es nie. Das wäre wahrscheinlich schlecht fürs Geschäft: wir haben Musiker mit erfolgreichen Karrieren dabei. Die Vorstellung, von Kollegen abgelehnt zu werden, könnte sie abschrecken. So aber kann jeder alles abstreiten (lacht).

Hast du schon mal ein Demo gehört, das du so gut fandest, dass du es produzieren wolltest, obwohl es demokratisch abgelehnt wurde?

Das ist einmal passiert.

Und dann …

… dann haben wir das Demo abgelehnt. Ich mache keine Ausnahmen für irgendjemanden, auch nicht für die Leute, die beim Label arbeiten. Wir sind alle Musiker/innen, und die meisten haben eine eigene Veröffentlichung in Planung. Auch ich spiele Klavier, aber wenn es irgendwann soweit kommen sollte und ich eine Aufnahme machen will, dann wird es keine Ausnahmen geben.

Die gleiche Prozedur …

Klar, auf jeden Fall.

Kommt auf diese anonyme Art der Auswahl eine heterogene Gruppe an Künstler/innen zusammen, die beim Label veröffentlichen?

Ich glaube, wir sind schon ziemlich divers. Was die Klassikseite angeht, da sind wir limitiert durch den Grad an Diversität, den es in dem Feld gibt, und der ist nun mal nicht so hoch. Wir haben das Album einer schwarzen Sängerin veröffentlicht, sie ist halb Nigerianerin, halb Österreicherin. Ansonsten sind alle weiß; das könnte natürlich besser sein. Wenn man da was tun könnte, würde ich es versuchen. Aber in der Position sind wir nicht. Das Interessantere an Anonymuze ist allerdings Folgendes: Wir erfassen die demographischen Daten aller Bewerber, anonymisieren und fassen sie zusammen. Wir vergleichen sie mit den Daten derjenigen, die dann am Ende ausgewählt werden; daran erkennt man, ob es gewisse Abweichungen gibt. In Bezug auf das Verhältnis von Männern und Frauen zum Beispiel gibt es überhaupt keine Abweichung.

Viele Stücke, die man auf eurer Soundcloud-Seite hören kann, sind lange, mehrsätzige moderne Stücke. Gibt es irgendwelche Tendenzen in Bezug auf das ausgewählte Repertoire?

Wir haben etwa ein 1:2-Verhältnis von Repertoire, das zeitgenössisch, beziehungsweise aus dem 20. Jahrhundert ist, zu klassischem Repertoire. Es gibt einfach so viel mehr Aufnahmen vom klassischen Kernrepertoire, und das Qualitätsniveau ist dabei viel höher. Man ist andererseits eher begeistert von einem Werk, das man nie zuvor gehört hat. Zumindest werden wir durch den anonymen Demo-Prozess nicht gepackt vom Namen des Interpreten, das muss die Interpretation oder eben das Werk leisten.

Schönberg, Suite für Klavier, Op. 25, IV. Intermezzo; Pina Napolitano (Piano) · Link zum Album

Auf der Facebook-Seite von Odradek heißt es, die Firma haben ›keinen festen Wohnsitz‹ (›no fixed abode‹). Wie ist das zu verstehen?

Erstens hat das mit unserem Namen und Kafkas Erzählung zu tun, in der der Odradek vorkommt: es ist ein Ding, es ist im Haus, und du bist dir nicht sicher, ob es belebt ist oder nicht. Der Familienvater fragt den Odradek, woher er komme, und er antwortet: ›kein fester Wohnsitz‹. Es ist also erst einmal ein Zitat. Aber in unserem Fall hat es auch eine weitere Wahrheit. Wir sind, was die Administration angeht, eine amerikanische Firma, in den USA ist auch der offizielle Sitz. Ich lebe aber in Italien, der Labelmanager in Deutschland, in Hamm. Die Person für Vertrieb und Rechnungswesen sitzt in Madrid, der Fotograf ist Italiener, wir haben in Rom auch noch ein weiteres Studio für Jazz, der Kollege in Griechenland organisiert Live-Events, und alles was mit Redaktion und Text zu tun hat, entsteht in Großbritannien. Wir mastern in Frankreich, im Bereich der Lizenzen werden wir von Austro Mechana in Wien vertreten, unsere Platten werden in der Tschechischen Republik hergestellt. Und auch die Künstler haben überhaupt keinen geografischen Schwerpunkt. Sie sind bisher aus 24 verschiedenen Nationen. Wenn man es so sieht, gibt es also keinen festen Wohnsitz. Wir sind weder eine amerikanische, noch eine italienische Firma, wir sind eigentlich … im Internet.

Gibt es einen übergreifenden ›Sound‹ eurer Platten?

Ja, wir haben so was wie die Art des Hauses (house style). Wir machen in technischer Hinsicht ein paar Sachen, die die Deutsche Grammophon nicht machen würde. Unsere Pegel sind ein bisschen höher geregelt. Wir versuchen es ein bisschen mehr nach vorne kommen zu lassen, wärmer, entgegenkommender. Weniger »klassisch« in dem Sinne, dass das Instrument eben weit weg ist, auf der Bühne. Nimmt man die Deutsche Grammophon und ECM als Pole, dann sind wir eher auf der ECM-Seite. Aber ob die Leute nun eines unserer Alben allein vom Sound her erkennen würden, das weiß ich nicht.

Lazkano, Chalk Laboratory, Wintersonnenwende 2 / III; SMASH ensemble · Link zum Album

Ist Odradek für dich ein Aufbegehren gegen die Art wie die Majors ihr Geschäft betreiben?

Ich habe nie Aufnahmen für ein anderes Label gemacht, bevor ich Odradek gegründet habe. Aber ich habe mich umgeschaut, und mir waren einige Verzerrungen, die es in der Welt so gibt, sehr bewusst. Was mich gestört hat, ist Folgendes: Ich meine, klar, die Leute haben verschiedene Geschmäcker, und Interpretation ist auch immer subjektiv. Aber für mich ist klar, dass es Künstler und Künstlerinnen gibt, die viel mehr Erfolg haben als ich eigentlich erwarten würde, und dass viele andere Künstler ziemlich darben, schließlich das Instrument und ihre Kunst aufgeben müssen, weil sie einfach keine Chance mehr haben, einen guten Schnitt zu machen. Das hat mich irritiert. Ich stoße mich nicht daran, wenn jemand Erfolg hat, aber daran, dass es für viele Leute, die genau so einen Erfolg verdient hätten, keinen Platz gibt.

Wir versuchen, die Mechanik der Branche in die Hände der Künstler zu legen, auf eine Art, die gerechten Zugang ermöglicht und Verdienste belohnt. Wir arbeiten demokratisch, und die Profite, die wir mit einem Album machen, gehen an den Künstler, der es aufgenommen hat. Das läuft so weit ganz gut. Wir haben auch ziemlich bekannte Künstler. Artur Pizarro zum Beispiel, der würde von jedem Label genommen werden. Wir haben auch Künstler, die in Sachen Biografie oder Wettbewerb unbeschriebene Blätter sind. Aber die Alben, die wir veröffentlichen, bekommen alle ihre Besprechungen. Ich glaube, das liegt daran, dass die Leute, die Odradek kennen, wissen, dass wir eine hohe Messlatte anlegen – wenn Pizarro ein gewisses Level vorlegt, dann gibt es keinen Zweifel daran, dass das auch vom Album erreicht wird, das nach ihm kommt.

Rachmaninoff, Prelude No. 12 in gis-Moll, Op. 32 Allegro; Artur Pizarro (Piano · Link zum Album

Hast du eine feste Routine für das Anhören von CDs?

Auch wenn du es vielleicht nicht glaubst, ich habe keinen CD-Player. Mein Haus platzt aus allen Nähten vor lauter CDs, aber ich habe keine Möglichkeit, sie anzuhören (lacht). Ich höre digital, am Computer. Um ehrlich zu sein, ich arbeite so viel mit Sound, dass ich nicht mehr so viel Zeit damit verbringe, Musik zum Vergnügen zu hören.

Aber wenn du dir Demos anhörst, wirst du da am Computer nicht leicht abgelenkt?

Ich bilde mir nicht ein, dass jeder in voller Konzentration von vorne bis hinten durch jedes Demo hört, das reinkommt. Das ist eine Illusion. Meistens hörst du ein paar Minuten, dann hast du einen ersten Eindruck, dann skipst du ein bisschen nach hinten und entweder wird dein Eindruck bestätigt oder du überrascht.

Ēriks Ešenvalds, Liepaja-Konzert No. 4, ›Visionen der arktischen Nacht‹, Teil III, LIEPAJA SYMPHONY ORCHESTRA · LINK zum ALBUM

Bei Odradek suchen sich die Künstler ihr Repertoire aus. Aber wenn du dir etwas aussuchen könntest, was eine/r deiner Künstler/innen aufnimmt, was wäre es?

Ich hätte große Lust, Die Sprüche des Péter Bornemisza von György Kurtág zu machen. Auch das Doppelkonzert, das ist nicht einmal gedruckt, du kommst nicht an die Noten. Aber ich würde es wirklich gerne machen. Ziemlich oft haben Bewerbungen Erfolg mit Stücken, die mich nicht gerade in Extase versetzen. Rachmaninoffs 2. Klaviersonate, zum Beispiel – ein großes Stück, aber ich habe es jetzt drei Mal aufgenommen. Das reicht. ¶