Johannes Moser spielt mit 160 (Laien-)Cellist*innen ein Konzert für die Feldlerche auf dem Tempelhofer Feld.

Text · Fotos © Kamila Juruć · Datum 5.6.2019

»1, 2, 3, 4!« Johannes Moser zählt Bachs Air ein. Er scheint das nicht gewohnt zu sein, ist sich dafür aber auch überhaupt nicht zu schade. Musikalische Schwarmintelligenz ohne Dirigent*in funktioniert schließlich nur, wenn man sich gegenseitig hört, und das ist an diesem Nachmittag auf dem Tempelhofer Feld in Berlin nicht so einfach. Der Wind pfeift über das stillgelegte Flughafengelände, die Sonne knallt, die 160 Laien und Profis haben vorher noch nie zusammen musiziert. Eine Anspielprobe direkt vor dem Konzert gibt es, das muss reichen. Im Hintergrund hört man Feldlerchen singen, sobald Musik erklingt, wird ihr Gesang lauter.

Der Cello-Schwarm mit Teilen von Bachs Air

»Das Tempelhofer Feld ist der Feldlerchen-Hotspot von Berlin«, erklärt Rainer Altenkamp vom NABU, der das Konzert zusammen mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin veranstaltet (als Teil einer die gesamte Spielzeit andauernden Kooperation). »Es gibt hier auf dem Tempelhofer Feld etwa 200 Feldlerchen-Paare. So viele Feldlerchen pro Fläche gibt es sonst nur noch an der Nordsee.« Die Feldlerche ist zwar nicht direkt vom Aussterben bedroht, gilt aber als gefährdet. »Die Feldlerche ist primär Bewohnerin von Äckern und Feldern«, so Altenkamp. »Die werden heute in einer Weise bewirtschaftet, die dazu führt, dass viele Feldvögel, unter anderem auch die Feldlerche, dort nicht mehr leben können. Die Stichworte sind: Pestizideinsatz gegen Insekten, Unkrautvernichter, sehr häufige Bodenbearbeitung und dann der Anbau von Feldfrüchten wie Raps oder Mais, in denen die Feldlerche gar nicht brüten kann. Das dehnt sich im Moment in der Landwirtschaft immer mehr aus, ein Ende des Negativtrends ist nicht absehbar.«

Nach Negativtrend fühlt sich dieses Konzert auf dem Tempelhofer Feld allerdings überhaupt nicht an. Neben den 160 Cellist*innen aus allen Altersgruppen sind viele extra zum Zuhören hergefahren, andere kommen angelaufen, um zu gucken, was dieser weithin sichtbare Cello-Schwarm ausheckt und setzen oder legen sich zu den anderen ins Gras, von denen, die vorbeiradeln, skaten oder laufen bleiben die allermeisten stehen und lauschen und schauen interessiert. Als ein Windstoß einige Noten von den Pulten fegt, laufen sofort Menschen aus dem Publikum los, um sie wieder einzufangen.

Bei Somewhere over the Rainbow mit 160 Celli muss Johannes Moser nach eigener Aussage fast weinen, und das nimmt man ihm ab. »Ich habe seit Teenagertagen immer wieder Konzerte gespielt an Orten, an denen die normalerweise nicht stattfinden«, erklärt er später am Telefon. »Diese Pop-Up-Konzerte sind eigentlich ein Anfang, man geht vom allgemeinen Konzert in die persönliche Begegnung und baut über die Musik, das Gespräch über die Musik und auch über andere Dinge Kontakt mit Menschen auf, mit denen man normalerweise nicht in Kontakt kommt. Das ist auch immer ein sehr schöner persönlicher Moment für mich, weil dadurch mein Horizont, der durch die Trias ›Hotel – Flughafen – Konzertsaal‹ oft sehr eingeschränkt ist, aufgebrochen wird.« Als Artist in Residence hat er diesen Ansatz in dieser Saison mit ins Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin gebracht und mit der Cellogruppe Konzerte unter anderem auch in sozialen Einrichtungen wie der Bahnhofsmission am Berliner Hauptbahnhof gespielt.

Als Pop-Up- oder Begegnungskonzert funktioniert der Celloschwarm großartig. Bei Pablo Casals Song of the Birds, den nur die Cellist*innen des Rundfunk-Sinfonieorchesters mit Johannes Moser spielen, ist es so gespannt still, wie es an einem windigen Tag auf dem Tempelhofer Feld eben sein kann. Nach dem letzten Ton verläuft sich das nun wieder angeregt plaudernde Publikum nur langsam.

Was auf dem weitläufigen Feld bei diesem Konzert weniger Platz findet, ist das Kämpferische, die Energie einer wirklich (umwelt-)politischen Veranstaltung. Und gerade im Fall der Feldlerche liegen eindeutige Forderungen in Richtung Politik eigentlich auf der Hand: Die Intensivnutzung riesiger landwirtschaftlicher Flächen durch große Betriebe wird maßgeblich durch die Agrarpolitik der EU vorangetrieben. »Die EU gibt pro Jahr 58.000.000€ als Subventionen an die Landwirte«, erklärt Rainer Altenkamp mir im Anschluss an das Konzert (in einer kleinen Rede nach dem ersten Stück hatte er das Problem kurz angerissen). »Die Direktzahlungen waren ursprünglich mal gedacht als Existenzsicherung. So, wie das Geld jetzt verteilt wird, geht es im Wesentlichen an Agro-Industrielle, also an riesige landwirtschaftliche Betriebe, die umso mehr Geld bekommen, je mehr Fläche sie bewirtschaften. Wie die Flächen bewirtschaftet werden, interessiert die EU überhaupt nicht. Und das ist das Problem. Aktuell fördert man diese Intensivlandwirtschaft, man könnte mit dem Geld aber auch ganz anders fördern: mehr Ökolandbau, zumindest bessere Umweltstandards als die, die bisher gelten. Aber da ist die EU ein dickes Brett.«

Dass das Artensterben weltweit ein gravierendes Ausmaß angenommen hat, zeigte der jüngst veröffentlichte Bericht zur Artenvielfalt des Weltbiodiversitätsrats der Vereinten Nationen. Im Rückgang der Feldlerchenpopulation sieht Rainer Altenkamp ein Paradebeispiel für diese Entwicklung: »Weltweit haben wir die größten Artenverluste im Bereich der Agrarlandschaft zu beklagen. Und die Gründe sind weltweit dieselben wie in Deutschland. Deutschland hat sich mal verpflichtet, bis 2020 das Artensterben nicht nur zu stoppen, sondern die Artenvielfalt auch wieder auf ein höheres Level zu bringen. Davon sind wir weit weit entfernt. Die Frist wird jetzt immer weiter nach hinten verschoben. Ich sehe aber ohne ein grundsätzliches Umsteuern in der Landwirtschaftspolitik nicht, wie wir dorthin kommen wollen.«

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Die Europawahl hat gezeigt, dass grüne Themen wie Umwelt- und Klimaschutz vielen Menschen in letzter Zeit sehr viel wichtiger geworden sind – gerade in den großen Städten, die gleichzeitig auch die Kultur- und Klassikhotspots sind. Die Klassikbranche scheint mit ihrem Festhalten an regelmäßigen Orchester-Touren nach Übersee und ihrer weitestgehenden Ignoranz gegenüber Umwelt- und Klimaschutz-Maßnahmen diesen Bewusstseinswandel zu verschlafen. Auch Johannes Moser erlebt solche Themen in seinem beruflichen Alltag als unterrepräsentiert: »Ich selber bin ja ein großer Klimasünder. Ich fliege mit meinem Cello zum Teil für ein Konzert auf einen anderen Kontinent. Mein ökologischer Fußabdruck ist abgründig furchtbar. In Deutschland versuche ich das auszugleichen, ich besitze kein Auto und fahre von Berlin nach Köln mit der Bahn und nehme nicht das Flugzeug. Aber durch die Art, wie man als Solist agiert, wie mein Leben aufgestellt ist, bin ich ganz schön in der Bringschuld. Solche Aktionen wie das Konzert für die Feldlerche gleichen meinen Fußabdruck natürlich nicht aus, aber ich versuche zu tun, was ich kann.«

Dass Musiker*innen wie Johannes Moser ihre Plattformen und Reichweite nutzen, um auf Entwicklungen wie das rasante Artensterben aufmerksam zu machen, dass ein Orchester wie das RSB eine gesamte Spielzeit unter das Motto »Der Mensch und sein Lebensraum« stellt und sich mit dem NABU dabei auch wirkliche Umwelt-Spezialist*innen ins Boot holt, ist also gleichermaßen erfreulich wie an der Zeit. Auch die Idee, die schwindende Biodiversität im Rahmen eines klassischen Michtmach-Konzertes in den Fokus zu rücken, ist grundsätzlich sehr gut. Eine noch deutlichere Zuspitzung der Problematik, die stärkere Motivation zum gemeinsamen Vorgehen und mehr Mut, mit politischer Positionierung auch mal anzuecken oder Widerspruch zu riskieren, könnte solche Konzerte noch stärker zu wirklich wirksamen Begegnungen und vielleicht sogar Ausgangspunkten von Bewegungen machen. Der Cello-Schwarm verläuft sich stattdessen gut gelaunt unter der strahlenden Feiertags-Sonne.

(Auf seiner Website bietet der NABU übrigens allen einen ganz bequemen Weg, direkt von der oder dem jeweils für einen zuständigen Europa-Abgeordneten zu fordern, für Änderungen der EU-Agrarsubventionen einzutreten.)

... machte in Köln eine Ausbildung zur Tontechnikerin und arbeitete unter anderem für WDR3 und die Sendung mit der Maus. Es folgten ein Schulmusik- und Geschichtsstudium in Berlin und Bukarest. Heute lehrt sie Musikwissenschaft an der Universität der Künste Berlin und ist Redakteurin bei VAN. merle@van-verlag.com