Wie lange gepflegte Erzählungen der Klassikwelt Täter- und Opferrollen verdrehen.
Charles Dutoit, James Levine, Siegfried Mauser und Gustav Kuhn – nach Vorwürfen, Prozessen und Verurteilungen wird ein gewisses System erkennbar: ein Geflecht aus Erzählungen, Bildern, Idealisierungen und nicht zuletzt ein Netzwerk einflussreicher Künstler und »Kunstkenner«, das Täter schützt, indem Anschuldigungen zu lächerlichen Diffamierungen und sexualisierte Gewalt zu einvernehmlichem Sex und einem selbstverständlichen Teil eines ausschweifenden Künstlerlebens umgedeutet werden. Wie diese Seilschaften funktionieren, wie sie sich gegenseitig absichern und verteidigen, zeigt sich exemplarisch in der Haltung der Intendantin des Beethovenfests Bonn, Nike Wagner. Aber nicht nur dort.
»Im Übrigen kenne ich Herrn Prof. Mauser seit Jahren und bin – wie viele Kollegen aus Kunst und Musik – entsetzt, wie mit ihm seitens des Gerichtes und einer hyperaktiven political correctness umgegangen wird. Hier handelt es sich weder um Gewaltakte noch um Übergriffe auf Minderjährige, ich bitte Sie, dies auch zur Kenntnis zu nehmen. Und dass hier eine ganz anders geartete Intrige im Hintergrund mitspielt, gehört zu jenen Dingen, die nicht in die Öffentlichkeit gelangt sind.«
Nein, kein anonymer Kommentar eines Internettrolls, kein Wüten einer Beatrix von Storch oder ein Fallbeispiel aus dem Handbuch für Victim blaming. Hier schreibt Nike Wagner, Urenkelin von Richard, Intendantin des Bonner Beethovenfests, Trägerin des Verdienstordens des Freistaats Thüringen, Intellektuelle. Der, dem laut Wagner übel mitgespielt wird, ist Siegfried Mauser, ehemaliger Präsident der Münchner Musikhochschule, von deutschen Gerichten verurteilt wegen sexueller Nötigung. Was geht hier vor sich?

Die Haltung von Nike Wagner steht exemplarisch für den Selbsterhaltungstrieb eines Systems, in dem sich viele behaglich eingerichtet haben: Zunächst werden die abgestoßen, die seine Homöostase gefährden. Diejenigen, die in der Macht einen Freifahrtschein zur Skrupellosigkeit sehen, sollen geschützt bleiben. Da verwundert es nicht, dass die Fassade nur langsam zu bröckeln beginnt.
Schon das Narrativ von den aufklärerischen, humanistischen Werten, die über klassische Musik transportiert werden, sorgt dafür, dass vieles erst gar nicht sichtbar wird. »Jemand, der so schön Beethoven spielt, muss ein guter Mensch sein« – warum also genauer hinschauen? Zu besichtigen war die reflexartige Wiederauflage dieser Erzählung in Andris Nelsons’ Reaktion auf die Weinstein-Affäre: Sexuelle Belästigung, so erzählte der neue Chefdirigent des Leipziger Gewandhausorchesters den Zuhörern eines amerikanischen Radiosenders, spiele in der Klassik keine Rolle, weil die Kunst einen zu einem besseren Menschen mache. (Vielleicht wollte Nelsons hier niemanden decken, sondern hat nur auf naive Weise reproduziert, womit er aufgewachsen ist.)
Die Erzählung von der Musik immanenten Werten, die alle, die sich nur intensiv genug mit ihr auseinandersetzen, zu »reinen Seelen« machen, wird von Musiker*innen selbst, Journalisten und »Fans« gerne konserviert. Was bisweilen als etwas schrullige Hybris rüberkommt, wird dann zum Problem, wenn die Idealisierung als schöner Teppich dient, unter den die weniger schöne Realität gekehrt wird. Daraus ergibt sich bisweilen eine bizarre Diskrepanz zwischen dem Bild, das über prominente klassische Musiker in der Öffentlichkeit vorherrscht – und den Geschichten, die branchenintern kursieren. Auch im Fall James Levine hielt das Narrativ lange Zeit die Stellung. Alex Ross, Musikjournalist des New Yorker, tat 2001 die Gerüchte um Levine als »personalisierte urban legends« und Unterstellungen ab, auf die Levines effektivste Antwort seine Konzerte seien, die den Tratsch verbittert und unwürdig erscheinen ließen. Wie konnten die Gerüchte wahr sein, wenn Levines Konzerte so großartig waren? (Ross hat sich für seine Worte mittlerweile entschuldigt). Rund um die Berufung Levines zum Chefdirigenten der Münchner Philharmoniker florierte die Mär von der über alle Missbrauchsvorwürfe erhabenen Hochkultur in Politik und Presse. Und auch bei den Vorwürfen gegen Siegfried Mauser schreibt sich die Erzählung von der schönen Klassik-Seele weiter in Kommentarspalten und Leserbriefen.
Wie die Erzählung instrumentalisiert werden kann, um Täter- und Opferposition umzudrehen, zeigt Nike Wagner. Nachdem Mauser im Mai 2017 in zweiter Instanz wegen sexueller Nötigung zu einer neunmonatigen Bewährungsstrafe verurteilt worden war, hatte eine Besucherin des Beethovenfests sich mit einem Brief am 11. August 2017 an das Festival gewandt. Sie kritisiert darin die Einladung Mausers zum Beethovenfest 2017 – als »Ausdruck einer beschämenden Haltung, Vorgänge kleinzureden«. Nike Wagner antwortet darauf persönlich fünf Tage später, am 16. August (der Mailverkehr liegt VAN vor). Wir zitieren hier in Gänze, weil das Schreiben einer sorgfältigen Dramaturgie folgt:
»Erlauben Sie mir, auf Ihr Schreiben vom 11. August zu antworten. Sie beschweren sich darüber, dass Prof. Siegfried Mauser im Beethovenhaus das Gesprächskonzert ›Lieder mit und ohne Worte‹ gestaltet. An diesem ›Tag des Liedes‹ kommen Volkslieder, Kunstlieder und Charakterstücke zu Gehör. Mit dabei: Beethovens ›ferne Geliebte‹ und eine Diskussion darüber, wie Beethoven – im Vergleich zu Schubert und Schumann – seinen Platz als Lied-Komponist behauptet. Sowohl die Moderation dieses sehr speziellen Abends wie auch den Platz am Klavier habe ich einem Musiker und Musikwissenschaftler anvertraut, der wie kein anderer einen solch vielschichtigen Abend zu bewältigen weiß. Veranstaltungen wie diese gehören zu den Kostbarkeiten des Beethovenfestes, weil sie in die Tiefe gehen und nicht nur ›events‹ sind. Ich bitte Sie, darauf Rücksicht zu nehmen, dass ich Herrn Prof. Mauser deshalb engagiere, weil ich keinen anderen Musiker wüsste, der derart phantasievoll programmieren kann und der zugleich mit solchem analytischen Verstand, solcher pianistischen Kompetenz und einem so lebendigem Darstellungsvermögen ausgestattet wäre.«
Kein Zufall, dass Wagner zunächst nicht auf die Kritik eingeht, sondern im belehrenden Ton und dem Duktus hochkultureller Bescheidwisserei auftritt. Das liest sich wie eine Art Einschüchterungsversuch, dessen Subtext in etwa lauten könnte: »Wir beschäftigen uns damit, wie Beethoven – im Vergleich zu Schubert und Schumann – seinen Platz als Lied-Komponist behauptet – und Sie kommen mir mit Missbrauchsvorwürfen?!« Es geht um große Kunst, es geht um Tiefe, nichts für Banausen, die das besudeln zu versuchen. Die Vorwürfe erscheinen hier wie Majestätsbeleidigung gegenüber dem singulären Musiker, »der wie kein anderer einen solch vielschichtigen Abend zu bewältigen weiß.« (Mausers Frau selbst hatte die Vorwürfe gegen ihren Mann vor Gericht als »Königsmord« bezeichnet).

Für die meisten Professionen gilt, dass »Großes zu leisten« nicht gleichbedeutend ist mit »ein großer Mensch sein«. Auch die öffentliche Wahrnehmung kann da differenzieren: Jemand kann ein guter Politiker, Anwalt, Künstler sein und trotzdem ein Lügner, Vergewaltiger, Mörder. Vielleicht ist es aber kein Zufall, dass der Selbstschutzmechanismus von Teilen der Klassikkultur an den Umgang der Kirche mit Missbrauchstaten und deren Opfern erinnert: Auch der klassische Musiker wird oft als eine Art Schriftgelehrter inszeniert, jemand, der über die Ausbildung und Ausübung bestimmter Rituale einen privilegierten Zugang zu den heiligen tradierten Schriften (Partituren) erhält, und durch diese eine quasi apostolische Salbung erfährt. Der Vertreter Beethovens auf Erden. In der klassischen Musik wie in der Kirche leitet sich die eigene Legitimation zusätzlich ab von Abstammungslinien, Staffelübergaben, Ahnenreihen, die Unantastbarkeit verleihen. Umgekehrt werden diejenigen, die diese angreifen, als Nestbeschmutzer verstoßen.
Falls die Mär vom guten Menschen der Klassik doch einmal Schaden nimmt, eilt das Bild vom »genialen Künstler« zu Hilfe, dessen Lebenswandel nicht ins engstirnige Korsett gesellschaftlicher Normierung passt. Mauser selbst rekurriert darauf unter Anleihen bei Peter Sloterdijk gerne und oft: Er sei nun mal ein 68er, verfolge einen »libertären Lebensstil« – und werde auf dem Altar des Zeitgeists geopfert. Was nun als Nötigung dargestellt werde, sei in Wirklichkeit nur Ausdruck sexueller Freiheit, die vom repressiven gesellschaftlichen Klima kriminalisiert werde.
Zurückgegriffen wird hier auf ein Frauenbild, das das Victim blaming perfektioniert. Die Verteidigungsstrategie läuft ungefähr entlang der folgenden Koordinaten: Entweder die Frauen wollten es nicht anders. Oder sie wollten sich nur rächen, weil sie vom »König« abgewiesen wurden. Mauser weiß mit dieser Haltung eine ganze Reihe Fürsprecher hinter sich: von Hans Magnus Enzensberger (»Damen, deren Avancen zurückgewiesen werden, gleichen tückischen Tellerminen. Ihre Rachsucht sollte man nie unterschätzen. Sie wissen sich der überforderten Justiz virtuos zu bedienen.«) über Michael Krüger, den Präsidenten der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, bis zu Susanne Popp, Leiterin des Max-Reger-Instituts und Musikwissenschaftlerin an der Universität Augsburg. Für sie alle steht fest: Wir leben in einer Bananenrepublik, in der die vom Zeitgeist korrumpierte Justiz von rachsüchtigen Frauen an der Nase herumgeführt wird, und Siegfried Mauser ist das Opfer.
Die komplette moralische Bankrotterklärung aber liefert Nike Wagner in ihrem Antwortschreiben an die kritische Briefschreiberin: Bei ihr gesellen sich zur verschwörungstheoretischen Intrige und der Darstellung deutscher Gerichte als deren willfährige Opfer die Diskreditierung eines öffentlichen Diskurses über Gewalt gegenüber Frauen als »hyperaktive political correctness« und die Verharmlosung des Straftatbestands der sexuellen Nötigung – schließlich handele es sich dabei »weder um Gewaltakte noch um Übergriffe auf Minderjährige«. Wie ist eine solche Haltung vereinbar mit Wagners Rolle als Festival-Intendantin und Geschäftsführerin eines Unternehmens in öffentlicher Trägerschaft?
Auch nach Mausers Verurteilung in einem weiteren, zweiten Verfahren in der letzten Woche bleibt Nike Wagner offensichtlich bei ihrer Version der Geschichte: Auf Nachfrage des Bonner General-Anzeigers erklärt sie, warum das Beethovenfest an der Einladung Mausers zur diesjährigen Ausgabe festhalte: Er sei ein hervorragender Musiker und Musikvermittler und man enthalte sich jeglicher Vorverurteilung. Es scheint, als wünsche sich Nike Wagner ein Gesetz, das künstlerische Leistungen gegen Sexualstraftaten aufrechnet.
Einstweilen liegt die Mischung aus »halb so wild« und »künstlerischer Unersetzlichkeit« wie ein ziemlich wirksamer, aber zunehmend faulig riechender Schutzfilm über einer Welt, die sich selbst, ihren Gegenstand und ihre Protagonist*innen konsequent verklärt. ¶