Der Komponist, Autor und Wissenschaftler Jakob Ullmann hat eine turbulente persönliche und familiäre Vergangenheit in den Wirren der deutschen Geschichte. Er unterrichtet heute Musiktheorie an der Hochschule für Musik in Basel, bis vor kurzem auch Komposition. Einer seiner Schüler war von 2011 bis 2013 unser Autor Jeff Brown. Er hat Jakob Ullmann in seinem alten neuen Zuhause in Naumburg besucht.

VAN: Es gab einmal diese Version eines Lebenslaufs von dir, die nur aus der Aufzählung von Ablehnungen für musikalische Berufe in der DDR bestand. Seit ein paar Jahren benutzt du die nicht mehr. Warum?
Jakob Ullmann: Einer der Gründe dafür ist, dass ich, wenn ich zu viel über die Geschichten aus der DDR erzähle, an die Akademie der Künste in Ostberlin 250.000 Euro bezahlen muss. Weil ich nichts beweisen kann – meine Akten sind weg – darf ich das nicht in der Öffentlichkeit sagen.
Wie kamen die Probleme mit der Stasi in der DDR?
Der erste Punkt war natürlich Wehrdienstverweigerung. Das zweite war öffentliche Herabwürdigung. Das dritte war Nachrichtenweitergabe zum Schaden der DDR. Das hat wenigstens gestimmt. Ich habe mit Freunden herausgefunden, dass es in einem Braunkohletagebau an der polnisch-tschechischen Grenze gebrannt hatte und die Leute nicht evakuiert wurden. Sie sind gestorben, und überall hat der Arzt »Herzinfarkt« reingeschrieben.
Schließlich noch ›Gründung einer staatsfeindlichen Organisation‹. Als ich ihn Dresden lebte, wurde ich abgeholt, teilweise jeden Abend, und dann zack: Zelle, Befragung durch die Stasi, und immer wieder: ›Was ist mit dieser Gruppe, die sie haben?‹. Ich habe gesagt, ›Ich habe keine Gruppe.‹ Und: ›Sie überwachen mich doch eh vierundzwanzig Stunden am Tag.‹ Ich habe in Ostberlin schon nach einem halben Jahr ein Telefon gehabt. Manche Leute haben zehn Jahre gewartet und keins gekriegt! Man hörte es knacken, die Technik war steinzeitlich, und konnte sagen: ›Schön, dass sie auch wieder mit dabei sind!‹ Heute sind die Maschinen absolut ironiefrei.
›Asoziales Verhalten‹ war der fünfte Anklagepunkt. Man konnte ja nur Komponist sein, wenn man im Komponistenverband war. Eine Zeit lang habe ich davon gelebt, dass der Chef der Musikabteilung der Sächsischen Landesbibliothek in Dresden meine Partiturseiten abgekauft hat. Ein ganz großartiger Mensch, der mir alle Noten beschafft hat, die ich wollte, wo doch eine Kopiermaschine so schwierig zu bekommen war wie eine Kalaschnikow.

Haben diese Erfahrungen deine Musik geprägt?
Jeder Musiker ist dafür verantwortlich, dass seine Musik für Hauptquartiere nicht nutzbar ist. Vielleicht kann man alles missbrauchen, aber was mich stört, ist, wenn gesagt wird: Dann kommt es auch nicht drauf an. Wenn ich mich verantwortlich fühle für das, was mit meiner Musik gemacht werden kann – dann kann ich eines Schlechteren belehrt werden, aber zumindest habe ich mir Mühe gegeben. Wenn man die Haltung vertritt, dass alles missbraucht werden kann, dann kann man auch wie Carl Orff oder Richard Strauss schreiben.
Ich denke, wenn ein Komponist aus der DDR ein großes sinfonisches Werk für die unterdrückten Bauern in Nicaragua geschrieben hätte, hätte das den Bauern kaum etwas genützt. Wenn man ein Loch im Dach hat, kann man natürlich ein langes Gedicht darüber schreiben, wie schlecht es ist, dass das Wasser runtertropft; oder man kauft ein Stück Dachpappe und macht das dicht.
Politische Aktion, ja. Aber nicht die Kunst dafür missbrauchen. Dann rechtfertigt man irgendwann schlechte Kunst damit, dass sie ja politisch korrekt ist. Oder umgekehrt beurteilt man Kunst nach der politischen Funktion.
Deine Stücke sind lang und leise. Kann man sie so weniger gut vereinnahmen?
Eigentlich sind sie erst nach der Wiedervereinigung so geworden. Disappearing Musics habe ich 1989 geschrieben, das ist der turning point. Ich hatte irgendwie die Idee, in ganz komplexe, komplexistische Geschichten reinzugehen; das hat mich fasziniert. Die grafische Gestalt von den Partituren von Ferneyhough fand ich saugut. Anderserseits, sein Orgelstück Seven Stars habe ich immer wieder in die Ecke geknallt, beim Üben.
Damals habe ich la CAnción del ánGEL desaparecido für Donaueschingen gemacht, da bin ich so reingerutscht. Die erste Fassung ist wahrscheinlich nicht zu spielen, sie ist so irrwitzig schwer. Der vorgesehene Dirigent wollte das nicht machen. Und die vereinfachte Version fand ich ziemlich lau, die habe ich dann weggelegt. Ich dachte mir: Vielleicht könnten auch sehr einfache Dinge interessant sein – wenn man bloß zuhört. Dafür muss es leise sein. Und dass es sehr lang wurde, hat wiederum damit zu tun, dass man eine Einschwingzeit braucht, fünf, sieben, acht Minuten, wenn man etwas leises hören will. Und dann ist es kein Wunder mehr, wenn die Stücke 45 Minuten oder länger werden.

Wobei ich merke, dass diese ersten Minuten tatsächlich ein Problem sind, für Aufführende, Zuhörer, für die Komposition auch, weil dieses Didaktische reinkommt.
Dann habe ich gemerkt, dass irrwitzige Sachen passieren können, mit Stücken, die einfach aussehen. Ich habe eins für Kinder gemacht, wo sie 50 Minuten einen Akkord aushalten. Die sollen zu Zweit immer bloß je einen Ton aushalten. Das sieht auf dem Papier nach gar nichts aus. Aber ist in Wirklichkeit unmöglich. Schon die Klangfarbe der zwei verschiedenen Stimmen … wenn man diesen Akkord hört, denkt man, dass sehr viele Akkorde sind. Je nach dem, wie es sich gerade gegeneinander verschiebt.
Dein Vater hatte auch ein bewegtes Leben in der Politik und im Widerstand …
… sein Großvater ist von den Nazis umgebracht worden, und seine anderen, die Nazi-Großeltern, haben ihn bei der Gestapo verpfiffen. Er hat in Dresden überlebt – er hat sich auf dem Gelände der optischen Werke Zeiss Ikon versteckt. Zeiss Ikon hat auch Bombenzielgeräte gebaut, aber die Royal Air Force hat es nicht bombardiert. Und nach dem Angriff auf Dresden war es dann einfach vorbei.
Die erste Erinnerung, die ich überhaupt von meinem Leben habe, ist, wie mein Vater von der ostdeutschen Polizei abgeholt wurde. Hier in Naumburg ist er in ein Seminar der evangelischen Kirche gegangen. Später war er für eine Legislaturperiode im Bundestag, es hat ihm überhaupt nicht gefallen. Aber er hat immerhin dafür gesorgt, dass 1994 der Paragraph 175 (der Homosexualität verbot, d. Red.) aus dem deutschen Strafbuch gestrichen worden ist. Er hatte da kräftig mitgewirkt.
Er schrieb nur mit der Hand, und nur mit Stift. Alle Artikel, die er geschrieben hatte, sind bei mir über den Computer gegangen.
Schreibst du auch gern deine Partituren mit der Hand?
Nur. Wenn man (die Notenprogramme) Sibelius oder Finale startet, sind 80 Prozent der kompositorischen Entscheidungen schon gefallen. Das Partitur-Machen ist für mich eigentlich eher wie bei einem Fotografen, der analog arbeitet – es ist der Moment, in dem man das Papier ins Entwicklerbad legt. Und sieht, wie da etwas entsteht. Man wartet den Moment ab, nimmt es raus, fixiert und trocknet es. So entsteht etwas auf dem Papier.
Dein Vater war Theologe – spielen Glaube und Religion eine Rolle in deiner Musik?
Natürlich. Zum Teil selbst gewählt, zum Teil nicht. Als ich in die erste Klasse kam, bekamen nach zwei oder drei Monaten alle Jungpioniere ihr blaues Hemd – und ich habe das nicht gemacht. Es gab einen Fahnenappell. Alle sind erschienen, und dann wurde ich in die Mitte gestellt, tausend Kinder standen da. Schaut mal, das ist der Feind. So sieht er aus. Ich war sieben Jahre alt. Der glaubt nicht an den Sozialismus und an den Fortschritt; der glaubt an so dumme Konzepte wie einen Gott.
Die Lehrer sind ambivalent gewesen. Ein Lehrer hat nebenbei für den DDR-Tourismus gearbeitet, und der hat mich oftmals in die Stadt geschickt, um für ihn irgendwas zu erledigen. Da musste ich vier, fünf Stunden nicht in der Schule sein. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das eine Privataktion von ihm war.

Mein Stück Voice, Books and Fire – das sind lauter religiöse Texte. Aber ich lege Wert darauf, dass das in der Art da ist, wie man eben den Tempel der Aphrodite ausgraben kann, ohne dem Aphrodite-Kult anzugehören. Ein archäologisches Artefakt, und was das für mich bedeutet, ist für alle anderen Leute irrelevant.
In einem meiner Stücke haben Kinder mitgesungen, einige aus der entsprechenden Klasse muslimisch. Und die haben mitgekriegt, dass da auch Koran-Rezitationen vorkommen. Sie haben ihren Imam gefragt, ob sie mitwirken dürfen. Er wollte etwas darüber wissen, was da gemacht wird. Dann hat er gehört, dass auch Instrumente dabei sind, und gesagt, dass das nicht geht: Koran-Rezitation findet ohne Instrumente statt. Ich habe geschrieben, dass ich sein Argument sehr gut verstehen konnte – aber: wenn Sie in der Moschee Rezitationen haben, dann singt vielleicht auch mal ein Vogel oder man hört Autos umherfahren. Das mischt sich mit anderen Klängen durch die Wände der Moschee hindurch. Und die Instrumente sind nichts anderes als die imaginären Wände um das Stück herum. Interessanterweise hat der Imam das akzeptiert.

Du bist gerade wieder aus Berlin nach Naumburg gezogen. Wie geht es dir hier?
Es gibt ja Naumburg, und es gibt die Naumburger. Das ist hier ein Nazi-Hotspot.
Wurdest du schon damit konfrontiert?
Ja ja, mit Morddrohung und allem drum und dran. Meine Frau meinte, ich müsse zur Polizei gehen. Und so bin ich in der Stube gelandet, in der ich vor 44 Jahren zum ersten Mal verhaftet wurde. ¶