Ingo Metzmachers Berlioz-Großprojekt

Text · Fotos © Helge Krückenberg · Datum 30.5.2018

Zum zweiten Mal nach den Gurreliedern von Schönberg 2016 brachte Intendant Ingo Metzmacher wieder fast fünfhundert Musikanten auf die Bühne. Impressionen nach Hannovers Konzert des Jahres.

Eigentlich ist er norddeutsch-nüchtern, aber nach dem Konzert im Kuppelsaal des Hannover Congress Centrums gerät Ingo Metzmacher dann doch ins Schwärmen: »Das, was Sie heute gehört haben, ist mehr als die Summe aller Einzelteile. Das ist die besondere Kraft, die kriegen Sie nicht, wenn Sie verschiedene Chöre für viel Geld aus der Republik engagieren!« Es hat dem Intendanten der Kunstfestspiele Herrenhausen sehr große Freude gemacht, etwa fünfhundert Musikanten zum Requiem von Hector Berlioz zu vereinen. Beim Empfang nach dem Konzert im wohlig-schummrig beleuchteten Leibnizsaal hatte schon Hannovers Oberbürgermeister Stefan Schostok ein Loblied auf Metzmacher gesungen: Der sei nicht nur ein toller »Oberflöhehüter«, auch seine Neuausrichtung der Festspiele funktioniere, die Zielgruppe sei jünger, die Projekte spektakulär. Nicht nur dieses Berlioz-Großprojekt, sondern zum Beispiel auch die vierstündige Nacht mit Responsorien von Carlo Gesualdo in der Marktkirche tags zuvor – habe er sich sagen lassen. Und dass dann der berühmte Sohn der Leinemetropole auch wieder in die Stadt gezogen sei, nein wirklich …

Applaus, Applaus und dann spricht Metzmacher. Der kann sich gar nicht einkriegen, wie gut alles geklappt hat – besonders auch vor und hinter der Bühne. Metzmacher: »Ich komme wirklich rum auf der Welt. Dass das alles so geräuschlos funktioniert, alles am rechten Ort zur rechten Zeit. Und diese Massen zu organisieren. Ich habe nichts mitgekriegt – es hat alles funktioniert.« Diese Vernetzung der Chorszene in Hannover sei einmalig. Ein Kollege in Hamburg habe ihm noch am Morgen vor dem Konzert gesagt: »So etwas haben wir bei uns nicht!« (Und für Berlin, der Hinweis sei gestattet, ist selbiges zu vermelden.) Die Bereitschaft und Fähigkeit zur Kooperation, die nicht nur in der Chorszene, sondern eigentlich in der gesamten Kunstszene der Leine- und Maschsee-Metropole zu finden sei, so Metzmacher, sei ein Pfund, mit dem Hannover wuchern müsse. Eigentlich sei ihm vor diesem Hintergrund gar nicht bange, dass Hannover bei der Bewerbung zur Europäischen Kulturhauptstadt 2025 exzellente Chancen habe. Applaus, Applaus …

Aber bei aller Liebe zum unzweifelhaft großen Können seiner Sängerscharen, so frage ich Metzmacher etwas später mit etwas mehr Ruhe, wären Profisängerinnen und –sänger nicht doch einen Tick besser? Er widerspricht energisch: »Der Chor klang sehr einheitlich. Man spürt die Begeisterung, die innere Teilnahme, das kann man gar nicht messen.« Aber so manche S-Absprache? »Klar, man kann perfektere Aufführungen bekommen, wenn einem das wichtig ist«, aber für ihn sei das bei diesem Stück nicht das Entscheidende. Schon Harnoncourt habe immer gesagt, »so etwas wie Präzision ist letztlich sekundär.« Wichtig sei doch der »emotionale Ausdruck der Sache, das Beteiligt-Sein der Musiker und das Erfassen des emotionalen Raumes.«

Metzmacher wäre nicht Metzmacher, wenn er nicht die zeitgenössische und die Musik der klassischen Moderne des 20. Jahrhunderts konsequent einbringen würde, und so ging das monumentale Berlioz-Requiem direkt nach seinen ersterbenden Paukenschlägen des Schlusses über in Stille und Umkehr, Bernd Alois Zimmermanns letztes Werk aus dem Jahr 1970. Warum? »Ursprünglich sollte der Berlioz ganz für sich stehen, aber dann wollten wir doch unbedingt auf den 1918 geborenen Zimmermann zum Hundertsten Bezug nehmen«, so Metzmacher. Er sei froh, auf dieses Stück gestoßen zu sein, das sich, zwar mit deutlichem Epochenbruch, aber dennoch fast nahtlos an den zurückgenommenen Berlioz-Schluss füge. »Es gab durchaus welche im Publikum, die es erst später gemerkt haben, dass da noch ein zweites Stück kam« – so sei es ihm berichtet worden, erzählt Metzmacher nicht ohne Vergnügen und legt nach: »Außerdem spielt der Ton D in Zimmermanns Stück eine große Rolle«, genau wie bei Berlioz. Auch das Tempo gleiche sich, es gäbe einen rhythmischen Bezug, ja, eine Übereinstimmung… Wie auch immer, Zimmermanns Epilog funktionierte als konzentriertes Abklingbecken nach den gewaltig-zarten Klangwellen der Berlioz’schen Grande Messe des Morts.

Keine Frage, Metzmacher steht auf diese Riesenstücke. Und es ist eine Wonne, ihm beim Dirigieren derselben zu erleben, besonders wenn man das Glück hat, wenige Meter hinter ihm zu sitzen: Der jungenhafte 60-Jährige schlägt total präzise, aber dabei nicht kantig, er meidet übertriebene Gesten, jedes Pultlöwengehabe ist ihm fern. Manchmal deutet er den Punkt, auf den es ihm ankommt mit einem minimalen Sprung an. Und immer hält er mit den Augen Kontakt zu den Mitgliedern seines Riesenensembles aus neun Hannoveraner Chören mit etwa 300 Sängerinnen und Sängern und 162 Musikerinnen und Musikern – die konnte man nachzählen, da im Programm namentlich erfasst. Auch als Dirigent ist Metzmacher ein bisschen wie ein Porsche, der elegant nur zwanzig fährt – dieses Bild prägte er selbst vor zwei Jahren, damals bezogen auf die Dynamik von Schönbergs Gurreliedern, der ersten Megasause bei den Kunstfestspielen.

Und welches Riesenprojekt kommt 2020, bei der nächsten Festivalausgabe? Mahlers Sinfonie der Tausend vielleicht? »Selbst wenn ich es wüsste, würde ich es Ihnen jetzt nicht sagen«. Na, dann eben nicht. Aber in den Gerüchteküchen der vereinigten Hannoveraner Chöre macht die Runde, dass angeblich ein Komponist beauftragt worden sei, im kommenden Jahr den singenden Hundertschaften und der NDR-Radiophilharmonie samt verstärkendem Hochschulorchester, die sich für Ingo Metzmacher immer so gut vorbereiten, etwas auf den Leib zu komponieren.

»Ich habe nichts mitgekriegt – es hat alles funktioniert.« Ingo Metzmacher über die Organisation von 500 Musiker*innen auf einer Bühne in @vanmusik.

Ansonsten: Wie wäre es mal mit den wunderbar monströsen Motetten von Georg Schumann, dem jahrzehntelangen Leiter der Berliner Singakademie und Richard-Strauss-Zeitgenossen, der 1951 als erster Deutscher aus der Hand von Theodor Heuss das Bundesverdienstkreuz bekam, bevor er ein Jahr später nach langem Leben starb? Sie harren der gültigen Wiedergabe, bisher leider total vergessen. Denken Sie drüber nach, Herr Metzmacher. ¶

... geboren 1966, ist evangelischer Theologe und Journalist. Seit 2014 ist er Chefredakteur des Monatsmagazins zeitzeichen – Evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft in Berlin. www.zeitzeichen.net