In welchen Umgebungen finden kreative Prozesse im 21. Jahrhundert statt? Wo treffen verschiedene Vorstellungen von »Kreativität«, verschiedene Kunst-Begriffe und Selbstbilder aufeinander? In dieser Folge: Die »Platform 12« inmitten des schwäbischen Weltkonzerns BOSCH und die Fragen, welches Maß an Chaos und Offenheit dort möglich, warum es gewünscht ist – und: Welche Wirkung die Kunst in einer solchen Umgebung entfalten kann. In Ausgabe #130 besucht Clemens Thomas den Offspace »MoKS« in Estland.

Ankunft

In großen roten Lettern, von Weitem sichtbar, steht der Name BOSCH an der Gebäudefassade des 2015 errichteten »Zentrums für Forschung und Vorausentwicklung« der Robert Bosch GmbH. Rund 1700 Mitarbeiter*innen arbeiten hier am Standort Renningen, etwa eine Stunde von Stuttgart entfernt. Ich laufe auf das Hauptgebäude zu und muss an unpräzise aufeinander gestapelte Milchschnitten denken. Ganz oben, im 12. Stock, befindet sich die »Platform 12«, ein Experimentierraum, ein Ort der »Reflektion und kreativen Freifläche«. Deswegen bin ich hier. Ich betrete das Gebäude, alles ist sehr groß, sehr modern und sehr repräsentativ. Die Eingangshalle ist eine Mischung aus Hotellobby und Flughafen-Sicherheitskontrolle. Mit einem Besucherausweis ausgestattet fahre ich mit dem Aufzug in den 12. Stock. Die »Platform 12« ist fast menschenleer, es ist Feierabendzeit. Der Raum ist komplett verglast, an der Glasfront hängen vereinzelte Post-its. Ich darf sie nicht fotografieren, da ich unterzeichnen musste, alle sensiblen Daten »Dritten gegenüber geheim« zu halten. Hinter der Glasfront überblicke ich den BOSCH-Forschungscampus (ziemlich groß), sehe autonom fahrende Autos auf einer Teststrecke (ziemlich futuristisch) und am Horizont Renningen und das schwäbische Umland (ein ziemlicher Kontrast).

Bosch Haupteingang
Bosch Haupteingang

Platform 12

Die Platform 12 ist eine Kooperation der Robert Bosch GmbH, der Akademie Schloss Solitude und des Künstlerduos Wimmelforschung. Auf der insgesamt knapp 700 m2 großen Fläche dürfen Bosch-Mitarbeiter*innen zehn Prozent ihrer Arbeitszeit als sogenannte »Concept Time« frei verbringen. Sie können sich hier mit Kolleg*innen aus anderen Abteilungen austauschen oder bei der Arbeit an eigenen Projekten und Ideen auf die Ausstattung des Raumes zurückgreifen: 3D-Drucker, Werkzeuge (»PowerTools«), Arduino und Raspberry Py-Bauteile – um nur einige zu nennen. Das Besondere an der Platform 12 ist das Konzept, das die beiden »Wimmelforscher« Maren Geers und Thomas Drescher in Zusammenarbeit mit BOSCHs Innovationsmanagerin Birgit Thoben entwickelt haben. Neben irritierenden Raumobjekten wie einem »unentdeckten Planeten« oder einem »intergalaktischen Couchdoktor« sieht das Konzept die Anwesenheit eines »künstlerischen Agenten« vor – eines*r Künstler*in also, der*die die alltägliche Arbeitsroutine der BOSCH-Mitarbeiter*innen produktiv durcheinanderbringen soll. Ein künstlerischer Störfaktor, der indirekt einen Mehrwert für den Konzern generiert. Kann das funktionieren?

Die Platform 12: In der rechten Bildhälfte steht der »Intergalaktische Couchdoktor«, ein Ensemble aus einer lila Couch und einer darüber hängenden lila verkleideten Lampe • Foto Bosch
Die Platform 12: In der rechten Bildhälfte steht der »Intergalaktische Couchdoktor«, ein Ensemble aus einer lila Couch und einer darüber hängenden lila verkleideten Lampe • Foto Bosch

Ich treffe Sophie-Charlotte Thieroff in der Cafeteria der Akademie Schloss Solitude. Über die Akademie kam 2013 der Kontakt zwischen dem Künstlerduo Wimmelforschung und Bosch zustande. Sophie-Charlotte erzählt mir von anfänglichen Verständnisproblemen und »Schwierigkeiten in der Umsetzung, weil Bosch natürlich in Strukturen arbeitet, die wahnsinnig rigide sind. Das ist ein sehr, sehr großes und altes Unternehmen.« Als Referentin des art, science & business-Programms ist Sophie-Charlotte so etwas wie das Interface der Black Box »Kunst« und der Black Box »Wirtschaft«, sie ist Übersetzerin und Vermittlerin zugleich. Als größte Herausforderung nimmt sie die unterschiedlichen Sprachen wahr: »dass man, wenn man über Begriffe wie ›Autonomie‹ oder ›Kreativität‹ spricht, ein völlig anderes Verständnis davon hat, was es ist. Und wenn das beide Parteien nicht realisieren und nicht offen dafür sind, dass die andere Partei ein entgegengesetztes Verständnis von dem gleichen Begriff haben kann, dann kann natürlich kein Dialog stattfinden.« Sophie-Charlotte hat auch die Rolle des Schutzschilds und der Netzwerkerin. Sie verteidigt das Künstlerische gegenüber ökonomischen Interessen und versucht, den Beitrag des Künstlerduos Wimmelforschung zur Platform 12 in der Öffentlichkeit sichtbar zu machen. Bis aber beispielsweise die Veröffentlichung eines Interviews von Bosch genehmigt wird, kann einige Zeit vergehen…

Ortswechsel. Ungefähr zwei Monate bevor ich mich mit Sophie-Charlotte unterhalte, trinke ich einen Kaffee mit Thomas Drescher in Berlin, Prenzlauer Berg. Er ist etwas unter Zeitdruck, weil er nach unserem Gespräch sofort nach Stuttgart fliegt, um in Renningen dem höheren Management Pläne zur Weiterentwicklung der Platform 12 zu präsentieren. Er darf mir nichts dazu erzählen – Verschwiegenheitsklausel – und ist sehr vorsichtig, wenn es um die Zukunft der Platform 12 geht.

Thomas und Maren sehen sich als Begleiter, Beobachter und Fragensteller. Mithilfe offener Fragen wollen sie nicht zielgerichtet, sondern »wimmelnd« forschen. Das Ergebnis sind, so verkünden sie es auf ihrer Webseite, »Entwürfe für Welten, in denen sich noch niemand eingerichtet hat.« Ihr Konzept für die Platform 12 ist deshalb kein statischer Raumentwurf, keine Einrichtung für die Ewigkeit – sondern ein Gestaltungsangebot, eine Einladung: »Nutze mich, befrage mich, lass dich von mir durcheinander bringen, verändere mich«. Und zwischen den Zeilen interpretiere ich auch: »Durch das Verändern des Raumes besteht die Möglichkeit, sich selbst zu (ver)ändern.« Ist dieser Raum eine Keimzelle für eine neue Kultur des Zusammenarbeitens, frage ich Thomas. »Ich bin noch nicht der Meinung«, antwortet er, »dass die Platform 12 ein Kulturwandel wäre. Den kann es so gar nicht geben – Kultur kann man, glaube ich, nur minimal invasiv beeinflussen, wenn überhaupt. Aber es entsteht dort vielleicht eine eigene Kultur, eine Minikultur, innerhalb dieser großen Kultur. Die Platform eröffnet Strukturen, die anders sind als Bosch-Strukturen, nämlich Struktur im Sinne von Strukturlosigkeit, oder Strukturen im Sinne von: Ich muss mich selber strukturieren.

In einem Hochglanz-PR-Video mit Dudelmusik zeigt die Innovationsmanagerin Birgit Thoben die Platform 12. »Jede*r Mitarbeiter*in kann sich den Raum aneignen. Platform 12 lebt selbstständig, ich sage mittlerweile, es ist ein eigener Organismus. Der Raum ist nicht wirklich kontrollierbar, es ist ein Experiment.« (Birgit Thoben)

Ende September, bei meinem Besuch in Renningen, erscheint mir die Platform 12 weniger geleckt als in ihrem PR-Video.  ZEIT Campus schrieb einmal über die Platform 12: »Hier soll Chaos herrschen, aufräumen ist verboten – die Unordnung allerdings wirkt wie aus dem Katalog.« Mit dieser Erwartung komme ich an – und bin überrascht, dass der Raum tatsächlich adaptiert wurde: Der »unentdeckte Planet« wird vorübergehend genutzt, um Poster aufzuhängen; vom »Intergalaktischen Couchdoktor« – eigentlich ein Ensemble aus einer lila Couch und einer darüber hängenden lila verkleideten Lampe – wird nur die Couch benutzt, die Lampe hängt allein und etwas unbeholfen in der Gegend. Anders als auf den Pressefotos wirkt der Raum nicht übermäßig inszeniert, vielmehr dynamisch, die Software-Entwicklung würde von agil sprechen. Fast alle Möbel stehen auf Rollen, die Einrichtung ist eine Synthese aus Großstadt-Shabby Chic, Spieleecke und BOSCH-Hightech. Lisa Przioda, die die Platform 12 von Bosch-Seite aus betreut und die Innovationsmanagerin Birgit Thoben unterstützt, führt mich durch die etwa 450 m2 große base, den zentralen Raum der Platform. Anstelle von Tischen stehen alte Werkbänke im Raum.

Lisa erzählt mir, dass eine der Werkbänke aus Bosch-Besitz komme und die Tradition des Unternehmens verkörpere. Die anderen Werkbänke seien bei eBay gekauft worden. Was einfach klingt, ist in Konzernstrukturen eine langwierige Sache: »Denken wir nur an den Einkauf, der irgendwie Prozesse schaffen musste, dass wir bei Ebay etwas kaufen durften. Oder denken wir an die Sicherheit, die eigentlich nicht gewährleistet, dass Stühle mit drei Füßen auf eine Parkettfläche gestellt werden. Es gibt so Regeln, eigentlich müssen es fünf Beine sein. Und da führt eigentlich auch kein Weg dran vorbei.« Lisa lacht. Sie ist diejenige, die darauf achtet, dass solche Regeln, Sicherheitsbestimmungen und der Informationsschutz eingehalten werden. Und diejenige, die im Dialog mit anderen Mitarbeiter*innen des Konzerns nach Lösungen sucht und kreativ wird, um Grauzonen der Vorkehrungen und Sonderbestimmungen auszuloten. (Die Platform 12 ist übrigens als »Sonderfläche« deklariert, das erlaubt auch dreibeinige Stühle…)

Es kommt vor, dass Lisa die Platform 12 rechtfertigen muss, zum Beispiel bei Führungen für Mitarbeiter*innen anderer Abteilungen oder Werke. In einem leistungsorientierten Konzern, in dem Erfolg messbar ist und Effizienz weit oben steht, ist die Platform 12, wie sie von Thomas und Maren gedacht ist, eine Art Antithese im System. Ob sie so auch von Konzern-Seite aus gedacht ist? Ich frage nach dem Begriff der Kreativität im Unternehmenskontext. Lisa zögert. Schließlich sagt sie: »Kreativität ist vor allem dann gefragt, wenn wir uns am Anfang des Innovationsprozesses befinden. Wenn also noch Impulse für Ideen oder neue Produkte gesucht werden. Dann braucht man Kreativität. Kreativität kann auch sein, sich mit anderen auszutauschen und dadurch Ideen zu bekommen. Klar ist aber natürlich auch, dass es für eine Innovation immer auch einen Markt geben muss. Das ist quasi Kreativität im Unternehmenskontext.«

Harter Schnitt. Der Bildhauer Michl Schmidt empfängt mich in seinem Atelier auf dem Areal der Wagenhallen in Stuttgart. Im Flur ist die Tapete halb abgerissen, sein Studio sieht nach freiem Künstlerprekariat aus, klein und voll. Wir setzen uns auf zwei Campingstühle. Das Aufnahmegerät lege ich auf eine kleine Holzkiste, die Michl in der Platform 12 kreiert hat – in seiner Zeit als erster künstlerischer Agent von Oktober 2015 bis Januar 2016. Inzwischen ist in der Platform 12 mit Bernd Behr der neunte künstlerische Agent, inzwischen wird auch das sogenannte »Wimmelforschungs-Stipendium« öffentlich ausgeschrieben.

Der künstlerische Agent soll, so sieht es das Konzept vor, von Montag bis Freitag anwesend sein. »Es wurde an mich herangetragen«, sagt Michl, »dass ich auch erkennbar sein soll als Künstler. Wie genau, blieb unklar.« In einem Artikel werden die Künstler*innen der Platform 12 als »modern-day muses« bezeichnet. »Es wurde mir schnell klar, dass man dann ein stückweit auch ausgestellt ist. Vor allem, wenn plötzlich Gruppen von 30 Leuten vor einem standen – was auch eine komische Situation ist, wenn man irgendwie seine eigene Arbeit macht«, sagt Michl. Aus Sicht des Künstlers ist die Platform 12 ein »öffentlicher Produktionsraum«, weder Ausstellungsraum, da Unfertiges und der Prozess der Kreation sichtbar werden, noch Künstleratelier, da der Rückzugsort, das Alleinsein mit dem Kunstwerk und sich selbst, fehlt.

Der Bildhauer Michl Schmidt in seinem Atelier.
Der Bildhauer Michl Schmidt in seinem Atelier.

Im besten Fall, so die Vision der Wimmelforschung, entsteht eine Wechselwirkung zwischen künstlerischem Agenten und Bosch-Mitarbeiter*innen, die zu einem nicht-musealen und nicht werksbezogenen Kunstbegriff einerseits und zu einer anthropozentrischen, ökonomischen Forschung anderseits führt. Ob dies gelingt, steht und fällt mit den Menschen, die in der Platform 12 interagieren. Menschen wie Sophie-Charlotte, Thomas und Maren, Lisa und Michl, die sich – mit verschiedenen Hintergründen und Fragen –aneinander reiben und dadurch gemeinsam ein Stück Zukunft gestalten.

Artikel jetzt twittern: Das gewünschte Chaos. Via @vanmusik

Thomas drückt das etwas plastischer aus: »Es geht nicht darum, den tollsten Maler zu finden, der seine Farbe irgendwie ballettartig aufs Bild turnt. Sondern es geht darum, großartige Denker zu finden. Menschen, die in der Lage sind, mit einem Panorama-Blick auf die Welt zu schauen, die Fragen haben und die vielleicht mit ihrer Arbeit in irgendeiner Art und Weise Themen berühren, die auch dort in der Forschung verhandelt werden. Derjenige muss also auch kommunikativ sein und eine gewisse Sensibilität mitbringen. Wir haben nichts von jemandem – und an solchen Leuten sind wir auch nicht interessiert – der da hinkommt und dann einen Riesen-Pudding in die Mitte vom Raum batscht, einmal drumrum tanzt und sagt: So, bitte!« ¶