Ostwestfalen im Ausnahmezustand: Während der Landkreis Gütersloh im Lockdown ist, Tönnies sei Dank, wird in der Nachbarstadt Bielefeld der Aufstieg der Arminia in die 1. Liga gefeiert. »Es ist natürlich bitter, dass wir nicht auf und vor dem Rathausbalkon feiern können, wie man es kennt, und unsere Blechbläser spielen die Arminia-Hymne«, sagt Ilona Hannemann, seit fünf Jahren Verwaltungsdirektorin am Theater Bielefeld, das mit seinen drei Häusern und acht Spielstätten eine der größten Kulturinstitutionen Nordrhein-Westfalens ist. Auf dem Weg zum Gespräch in ihrem Büro erahne ich, womit sie sich die letzten Monate so beschäftigen musste. An jedem Zimmer hängen Klarsichtfolien mit einer ganz eigenen Corona-Formel:

Sie haben am 4. März eine Spielzeit 2020/21 verkündet mit dem Motto ›Alles könnte anders sein‹. War das prophetisch, wussten Sie, was andere nicht wussten?
Dass das mehr als zutreffend sein würde, war am 4. März noch nicht so absehbar wie eine gute Woche später, als wir das erste große Sinfoniekonzert absagen mussten. Selbst da hatten wir aber immer noch die Hoffnung, vielleicht in kleinerer, abgespeckter Form weitermachen zu können. Doch die Dynamik jener Tage hat schnell gezeigt, dass wir den Vorstellungsbetrieb werden einstellen müssen.
Wie haben Sie das Ihren Mitarbeiter:innen mitgeteilt?
Unser Intendant Michael Heicks und ich haben es von der Bühne aus in den Zuschauerraum verkündet, wo Ensemble und Technik saßen. Durch die Reihen ging ein Raunen, das ich bis heute in den Ohren habe. Es hat mich damals sehr beeindruckt, dass die Tragweite dessen, was auf uns zukommen würde, vielen schon so bewusst war.

Wie sieht Ihre derzeitige Planung für die Wiedereröffnung aus?
Wir sind letzte Woche mit einem modifizierten Spielzeitplan gestartet. Statt der geplanten 30 Premieren werden es jetzt 22 sein, weil wir neben dem Arbeitsschutz auch dem Publikumsschutz oberste Priorität einräumen wollen. Wir werden, wenn alles gut geht, nach heutigem Stand ungefähr ein Drittel der Plätze belegen.
Nach der Corona-Schutzverordnung könnten Sie das Haus aber voll belegen, oder?
Ja, die Corona-Schutzverordnung NRW vom 20. Juni ermöglicht ein volles Haus bei personalisierten Eintrittskarten mit Rückverfolgbarkeit. Rein rechtlich könnte also jeder Platz besetzt sein. Aber wir haben das durchgespielt: Wie ist das, wenn ich im Rang des Stadttheaters sitze und den Atem der Person hinter mir buchstäblich im Nacken spüren kann? Mit welchem Gefühl gehe ich dann ins Theater? Da waren wir uns alle einig, dass wir mit der Situation maßvoll umgehen wollen. Das bedeutet, immer eine Reihe frei zu lassen, und in den Reihen das, was möglich ist. Es gibt Einer- oder Zweierreihen, mit einzelnen Sitzplätzen oder zweien nebeneinander, die fest konzipiert und online buchbar sind. Dazwischen bleibt jeweils ein Platz frei. Dann gibt es die Gruppenreihen für die so genannten ›gewollten Gruppen‹ …
… ist das der Fachbegriff?
Genau, wir müssen uns ja auch an neue Begriffe gewöhnen. Eine Zehnergruppe ist Corona-tauglich und darf sich zusammensetzen, wenn sie sich gewollt gefunden hat.
Was heißt das denn, ›gewollt gefunden‹?
Zwei Familien à vier Personen könnten gemeinsam einen Theater- oder Konzertbesuch planen.
Und zehn Freund:innen auch?
Zehn Freund:innen auch, ob es sich dann wirklich um Freund:innen handelt, lass ich mal dahingestellt.
Wie machen Sie das mit der Rückverfolgbarkeit?
Die Kontaktdaten müssen beim Kauf der Karten hinterlegt werden, entweder online oder an der Theaterkasse. Wir machen dann am Einlass einen Abgleich mit dem Lichtbildausweis. Wenn sich kurzfristig eine Änderung ergeben hat, kann man den Einlassprozess verlassen, bekommt einen Tisch zugewiesen, an dem man die Adresse aktualisiert, und kann sich dann wieder einreihen.
Wie lange soll das dauern?
Möglichst kurz, wir hoffen, mit einer halben Stunde hinzukommen. Wir haben ja nur einen Drittel der Platzkapazitäten und werden versuchen, eine Zuwegung an allen Türen zu ermöglichen. Im Großen Haus sind es dann maximal 120 Besucher:innen, im Rang wird man von zwei Seiten hochgeführt, rechts und links, dort sind es jeweils 60.
Sie haben durch den aufwendigeren Einlass und die Reinigung vielleicht sogar noch höhere Kosten als bei voller Platzkapazität, aber nur ein Drittel Umsatzerlöse. Sie haben vor Ihrer Anstellung hier das Konzerncontrolling der Stadt Bielefeld geleitet. Da muss Ihnen doch das Herz bluten?
Für die laufende Spielzeit werden wir einen Verlust erwirtschaften, der noch einigermaßen überschaubar ist, weil wir Rücklagen aus Vorjahren haben. Aber die kann man nur einmal anfassen. Die nächste Spielzeit, die wird wirtschaftlich ein Desaster. Wir können nur hoffen, dass wir 2021/22 wieder in normalere Bahnen rutschen. Aber für uns ist Kunst und Kultur das Ziel. Wir sind der Region Ostwestfalen schuldig, dieses Angebot zu machen, auch wenn es sich unter kaufmännischen Gesichtspunkten eventuell noch weniger rechnet als ohnehin schon. Das müssen wir in Kauf nehmen.
Welche Signale haben Sie von Seiten der Stadt bekommen für die Budgetplanung?
Im Moment bin ich froh und dankbar, dass uns – bei all dem, was auf die Stadt Bielefeld als Kommune zukommt – das Signal gegeben wurde, dass an der laufenden Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung festgehalten wird. Was an coronabedingtem Zusatzaufwand dazu kommt, lässt sich noch gar nicht absehen. Zum Beispiel müssen wir schauen, ob wir abgespielte Produktionen einlagern, weil wir sie vielleicht noch brauchen und nach und nach in den Spielplan schieben müssen. Dafür bräuchten wir Lagerkapazitäten, die wir im Moment nicht haben und anmieten müssten.
Wie groß ist die Angst, dass eine Vorstellung zum Ansteckungsherd werden könnte?
Dieses Damoklesschwert schwebt grundsätzlich über uns. Die Sorge um die Gesundheit der Mitarbeiter:innen hat uns die letzten Monate begleitet und mich auch die ein oder andere Nacht nicht zur Ruhe kommen lassen. Aber allein die Entscheidung, dieses Haus nur mit einem Drittel der Kapazität zu belegen, obwohl der rechtliche Rahmen anderes zuließe, zeigt, dass wir den Gesundheitsschutz ganz oben anstellen und dass wir das Risiko auf ein absolutes Minimum reduzieren wollen.
Es scheint manchmal so, dass es zwischen Bund, Land und Kommunen eine Kakophonie unterschiedlicher Verordnungen und Standards gibt. Finden Sie da eigentlich noch durch?
Den rechtlichen Rahmen gibt die Corona-Schutzverordnung auf Länderebene vor. Dann kommen arbeitsschutzrechtliche Standards hinzu, die bundeseinheitlich sind. Beide fallen manchmal – ich sage es mal vorsichtig – auseinander.
Können Sie mal ein Beispiel nennen?
Welche Abstände sind einzuhalten zwischen Bühne und Publikum, welche Abstände sind einzuhalten, wenn ich singe oder exzessiv spreche …? Mal sind es da vier Meter, mal sechs. Wir haben für uns die klare Linie gefunden, dass wir den Standard umsetzen, der arbeitsschutzrechtlich weitreichender ist. Es gibt diese Handlungsempfehlung ›Proben- und Vorstellungsbetrieb‹ der DGUV, die, glaube ich, auf 15 weitere Handlungsempfehlungen querverweist, unter anderem in der Maskenbildnerei auf die Handlungsempfehlung Friseurbetrieb. Friseurbetriebe dürfen alle Arbeiten im Gesicht wie zum Beispiel Wimpernfärben eigentlich nicht durchführen. Im Probenbetrieb haben wir versucht, das umzusetzen, mit einem extrem hohen Standard: FFB2-Masken, Schutzkleidung, die gesamte Wäsche muss hier gereinigt werden, um nichts aus den Räumlichkeiten rauszutragen, die Darsteller:innen mussten sich in einem gesonderten Raum die Haare waschen, die Haare föhnen, erst dann durften sie in den Maskenraum … Damit haben wir uns nicht nur Freund:innen gemacht, immer wieder wurde gesagt: ›Aber andere machen es doch anders.‹ Sätze, die mit ›aber in anderen Theatern‹ beginnen, begleiten mich hier seit fünf Jahren, nicht nur in Bezug auf Corona. Wenn man dann wirklich mal nachhakt, sind es andernorts aber meistens andere Bedingungen.
Das ›aber andere dürfen es doch auch‹ bezog sich vonseiten der Kulturszene oft auch auf andere Branchen. Haben Sie sich gefragt, warum Arminia wieder vor Geisterkulisse spielen darf, ein Theater oder Orchester aber nicht?
Es ist mir fremd, so zu denken. Natürlich gibt es viel Lobbyarbeit und Stimmen, die lauter sind, werden manchmal schneller gehört. Aber viele sind dann doch immer wieder auf die Frage zurückgekommen, was unter Gesundheitsschutzaspekten Sinn macht. Als Haus wären wir nicht darauf gekommen, zu sagen, was wichtiger oder unwichtiger ist. Im Gegenteil, als klar war, dass Arminia aufsteigen wird, haben Michael Heicks und ich einen Brief aufgesetzt und dem Verein von ganzem Herzen gratuliert.
In den letzten Wochen haben viele nach NRW geschaut, weil hier an einigen Orten wieder klassische Konzerte stattfanden. Warum haben Sie das nicht gemacht?
Unser Konzerthausdirektor Martin Beyer war bei einem Konzert im Konzerthaus Dortmund. Dort hätten 400 Karten verkauft werden können, bei normalerweise über 1.500 Plätzen im Konzerthaus. Und es waren ungefähr 200 da. Martin Beyer meinte, dass es gut tat, mal wieder ein Live-Konzert zu erleben, aber als das Licht anging, sei er sich vorgekommen wie in einem OP-Saal, so steril. Es war nicht das Konzerterlebnis, das man kannte. Der Umgang mit den unterschiedlichen Instrumenten ist auch nochmal unheimlich schwierig, weil sich da die Aussagen und Studien so sehr widersprechen. Irgendwann war das nicht mehr handelbar, so dass wir gesagt haben: Ja, es ist unser Anspruch, ein Konzerterlebnis zu ermöglichen, aber ist das noch der Rahmen, der es wirklich zu einem Erlebnis macht?
Können Sie ein Beispiel nennen für die Widersprüchlichkeiten?
Es gab erstmal Widersprüchlichkeiten in der Corona-Schutzverordnung selbst. In der Anlage 12 für Sänger:innen und Musiker:innen widersprachen sich die Ziffern 1 und 5, was die Abstände angeht, es ist mal von Holzblasinstrumenten, mal allgemein von Blasinstrumenten, mal nur von Blechblasinstrumenten die Rede. Man merkt, dass das – verständlicherweise – mit heißer Nadel gestrickt war. Letzten Endes hätten die Querflöten in der Orchestersitzordnung ganz vorne sitzen müssen, weil sie am meisten Ausstoß haben. Ich muss ihnen nicht sagen, was ein GMD dazu sagt, dass er die Querflöten direkt neben sich sitzen hat. Wir haben ihm dann gesagt: ›Dein künstlerischer Anspruch muss dann jetzt im Moment eben etwas hinten anstehen‹, das hat ihm fast das Herz gebrochen, das konnte er nicht hören.
Das heißt, die Querflöten sitzen jetzt bei den Sinfoniekonzerten vorne?
Nein, wir planen nicht mit einer Sitzordnung mit Querflöten in der ersten Reihe, sondern haben für die ersten drei Sinfoniekonzerte einen Fokus auf Pauke und Harfe gelegt und bringen einfach ein anderes Programm zur Aufführung als ursprünglich geplant.
Wie ist es mit Sänger:innen? In NRW dürfen sie, anders als in Berlin, noch proben?
Ja, unter Einhaltung der Mindestabstände von 6 Metern in Ausstoßrichtung bei ›exzessivem Singen‹, was auch immer das bedeutet, das ist auch so ein unbestimmter Rechtsbegriff, den man mal definieren müsste. Das heißt, wenn die Sänger:innen sich beim Singen bewegen, müssen sie immer aufpassen, wo die anderen gerade sind. Wir haben auf der Bühne Punkte aufgeklebt, an denen man ungefähr erkennen kann, in welchem Abstand man sich gerade zueinander bewegt.
Welche Lernerfahrungen haben Sie als Institution in den letzten Monaten gemacht, was ist neu zutage getreten, was hat sich aufgelöst, verändert…?
Der Zusammenhalt im Haus ist noch größer geworden. Das liegt vielleicht auch daran, dass das Know-how von jeder und jedem einzelnen wichtig und gefragt war. Wir sind bisher ohne einen Coronafall durch die Krise gekommen und ich hoffe inständig, dass uns das erspart bleibt. Wir mussten auf niemanden zeigen oder niemanden davor schützen, an den Pranger gestellt zu werden. Und es hat eine hohe Solidarität innerhalb der Stadt gegeben, auch uns gegenüber. Vorreiter zu sein bei der Produktion von Masken und Plexiglasschutzwänden war dann noch einmal eine ganz neue Erfahrung und dafür Dankbarkeit von einer Zulassungsstelle oder einer Bürgerberatung zu erfahren, war auch schön. Ich glaube, es hat diese Stadt insgesamt zusammengeschweißt.
Die Lernkurve bei Ihnen persönlich ging wahrscheinlich auch steil nach oben?
Ja, im Moment kann man nicht sagen: ›Ich muss aber kurz nochmal in meine Stellenbeschreibung gucken, ob das noch mein Job ist.‹ Teilweise gab es auch bittere Erfahrungen, man hat wirklich für die Mülltonne gearbeitet. Am Sonntag, 14. Juni, habe ich zehn Stunden an der Überarbeitung des Arbeitsschutzkonzepts gesessen um dann abends im Netz die Coronaschutzverordnung für den 15. Juni zu finden und festzustellen, dass ich alles, was ich gemacht hatte, unter ›eine Erfahrung reicher‹ aber als nicht verwertbar abspeichern muss. Alles ist neu, wie ein weißes Blatt Papier. Ich hätte nie gedacht, dass man, wenn man nicht spielt, so viel Arbeit haben kann. ¶