Aus unserer Rubrik »Gedanken am Stück«: Frederic Rzewskis The People United Will Never Be Defeated! und eine Begegnung mit dem Pianisten Igor Levit.
Als der chilenische Sänger und Komponist Sergio Ortega im Juni 1973 das Lied ¡El pueblo unido jamás será vencido! schrieb, war das sozialistische Wahlbündnis Unidad Popular von Salvador Allende gerade drei Jahre im Amt. »Das vereinte Volk wird niemals besiegt werden« – ein Lied zur Beschwörung des Zusammenhalts in einem Land, das durch Streiks, Terroranschläge, ein Handelsembargo der USA und eine Inflationsrate von 60 Prozent gebeutelt war. Drei Monate später, am 11. September 1973, putschte General Augusto Pinochet die Unidad Popular aus dem Amt, politisch und finanziell unterstützt von den USA. Allende beging im Präsidentenpalast Selbstmord, seine Anhänger wurden in den folgenden 17 Jahren Militärdiktatur zu Tausenden ermordet. Das melancholisch-kämpferische Lied wurde für linke Bewegungen weltweit zum Symbol des Widerstands und des Freiheitskampfes, vor allem in Italien, wo viele Mitglieder der Undidad Popular im Exil lebten.
Dort hörte es vermutlich der amerikanische Komponist Frederic Rzewski zum ersten Mal. Er hatte in Harvard und Princeton Klavier studiert, mehrere Jahre in Rom und West-Berlin gelebt, wo er sich einen Namen als Pianist der Avantgarde gemacht hatte. 1962 führte er Stockhausens Klavierstück X urauf, zwei Jahre später dessen Plus-Minus, bevor er sich Ende der 1960er Jahre immer mehr eigenen Kompositionen zuwandte – und der Frage, was eigentlich politische Musik im Gewand zeitgenössischer Musik sein könne.
Diese Frage wurde in der musikalischen Avantgarde der 1960er und ’70er Jahre intensiv diskutiert. Schon 1958 hatte Rzewskis Lehrer, Milton Babbitt, den Artikel »Who cares if you listen?« geschrieben, in dem er grundsätzlich jede Möglichkeit ablehnte, gleichzeitig ästhetisch die Avantgarde zu bilden und »die Masse« zu erreichen: Ernsthafte, fortschrittliche Musik sei wie Mathematik, Philosophie und Physik ein Spezialistentum, das sich den Erwartungen der normalen Hörgewohnheit entziehen müsse.
Das Stück machte Rzewski bekannt, es wird mehr gespielt als so manches anderes Musikstück des späten 20. Jahrhunderts, es gibt ein paar Aufnahmen, unter anderem eine sehr gute von Marc-André Hamelin, einige Pianisten haben das Stück im Repertoire.
Quilapayún war mit Inti-Illimani und Víctor Jara die wichtigste Gruppe der Bewegung Nueva canción Chilena. Sie verfassten den Text zur Musik von Sergio Ortega und sangen El Pueblo Unido 1973 wenige Tage vor dem Putsch auf einer Massendemonstration für die Regierung Allende. Als das Militär am 11. September putschte, waren Quilapayún auf einer Europatournee in Frankreich und mussten bis 1988 im Exil bleiben.
Andersherum stellte der Schweizer Musikjournalist Hansjörg Pauli 1968 in einer Interviewreihe des Hessischen Rundfunks Avantgardekomponisten wie Dieter Schnebel, Maurizio Kagel und Luigi Nono die Frage »Für wen komponieren Sie eigentlich?« Das herausfordernde »eigentlich« implizierte: Komponieren durfte man nicht einfach so, es bedurfte der Legitimation durch eine gesellschaftliche Relevanz. Aber wie konnte das zusammen gehen mit ästhetischer Innovation, mit Serialität, aleatorischer oder grafischer Musik? Waren das Sackgassen, wenn es darum ging, ein »revolutionäres Subjekt« anzusprechen? Musste man dafür ästhetische Ideale preisgeben – die ja ursprünglich zur Überwindung vermeintlicher bürgerlicher Formen gedient hatten?
Als Luigi Nono, ein überzeugter Kommunist, 1971 aus Anlass des plötzlichen und ungeklärten Unfalltods des jungen chilenischen Studentenführers Luciano Cruz Aguayo seine Trauermusik Como una ola de fuerza y luz (»Wie eine Welle aus Kraft und Licht«) für Sopran, Klavier, Orchester und Tonband schrieb, war dieses klare politische Statement nicht verbunden mit einem ästhetischen Kompromiss – im Gegenteil, für einen revolutionären Wandel musste für Nono die fortschrittliche politische Botschaft mit fortschrittlichen kompositorischen Produktionsmitteln zusammenfallen.
Eine andere Antwort auf diese Frage fand Rzewski mit dem im September / Oktober 1975 komponierten Variationenzyklus The People United Will Never Be Defeated!, der am 7. Februar 1976 von Ursula Oppens im Kennedy Center in Washigton D.C. aufgeführt wurde. »Ich hatte den Eindruck«, schrieb Rzewski in einer autobiographischen Einführung, »als gebe es keinen Grund, warum sich die schwierigsten und kompliziertesten formalen Strukturen nicht in einer Form ausdrücken lassen sollten, die einer breiten Vielfalt von Hörern verständlich war.«
Diese Form, die Rzewski in The People United fand, war eine Art autobiographischer Stil-Eklektizismus, die Verwendung einer Vielzahl vermeintlich gegensätzlicher Stilelemente, mit denen Rzewski sich beschäftigt hatte oder die ihm am Herzen lagen: Folk und Pop, eine minimalistische Version von Eislers und Brechts Solidaritätslied, das italienische Revolutionslied Bandiera Rossa, serielle Musik, Romantik, Jazz und Improvisation – in der letzten, 36. Variation lässt Rzewski in der Partitur Raum für eine Improvisation, die »fünf Minuten oder länger« dauern könne. Diese Symbiose war ein kleiner Affront gegenüber der Selbstreferentialität der Avantgarde: Ein »Variationenzyklus«? Eine Regression in bürgerliche Strukturen des 18. und 19. Jahrhunderts, der Schulterschluss mit Bachs Goldberg-, Beethovens Diabelli- und Brahms’ Paganini-Variationen?
Frederic Rzewski: The People United Will Never Be Defeated!, gespielt vom Komponisten höchstselbst.
31. Juli 2014, Alte Synagoge Hagenow
Ein warmer Sommertag im Westen Mecklenburg-Vorpommerns und ein typischer Musikfestivaltag in der Provinz: Small Talk, Grüner Veltliner, Stehtisch-Häppchen und saure Gurken umsonst. Vor der Alten Synagoge von Hagenow parken große schwarze Limousinen des Sponsors der Festspiele Mecklenburg-Vorpommern. Vor der Pause hat – artist in residence beim Festival – hier Beethovens Diabelli-Variationen gespielt, gleich geht es weiter mit Rzewskis The People United.
Nach der Pause tritt er vor das Publikum im kleinen, restlos ausverkauften Raum und erzählt über die Entstehung des Stücks, seine Freundschaft zu Rzewski und warum ihm das Stück so viel bedeutet: weil es eine Haltung hat, die ihm sehr nah sei. Dann folgt eine einstündige Tour de Force, Levit kriecht in das Klavier, pfeift, grinst und berserkert. Es ist eine Musik, die ihm fast wie Beethoven liegt, in den radikalen Umschwüngen, den großen Kontrasten, der Polarität von Wildheit und Zartheit, gepaart mit allen Registern technischer Schwierigkeiten. Das Klavier dröhnt im kleinen Raum zu laut, zornig, melancholisch, ein ständiges Wogen von Klimax und Antiklimax, Ebbe und Flut.

36 Takte hat das Ausgangslied El Pueblo Unido, 36 Takte auch die Einführung des Themas bei Rzewski und 36 Variationen das gesamte Stück. Rzewski hat den Zyklus entlang eines eigenen Modells entworfen, in dem jeweils fünf Variationen in der sechsten zusammengefasst werden. Das ganze Stück ist eine komplexe, verwobene Struktur der Zusammenfassungen, der Wiederholungen, der stilistischen Flashbacks und Anekdoten, in denen sich die im Song beschworene Einheit spiegelt. Beim letzten Ton springt Igor Levit vom Stuhl und mit ihm das Publikum. Instant Standing Ovations, kein verhaltener Applaus, der zunächst zögert und sich dann steigert. Levit steht da vorne, etwas unangenehm berührt, mit einem spitzbübischen Lächeln, und seine Hände wissen nicht, wohin mit sich und dem Triumph.
Und man selbst fragt sich inmitten des Jubels: Was passiert hier gerade, worum geht es, und wem und was wird hier zugejubelt?
Ein Café in Hannover, Wochen später
Ich treffe Igor Levit an der Musikhochschule Hannover, wo er studiert hat und immer noch manchmal übt. Wir setzen uns in der Nähe in einen Mädchentraum von Café, Levit ist hier oft, man kennt sich, die Besitzerin fragt später beim Bezahlen: »Und, ich hoffe der Igor hat schön erzählt?« Was mir schon in Hagenow aufgefallen ist, als er dort auf der kleinen Bühne den Applaus entgegennahm: Wenn Igor Levits Hände keine Tasten unter sich haben, wissen sie nicht wohin mit sich, als wenn sie ihre Existenzberechtigung verloren hätten. Sie zupfen aneinander, verknoten sich ineinander oder drücken auf dem Handy herum. Levit erzählt noch einmal die Geschichte, wie er The People United und Rzewski kennengelernt hat: Er saß 2006, gerade 18 Jahre alt, in der Bibliothek der Musikhochschule und entdeckte mit einem Kommilitonen zufällig die Aufnahme des Stücks von Marc-André Hamelin. Die Bibliothek hatte die Noten, Levit versuchte sich zu Hause dran – »und das ging überhaupt gar nicht, ich kam über das Thema nicht hinaus.«

Er fand im Internet Rzewskis E-Mail-Adresse und schrieb ihn an. »Ich bin Student. Ich finde ihr Stück so großartig und ich würde es gerne irgendwann einmal spielen. Würden sie für mich etwas schreiben?« Rzewski hatte noch nie von Levit gehört, aber schrieb für ihn ein zweites Buch aus dem Zyklus der so genannten Nanosonaten. »Das habe ich dann 2007 hier uraufgeführt vor 15 Menschen im NDR, einen ganzen Klavierabend mit Werken von Rihm, Widmann und Rzewski.«
Er blieb mit Rzewski in Kontakt, das erste Mal trafen sie sich aber erst 2012 während des MaerzMusik Festivals in Berlin. Rzewski besuchte kurz darauf ein Konzert von Levit in Heidelberg, wo er The People United spielte. Sie freundeten sich an, und der fast 50 Jahre ältere Rzewski wurde für Levit zu einer Art Rollenmodell.
Für Levit ist People United ein bedeutendes Stück, weil es einen Standpunkt erzwinge. »Ich kenne niemanden, der oder die das Stück hört und in einem emotionalen Mittelweg bleibt. Es kommt Ablehnung oder Zustimmung. Es werden politische Sehnsüchte oder Feindschaft gegenüber dieses Sehnsüchten geweckt.«
Aber wird die Botschaft eines Stücks wie The People United heute wirklich so rezipiert? Oder nicht eher karikiert, wenn sie im bürgerlichen Konzertformat zusammentrifft mit Bewertungskriterien wie technischem Perfektionismus, Starkult und Virtuosentum? Der Komponist Konrad Boehmer schreibt 2003 in »Musik und Politik«, dass einige Komponisten seiner Generation wie Christian Wolff, Cornelius Cardew, Frederic Rzewski, aber auch er selbst, völlig gescheitert seien mit dem Versuch einer Revolutionierung der Musik und ihres Ausbruchs aus dem Elfenbeinturm der Schein-Autonomie. »Wo wir in Werke für den Konzertgebrauch Motive aus Liedern der Arbeiterbewegung oder der revolutionären Befreiungsbewegungen hineinnahmen, wurden sie vom Publikum rezipiert, als ob es sich um Material der klassisch-romantischen Musik handele.« Als Levit The People United in Heidelberg spielte, schrieb Eleonore Büning in der FAZ von den »Angst-Stellen« des Stücks, das zu den »schwersten Stücken aller Zeiten gehört«, und deswegen »Legende« sei, und dass Levit alles »tadellos und tatsächlich unfallfrei« spiele. Und das Schleswig-Holstein Festival kündigt ein Rzewski-Konzert mit Levit damit an, dass dieser am liebsten »die allergrößten Prüfsteine« spiele, und dazu gehöre auch The People United, »gespickt mit den aberwitzigsten technischen Schwierigkeiten.« Genau das richtige Stück also, um die »ganze Zauberkunst von Levit« offenzulegen.
Levit sagt: »Ich behaupte, wenn ich das Stück vor 700 Leuten spiele, dann haben das in dem Moment mehr Zuschauer gehört als später die Kritik lesen.« Man muss ihm zugute halten, dass er sich bemüht, das Publikum davon zu überzeugen, dass Musik und Thema wichtig sind. Im Mai 2014 spielte er einen Einspringer für den erkrankten Maurizio Pollini im Wiener Musikverein. Als der Konzertveranstalter um 13:30 bei Levit anrief, saß dieser gerade in diesem Café in Hannover und aß Aprikosenkuchen. »Wann ist das Konzert?«–»Heute Abend.«–»Wo denn?«–»Großer Saal Musikverein«.–»Und für wen?« –»Pollini«–»Was sollte er denn spielen? «– »Chopin und Schumann«– »Das könnt ihr vergessen! Wann landet der Flieger?» – «Eine Stunde vorm Konzert» – «Dann komme ich und spiele, was ich will.» Er spielte dann die beiden letzten Beethoven-Sonaten und The People United vor dem Wiener Abonnementpublikum. Wobei sich hier vielleicht nur ein Kreis schloss, hatte doch Pollini selbst einst Nonos Como una ola de fuerza y luz uraufgeführt.
»Ich spiele das, fange irgendwann an zu pfeifen (das Pfeifen ist Teil der Komposition), ab Reihe 17 hört das niemand mehr, und dann sehe ich aus den Augenwinkeln eine ältere Dame, die mit den Augen rollt, so nach dem Motto: ›Wie kann er es wagen!‹ Und dann merkt man plötzlich: okay, dieses Stück ist immer noch ein totaler Skandal.«
Igor Levit ist ein unersättlich, ein vielleicht zwanghaft Neugieriger, ein Schwamm, der unaufhörlich saugt. Er muss neue Stücke erobern, sie sich einverleiben, sich eingerissene Fingerkuppen, blaue Flecken und Muskelverspannungen dabei holen. Es reicht ihm nicht, in Fußstapfen zu treten, das Korsett eines Wunderpianisten ist ihm ohnehin zu klein, und man spürt, wie er beweisen will, dass er vieles sein kann: Nicht nur Musik, sondern auch Politik. Nicht nur Repertoire, sondern auch Skandal. Nicht nur Angry Young Man, sondern auch Bohemian. Nicht nur Komponisten spielen, sondern auch deren Freund sein. Nicht nur Salon, sondern auch Kommunist. Und The People United ist das ideale Vehikel der Transgression. Gerade liest er »Like A Rolling Stone«, ein Buch über Bob Dylan vom Musikjournalisten Greil Marcus. »Leute wie Dylan haben in den 60er Jahren die Musik nicht als Teil einer separaten Wirklichkeit genommen. Sie kamen und hatten den Anspruch, nach ganz oben zu kommen. Seine eigene Stimme so stark werden zu lassen, dass sie Deutungshoheit erlangt.« Ein Begriff, den er noch ein paar weitere Mal verwenden wird: Deutungshoheit. »Mal ein Beethoven hier, mal ein Programm da, das interessiert mich nicht.«
Das klingt zunächst nach etwas zuviel narzisstischer Grandeur, und vielleicht kann aus der ganzen Begabung auch ein Fluch werden, aus der permanenten Deutungshoheit. Talent ist vielleicht auch immer ein Zwang – wenn man etwas kann, muss man es auch zeigen. Andererseits, warum sollte ein 27-jähriger Pianist, dem die Welt zu Füßen liegt, auch nicht so auftreten. Bald wird Levit ein paar Mal die Thälmann-Variationen des Maoisten Cornelius Cardew spielen, ein schlechteres und noch viel offensichtlich ideologischeres Werk als The People United. Trotzdem sei es an der Zeit, »den Leuten das um die Ohren zu hauen«. Und sei es nur um der Empörung willen. Wahrscheinlich wird es aber auch danach vorrangig um sein tadelloses Legato-Spiel gehen.
Will Never Be Defeated!
Ganz zum Schluss, am Ende der 36. Variation von The People United, passiert etwas höchst wunderliches: Für fast 50 Minuten hat die Liedmelodie gekämpft und gelitten, ist marschiert und geschlendert, hat jubiliert und resigniert, geträumt und gehofft, ist angerannt und verzweifelt. Und hat dabei den Zuhörer immer im Blick, als wenn sie ihm zeigen wolle: Hier bin ich gerade, schau mal! Und dadurch hat sich eine solche Nähe aufgebaut zu dieser Melodie, dass sich, als sie am Ende wieder erscheint, in wehmütiger Melancholie und Schlichtheit, eine unglaubliche Rührung einstellt. Gegenüber dieser Melodie, die so viel mitmachen musste und trotzdem noch da ist. Und irgendwie auch gegenüber der menschlichen Existenz und all den Kämpfen und Mühen, diese lebenswert zu machen. Aber die Melodie bleibt nicht stehen, erhebt sich immer stärker und selbstbewusster, als wenn sie sich allmählich ihrer Kraft der Selbstbehauptung bewusst würde. Am Ende erscheint dann ein letzes Mal The People United Will Never Be Defeated, als ein großes Ausrufezeichen. ¶