Ein Interview mit Jürgen Köchel

Interview & Fotos · Datum 25.3.2015

Der heute 90-jährige Köchel empfängt uns an einem Sommertag in seinem Haus bei Bochum. Den umgebenden Garten mit 2.000 Quadratmetern bestellt er selbst. Mit leuchtenden Augen, wacher Erinnerung und in druckreifen Worten erinnert er sich an einen Freund und ein musikalisches Genie.

VAN: Wie und wann haben Sie Alfred Schnittke kennengelernt?

Jürgen Köchel: Ich war damals gerade von einem kleineren Musikverlag zu den Sikorski Verlagen nach Hamburg gewechselt, als diese intensiv begannen, die russische Musik zu vertreten. Auf einer meiner ersten Reisen nach Russland im Jahr 1969 habe ich Alfred Schnittke kennengelernt; ich bin bewusst im Rahmen einer ISME-Tagung (International Society for Music Education) da hingereist – als Verleger wäre ich zu schnell im Visier der UdSSR-Staatsmacht gewesen – und da habe ich ihn besucht.

Schnittke wurde damals noch von der Universal Edition verlegt, die war führend bei der Neuen Musik, durch meinen Eintritt in den Verlag wurde die bei Sikorski aber auch stärker berücksichtigt. Die jungen russischen Avantgardisten in Russland waren für mich sehr wichtig, neben Schnittke auch Edison Denisov, Sofia Gubaidulina, die wurden von mir gefördert und auch teilweise entdeckt.

Ich war mit Schnittke sehr schnell sehr eng befreundet, so dass er auch unseren Verlag mit seinen Werken bedachte. Ihm gefiel, glaube ich, die hohe Aufmerksamkeit seiner Arbeit gegenüber, und dass ich auch auf gute Werbung für ihn achtete.

Inwiefern war Schnittke selbst zu diesem Zeitpunkt im Visier der Staatsmacht?

Also, er galt in Moskau als Avantgardist, und die kriegten keine Reisegenehmigung, auch nicht, als in Donaueschingen die ersten Werke von ihm gespielt wurden (1969). Die hätte er auch 1972 nicht bekommen, als in Hamburg ein großes Schnittke-Konzert stattfand, mit dem litauischen Kammerorchester unter Saulius Sondeckis und Gidon Kremer und Tatiana Grindenko, zwei hervorragenden Geigenvirtuosen. Als Kremer die Orchesterliste machte, schmuggelte er Schnittke als Cembalo-Spieler hinein, und so konnte der ausreisen. Das Cembalo spielt ein wichtige Rolle im Concerto Grosso No. 1, und das wurde damals dort erstmals aufgeführt.

Jürgen Köchel erzählt von seiner ersten Begegnung mit Alfred Schnittke, berichtet von der Kindheit und Jugend Schnittkes und dessen musikalischer Ausbildung unter anderem bei Philip Herschkowitz

Von Seiten der vermeintlichen Avantgarde wurde Schnittke öfter vorgeworfen, er bediene sich (tonaler) Tonsprachen, die es zu überwinden gelte.

Er sagte einmal: ›Ich bin noch im rechten Moment aus dem fahrenden Zug der Avantgarde abgesprungen‹, er sah das als Sackgasse. Seine ersten Konzerte in Donaueschingen waren noch stark avantgardistisch, aber nun, Anfang der 1970er Jahre begann er mit der Polystilistik, mit dem Vermitteln zwischen den Stilen der letzten vier Jahrhunderte.

Das hat auch viel mit seiner Sicht auf die Musikentwicklung zu tun. Er sah sie als eine Kugel, die sich dreht; und die Punkte an der Oberfläche, die an einer bestimmten Stelle im Raum stehen, können bald von einer anderen Stelle der Kugel berührt werden, und genau da ist ein ›Umsteigen‹ von einem Stil in den anderen denkbar.

Man darf das nicht im Sinne von Eklektizismus sehen, dass man jetzt einfach verschiedene Stile zusammenwürfelt, sondern: es ergeben sich Übergänge, Ähnlichkeiten, Umpolungen. Und das hat seine Musik verständlicher gemacht. Er bekam sehr rasch ein großes Publikum, obwohl er immer wieder in seinen eigenen Stil zurückkehrte.

Diese Zitat-Passagen sind bei Schnittke so auffällig wie vielleicht bei keinem anderen Komponisten. Was daran ist Kalkulation, was Notwendigkeit?

Ich glaube, er hat die Notwendigkeit der Stilvielfalt erkannt und damit gearbeitet. Ich frage mich selbst, ob er im Sinn gehabt hat, den Zuhörer ein bisschen an die Hand zu nehmen und mit einer Melodie, einer Tonfolge hereinzuziehen und dann aber doch wieder seine ›eigene‹ Musik zu machen. Ich bezweifele aber, dass es so beabsichtigt war, es ist eher eine Folgeerscheinung. Er hat die Musik als ein Ganzes gesehen, und wollte mit diesen Rückgriffen das Vergangene in das Moderne und das Moderne in das Vergangene einschmelzen. Damit stand er weitgehend einsam dar, wenige folgten ihm, einige wendeten sich von ihm ab.

Wo wir bei Verschmelzung sind: Schnittke sagte auch einmal, er wolle die Trennung zwischen E- und U-Musik aufheben. Gleichzeitig gibt es eine Äußerung, in denen er die populäre Musik als »böse« bezeichnet.

Da kommen wir auf etwas Grundsätzliches. Schnittke war ein polarer Mensch. Er konnte eine Behauptung aufstellen und immer auch das Gegenteil vertreten. Also, die blanke Unterhaltungsmusik, die nur so dahin klimpert, die hat er als ›böse‹ bezeichnet. Trotzdem hielt er es für wichtig, Elemente der Unterhaltungsmusik mit einzuschmelzen. Zum Beispiel im Concerto Grosso No. 1 diesen wunderbaren Tango. Und das Böse spielt bei ihm eine ganz besondere Rolle, er hat Dr. Faustus von Thomas Mann oft gelesen, mit den ganzen Zitaten aus dem Volksbuch des Dr. Faustus, und dort spielt der Mephisto als Verkörperung des Bösen ja eine große Rolle, darauf hat er sich oft bezogen, vor allem in der Faust-Oper (Historia von D. Johann Fausten).


Eine »Note« (wie man wohl im ehrwürdig-hanseatischen Musikverlagswesen zu sagen pflegt), die eine der Lieblingsstellen von Schnittke zeigt, die drei Wehklagen des Dr. FAUSTUS angesichts des Vom-Teufel-geholt-werdens, mit denen Schnittkes Faust-Oper beginnt. Man sieht DEN TEXT, DIE Gesangsstimme und eine Bass-Begleitung. Die roten Noten hat Schnittke eingetragen, »das ist dann schon die halbe Instrumentation«.
Eine »Note« (wie man wohl im ehrwürdig-hanseatischen Musikverlagswesen zu sagen pflegt), die eine der Lieblingsstellen von Schnittke zeigt, die drei Wehklagen des Dr. FAUSTUS angesichts des Vom-Teufel-geholt-werdens, mit denen Schnittkes Faust-Oper beginnt. Man sieht DEN TEXT, DIE Gesangsstimme und eine Bass-Begleitung. Die roten Noten hat Schnittke eingetragen, »das ist dann schon die halbe Instrumentation«.

Ich sehe gerade diese Partitur, mussten Sie selbst auch mit solchen Skizzen in ihrer verlegerischen Arbeit umgehen?

Nie bei Schnittke. Er hat uns immer sehr sorgfältige und gut leserliche Reinschriften abgeliefert.

… die er anfertigen lassen hat …

… die er immer selbst angefertigt hat!

Also … Schnittke hat für sein gar nicht einmal so langes Leben ziemlich viel komponiert. Seine Sinfonien haben sehr viele Stimmen, es gibt keine improvisatorischen, grafischen oder andere Passagen, dafür sehr viele Noten, die er alle aufschreiben musste. Dazu hat er ungefähr 70 Filmmusiken geschrieben. Die physische Tätigkeit des Komponierens muss unglaublich gewesen sein.

Ja, das ist ein wahres Wunder, was er schreibmäßig geleistet hat. Aber auch das geistige: Er hat nie am Klavier komponiert, er hatte alles im Kopf. John Neumeier hat ihn während der gemeinsamen Arbeit am Peer-

Gynt-Ballett einmal gebeten, ihm erstmalig einige Passagen aus der Musik vorzuspielen. Schnittke ist daraufhin mit uns in den Keller des Sikorski-Verlages gegangen, da gab es ein Studio, und hat das ganze Ballett aus dieser Art Skizze, die sie gerade gesehen haben, gespielt, von vorne bis hinten. Damals hatte er bereits den zweiten Schlaganfall gehabt und hatte große Schwierigkeiten mit der rechten Hand.

Er sagte einmal sinngemäß, die Arbeit bedeute wenig Mühe, wenn man nicht nur seine persönlichen Zwecke verfolgt, sondern einen größeren, außerhalb der Person liegenden Zweck erfüllt. In diesem Zitat deutet sich fast so etwas wie Bestimmung an.

Ich glaube, es hätte für Schnittke keinen anderen Beruf geben können. Schnittke war fast ausschließlich auf die Musik konzentriert. Ich bin öfter nächtelang mit ihm im Auto gefahren und habe festgestellt, dass etwas weiter außerhalb der Musik liegende Bereiche für ihn überhaupt nicht existierten, Schnittke kannte keine Baum-, keine Blumen- oder Pflanzenart, kein Sternbild. Nur Dichtung und Poesie spielten neben Musik noch eine Rolle für ihn. Er sagte: ›Ich bin dort glücklich, wo ich meine Musik schreiben kann‹.

Seine Musik war nie von einer politischen Haltung motiviert?

Überhaupt nicht, nie … es gibt vielleicht eine ganz frühe Komposition, das Nagasaki-Oratorium, wo die Schrecken des Atomkrieges thematisch einfließen. Aber das war seine Examensarbeit. Und bei der Oper Leben mit einem Idioten, das ist schon ein Kommentar auf die gesellschaftlichen Zustände in Russland und die Parteigefälligkeit vieler Zeitgenossen. Aber sonst, ganz klar: nein.

Und dabei war er trotzdem konsequent, energisch: Er lehnte 1990 die Nominierung für den Lenin-Preis ab, vor allem aus Empörung darüber, dass man ihm die Ausübung seines Berufs lange Zeit so schwer gemacht hatte.

Welches sind Ihre Lieblingsstücke von ihm?

Es gibt so ein ganz harmloses Stück für Violine und Klavier, ein ganz frühes Werk, kleine Stücke, die mich sehr stark berührt haben. Die erste Sinfonie fasziniert mich auch sehr. Und eines der stärksten Stücke überhaupt ist das Klavierquintett, geschrieben auf den Tod seiner Mutter; wo er Musik darstellen wollte, die seiner Mutter gefallen hätte; hier gibt es das Walzerthema im zweiten Satz, das ist sehr beachtlich. Auch seine – er hat ja Mozart sehr geschätzt; wenn er sich auch später von ihm distanziert hat, ›zu viel Melodie, zu wenig Verarbeitung‹.

Thematische Verarbeitung ist das eine. Wie explizit war für Schnittke die Frage der Klangfarben?

Unbedingt total wichtig. Es gibt ganz erstaunliche Partituren von Schnittke, ein Vokalwerk zum Beispiel, wo er 52 Stimmen aufeinanderschichtet und wieder abbaut (Minnegesang für großen gemischten Chor a cappella). Aber auch in den Orchesterwerken passieren fantastische Klänge, er hatte da auch sehr genaue Vorstellungen, geschult durch die zahllosen Filmmusiken, die er geschrieben hatte. Die Zeit von 1975 bis 1990, da hat er ganz großen Klangzauber entwickelt. Er erlitt ja ab 1991 mehrere Schlaganfälle, und die haben auch seine Schreibfähigkeit behindert. Er sagte: ›In meinem Kopf ist alles fertig, aber die dumme Hand macht es nicht mehr‹, das hat auch seine Musik beeinflusst, er musste reduzieren, es wird schlichter. Es gibt nicht mehr diese explosionsartigen Stellen, diese Verschachtelungen. In Leben mit einem Idioten ist das sehr interessant: Der erste Akt ist noch sehr durchgestaltet, klanglich voluminös, aufgefächert. Beim Schreiben erwischte ihn der dritte Schlaganfall. Dadurch ändert sich danach die Musik, und zwar genau, als der Verrückte gefährlich wird, sie wird grober, einfacher. Und das passt sehr gut.


Jürgen Köchel erzählt von den letzten Jahren Schnittkes, von den Schlaganfällen – nach dem ersten war Schnittke bereits kurzzeitig klinisch tot. Zur Behinderung beim Schreiben kam dann in den letzten drei Jahren eine totale Aphasie, Schnittke konnte nicht mehr sprechen, wenn auch bis zur letzten Stunde seines Lebens schreiben – er ist bei der Reinschrift der 9. Sinfonie zusammengebrochen und gestorben. In Köchels Erzählung klingt eine bedrückte Zeit voller Frustrationen an, in der Schnittke für die Außenstehenden einen inneren Rückzug vollzog.


In Ihrer Einleitung zur Analyse zur 1. Sinfonie fragen sie: ›Ist es Zukunftsverheißung oder Todesverkündigung, Anbruch oder Schlußwort? Begegnet uns Schnittke als Prophet einer ungeheuerlichen Vielfalt oder als Bote einer entleerten Endzeit?‹ Was ist das musikalische Erbe von Schnittke?

Zunächst glaube ich heute fest, dass gerade diese Sinfonie einen Anbruch, einen Aufbruch darstellt. Insofern scheint es mir der wesentliche Teil seines Erbes zu sein, dass man wieder auf die stilistische Vielfalt der Musik zurück kommt und davon auch Gebrauch macht und nicht alles historische und unterhaltende ausklammert und nur das Experiment herumgeistern lässt, wo kaum noch Menschen zuhören oder es begreifen können.



Eine andere Sache hängt damit zusammen, das hat mit dem Webernschen Kompositionsprinzip zu tun, dass er nie ganz aufgegeben hat, die Dichte in der Musik zu kontrollieren. Er hat in jeder Zeile die Anzahl der Instrumente gesteuert; dicht-locker, und das bringt mich noch einmal auf seine Polarität: Er konnte einen Standpunkt ausführlich begründen, und wenn er fertig war, und man dachte ›so das ist es jetzt‹, dann sagte er: ›Es kann aber auch völlig anders sein‹. Er oszillierte auch immer zwischen dicht – locker, ernsthaft – heiter, zentriert – gelöst. Das war er. ¶