In der Saison 2020/21 wird Helsingborgs Symphonieorchester (HSO) nur noch mit Künstlerinnen und Künstlern zusammenarbeiten, die mit der Bahn, der Fähre oder auch mit dem Auto, jedenfalls nicht mit dem Flugzeug anreisen, erklärte Fredrik Österling, Helsingborgs »Konserthus«-Direktor, jüngst in einer Pressemitteilung. »Wir sind überzeugt, dass es innerhalb der Grenzen des Schienen-, Straßen- und Seeverkehrs eine ausreichende Anzahl kompetenter Musiker*innen und Künstler*innen gibt. Wir laden ab jetzt nur noch Solist*innen und Dirigent*innen ein, die uns in dem Glauben unterstützen, dass auch klassische Orchester in der Entwicklung zu mehr Nachhaltigkeit eine Rolle spielen können«, heißt es weiter.Österling ist dem deutschsprachigen Feuilleton bereits bekannt durch die Komposition der Kantate Bögtåget (einer Reaktion »mit Liebe und Musik« auf ein anonymes Schreiben mit Hasstiraden über ein Konzertprogramm mit ausschließlich LGBTQ-Komponist*innen im Konserthus. Österling vertonte das komplette Schreiben inklusive Anrede, das HSO und der Tenor Rickard Söderberg brachten es auf die Bühne.) Als ich Österling anrufe, ist er gerade mit seiner Familie in Kopenhagen (und selbstredend per Fähre und Bahn aus Helsingborg angereist).

VAN: In Ihrer Pressemitteilung schreiben Sie, es sei einer der Mythen der klassischen Musikindustrie, dass man nur mit internationalen, mit dem Flugzeug anreisenden Künstler*innen eine hohe Qualität der Aufführungen gewährleisten kann. Wer sagt denn sowas?
Fredrik Österling: Es gab vor kurzem eine Debatte in der dänischen Presse, unter anderem wegen unserer Statements. Da haben einige dänische Dirigenten behauptet, sie müssten weiterhin fliegen können, sonst würde die Qualität der Musik abnehmen. Ich fand das sehr interessant, weil die Klassik-Industrie sich ja in einer Zeit entwickelt und etabliert hat, als noch niemand geflogen ist. Und wir haben so viele unterschiedliche talentierte Menschen hier oder in einem Radius, in dem man auch mit der Bahn oder dem Schiff anreisen kann! Außerdem bewegen sich heute alle mehr und mehr in Richtung desselben Klangideals. Vor 30 Jahren klang ein Orchester aus Norwegen noch anders als eins aus Deutschland, heute nicht mehr so sehr. Das hat unter anderem die Plattenindustrie zu verantworten und das ist auch ein bisschen traurig.
Haben Sie vor der Pressemitteilung irgendwelche Daten zur Klimabilanz Ihres Hauses und Ihres Orchesters erhoben?
Nein, das haben wir noch nicht, beziehungsweise fangen wir gerade erst damit an. Aber wir haben aus dem, was aktuelle Studien besagen, geschlossen, dass Fliegen ein Teil des Problems ist. Es ist vielleicht gar nicht der größte Teil, das wäre vermutlich unser Stromverbrauch und die Art der Energiegewinnung. Wir schauen da auf alle Aspekte. Aber wir fangen jetzt erstmal mit den Flügen an.
Holen Sie sich dabei Hilfe von Fachleuten?
Ja. Wir arbeiten mit dem städtischen Umweltamt in Helsingborg zusammen. Dessen Fachleute helfen uns, alle Aspekte zu berücksichtigen, die sich auf unsere Klimabilanz auswirken.

Wie wird denn Helsingborgs Symphonieorchester in Zukunft reisen?
Touren in Europa sind aber überhaupt kein Problem. Wir können eigentlich überall hinfahren, wir müssen nur die Anreise finanziert bekommen. Es ist also eine Budgetfrage, wir müssen einerseits Gelder dafür auftreiben und andererseits gut verhandeln.
Wie kam die Entscheidung, komplett aufs Fliegen zu verzichten, eigentlich zustande?
Die Debatte wurde bei uns ausgelöst durch einen Cellisten, der aus Stockholm mit dem Nachtzug 600 Kilometer zu uns gefahren ist und dann gefragt hat: ›Was macht ihr um zum kompensieren, dass ihr immer wieder Dirigent*innen und Künstler*innen aus der ganzen Welt einfliegt?‹ Damals haben wir noch überhaupt nichts gemacht, aber wir haben dann angefangen, darüber nachzudenken.
Wir wissen natürlich, dass wir die Welt nicht im Alleingang retten können. Aber seit unserer Pressemitteilung findet in Schweden, vor allem auf Social Media, eine umfangreiche Debatte statt – und jetzt ruft auch noch VAN an… [lacht] Wir haben also in der Klassik-Industrie diese Debatte losgetreten, was ich für genauso wichtig halte wie den Fakt, dass wir tatsächlich CO2 einsparen, indem wir keine Dirigent*innen oder Musiker*innen mehr einfliegen lassen. Wir sehen ja jeden Tag, was in der Welt um uns herum passiert: Basel hat zum Beispiel gerade den Klimanotstand ausgerufen, auch auf EU-Ebene bewegt sich was. Die Welt der klassischen Musik war von diesen Debatten bisher merkwürdig abgetrennt, weil wir immer gesagt haben: ›Die Kunst geht über alles.‹ Wenn man aber mal überlegt, wie klein die Unterschiede im Ausdruck oder in der Qualität der Darbietung sind, wenn man jetzt Leute aus Deutschland oder von jenseits des Atlantiks herholt, würde ich sagen: Der Unterschied ist so klein, dafür lohnt es sich nicht, die Klimabilanz zu verschlechtern. Wir haben doch auch so viele gute Leute hier.
In Schweden haben wir zum Beispiel aktuell 29 professionelle Ensembles und Orchester und alle nutzen im Moment den Flugverkehr, um Künstler*innen einzuladen. Wie wäre es denn, wenn wir eine Organisationsform fänden, in der wir Solist*innen und Dirigent*innen besser ›teilen‹ könnten, auf nationaler Ebene? In Schweden liegen die Konzerthäuser so weit auseinander, dass wir sowieso nicht wirklich in Konkurrenz zueinander stehen. Und vielleicht könnte man eine ähnliche Taktik auch für ganz Europa finden? Ich denke, das wäre ein nachhaltigerer Weg uns weiterzuentwickeln. Und es würde auch neue Debatten darüber anstoßen, was heute – mit Blick auf klassische Musik – eigentlich ›Qualität‹ bedeutet. Wir stecken zum Beispiel viel zu wenig Energie in die Suche nach neuem Repertoire. Wir vertrauen darauf, dass das Publikum und sein Geschmack so bleiben, wie sie waren und sind. Und so sind weltweit Konzerte irgendwie alle mehr oder weniger gleich. Können wir daran nicht etwas ändern?
Die Debatte wird auf Social Media zum größten Teil ja auf Schwedisch geführt. Können Sie vielleicht kurz für alle nicht-Schwedisch-Sprechenden die verschiedenen Positionen zusammenfassen?
Es gibt eine ziemlich große Bandbreite an Kommentaren. Ich verstehe nicht, warum sich Leute über diese Sache so aufregen. Unsere Entscheidung wirkt sich schließlich nur auf Helsingborg aus, nicht auf andere Regionen. Und wir ändern ja keine Gesetze, wir zwingen niemanden, es uns gleichzutun. Aber manche sind richtig sauer geworden, haben uns ›Umwelt-Taliban‹ genannt, wir seien stalinistisch oder nur auf political correctness aus – und dann dieser sogenannte Whataboutism: ›Was ist denn mit China? Da bauen sie 200 neue Flughäfen. Was wir hier tun, hilft sowieso niemandem.‹ Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite gibt es Leute, die sehen, dass wir auf allen Ebenen handeln müssen, als Individuen, als Städte und Gemeinden, als Institutionen, auf nationaler und natürlich auch globaler Ebene. Und irgendwo muss man anfangen. Wir haben hier in Schweden natürlich ein großartiges Vorbild, Greta Thunberg, das Mädchen, das den Klimastreik begonnen hat. Sie hat Einfluss genommen auf politische Agenden. Deswegen wäre ich vorsichtig damit, zu sagen, dass es keinen Unterschied macht, was wir hier tun.
Und dann gibt es sehr sehr positive Rückmeldungen, Leute, die sagen, dass sie inspirierend finden, was wir machen und dass sie uns helfen wollen. Viele Dirigent*innen und Solist*innen haben uns kontaktiert und vorgeschlagen, mit dem Zug anzureisen. Oder mit ganz anderen Verkehrsmitteln, mit dem Fahrrad, sogar im Kajak … Es macht Spaß, diese positiven Reaktionen zu lesen. Aber es gibt eben auch diese Kritik, die im Ton sehr harsch und aggressiv ist, das hat mich überrascht.
Regen sich diese Leute eher darüber auf, dass Sie ihnen zu politically correct sind, oder dass sie so jetzt nicht das New York Philharmonic hören können?
Die würden sie hier in Schweden eh nicht hören können [lacht].
Ok, das war ein schlechtes Beispiel.
Ich denke, wir legen diesen Leuten einen Finger in die Wunde: Die aktuelle Situation verlangt uns allen etwas ab. Die nationale und internationale Politik muss sich ändern. Wir alle müssen unser Verhalten ändern, mehr über die Gegenwart und Zukunft nachdenken. Und einige merken jetzt: ›Ich muss selbst etwas tun. Ich kann jetzt nicht mehr einfach mal so nach Thailand fliegen.‹ Das ist der Kern des Problems. Es ist der Gedanke, dass auch sie ihr Verhalten werden ändern müssen, der diese Menschen provoziert.
Und was sagen andere Konzerthäuser oder Orchester?
Manche denken darüber nach, es irgendwann auch so zu machen wie wir. Ich glaube, wir haben die meisten ziemlich kalt erwischt damit. Das war in der Klassikwelt bisher überhaupt kein Thema. Niemand hat darüber gesprochen – von VAN abgesehen. Ihr habt vor zwei Jahren diesen Artikel gebracht über die Klimabilanz und den Sinn von Touren als Orchester. Der Text hat auch in unseren Diskussionen eine Rolle gespielt. Wir haben uns gefragt: Warum macht man sowas? Bringt das was für uns und unsere Kunst? Brauchen wir Bestätigung und Prestige, die wir auf Touren bekommen, wirklich? Und die Antwort auf diese Fragen ist: Nein.
Natürlich müssen sich Künstler*innen untereinander austauschen, aber das ist genau mein Punkt: Das können wir ja auch so. Vielleicht ein bisschen langsamer und vielleicht müssen wir es etwas sorgsamer planen. Aber der Austausch kann ja trotzdem stattfinden, so wie seit Hunderten von Jahren schon.
Im letzten Sommer habe ich zum Thema Klimafreundlichkeit auf Klassikfestivals recherchiert. Die meisten Festival-Organisator*innen, die ich angerufen oder angeschrieben habe, haben zuerst überhaupt nicht verstanden, was ich von ihnen wollte. Warum, glauben Sie, ist das da bisher nie Thema gewesen?
Ich denke, das hat mit unserem Selbstbild zu tun, mit der Klassik-Blase. Wir fühlen uns als ›Hochkultur‹ – in Anführungszeichen – unangreifbar. Wir denken, klassische Musik ist ›larger than life‹, wichtiger als alles andere. Dabei übersehen wir, dass wir genauso Teil der Gesellschaft sind wie alle anderen auch. Das ist wie bei der Frage nach Gleichberechtigung in unserem Business. Ich würde schätzen, dass weltweit nur etwa 1 % des Repertoires von Frauen komponiert ist, dabei wissen wir doch, dass es ziemlich viele sehr gute Werke von Frauen gibt, man könnte damit die Programme mehrerer Saisons füllen. Aber wir denken immer noch, dass wir dieselben sogenannten ›Meisterwerke‹ jeden Tag spielen müssen. Aber bringt uns das wirklich weiter? Ich glaube nicht. Wir haben uns in Helsingborg auch darüber Gedanken gemacht. Wir haben in den letzten zwei Jahren den Anteil von Komponistinnen von 4% auf 33% erhört. Dafür muss man einfach nur die Augen aufmachen und ein bisschen Noten studieren.
Diese Festivals, die haben sich wahrscheinlich noch nie mit dem Thema auseinandergesetzt. Wenn du Musik, Musikwissenschaft oder Komposition studierst, kommt niemand zu dir und sagt: ›Mein Lieber, du bist Teil dieser Welt.‹ Alle streben nach diesem Ephemerischen, dieser höheren Idee von klassischer Musik, und die ist in gewisser Weise einfach Unsinn. Musik ist fantastisch, aber sie muss auch Teil der lebendigen Gesellschaft sein. ¶