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Ich weiß jetzt, wo ich hin muss, heute, an einem der ersten schönen Sommerabende des Jahres: ans Friedrich-Krause-Ufer in Moabit, zu einem riesigen Backsteingebäude, das 1912 von Thyssen-Krupp errichtet wurde. 2018 kaufte eine Investorengruppe das Gelände, um es seiner aktuellen Nutzung zuzuführen: Auf der Website erfährt man, hier solle ein »Arbeitsumfeld entstehen, das Ideenfindung, Entwicklung und Produktion zusammenbringt«. Kein unpassendes Motto für ein »One-to-One« Konzert eigentlich. Eine der Organisatorinnen erklärt mir vor der Tür noch einmal die Regeln: In der Halle sei der Weg zu meinem Stuhl markiert, ich solle in aller Ruhe hingehen, mich hinsetzen und auf mein Konzert warten. Applaus ist nicht vorgesehen und eine Maske sei nicht nötig. Ich bin etwas früh angekommen und unterhalte mich mit einigen Leuten, die in der Sonne sitzen. Einer von Ihnen ist ein Fotograf, der für ein großes Magazin an einem Projekt mit Plänen für mehrere Reisen arbeitete. Jetzt ist er in Berlin geblieben und dokumentiert, was das Virus mit den Menschen in der Stadt macht. Gespräche mit Fremden sind, scheint mir, in dieser Zeit besonders vorsichtig und rücksichtsvoll. Überhaupt könnte zu den Begleiterscheinungen der Krise auch eine Wiederentdeckung der Höflichkeit gehören; nicht als Kanon abstrakter Regeln, sondern als immer wieder neu auszutarierende Form der Rücksichtnahme, die sogar im Kontakt mit Nahestehenden eine Rolle spielen kann: zum Beispiel, wenn man Freund:innen nach Wochen wiedersieht und sich über die Kurzstrecke des Mindestabstands etwas verlegen zuwinkt. Weniger aus Angst vor Ansteckung, sondern weil man herausfinden will, wie die oder der andere es in diesen Dingen hält.

Schließlich betrete ich die große, zweigeteilte Halle und sehe schon vom Eingang aus in ziemlich weiter Ferne eine junge Frau auf ihrem Stuhl sitzen. Links von mir steht im großen ein kleines Haus mit Bar und gedeckten Tischen als Denkmal unserer vergangenen (und hoffentlich auch wieder zukünftigen) Vergnügungen; davor eine kleine Versammlung von Team-Mitgliedern als fragmentarisches Revival des üblicherweise sehr geschäftigen Backstage-Lebens. Der Weg zu meinem Platz kommt mir weit vor. Die übliche Konzertsituation ist in diesem Format auf den Kopf gestellt, weil hier der Zuhörer und nicht die Künstlerin einen »Auftritt« hat. Auch auf meinem Sitz fühle ich mich kurz befangen. Die Musikerin sieht mich freundlich und konzentriert an. Könnte es bei dieser stillen Ouvertüre aufdringlich wirken, das Gegenüber ununterbrochen anzuschauen oder wäre es umgekehrt unhöflich, den Blick abzuwenden? Nach ein bis zwei Minuten hat sich die Spannung gelöst. Die Musikerin steht auf, tritt einige Schritte hinter ihren Stuhl und beginnt zu singen.

Obwohl der Bedarf an Corona-Prosa aktuell einigermaßen gedeckt sein dürfte, könnte man in der veranstaltungsfreien Zeit wieder einmal über die Rolle des Publikums in Klassikkonzerten nachdenken. Zwischen Begrüßungs- und Schlussapplaus kann es aktiv nur im Medium der Störung in den Verlauf der Musik eingreifen; anders als im Sprechtheater gelten Lachen und Szenenapplaus als Regelbruch. In Musik, die nicht unmittelbar rhetorisch organisiert ist, kann für die Ausführenden ein Spannungsverhältnis bestehen zwischen künstlerischer Innenpolitik – der Versenkung in die Partitur und dem Kontakt mit den Mitspielenden – und Außenpolitik – der Kommunikation mit den Zuhörenden. Das schauspielmäßige Voragieren dessen, was das Publikum zu empfinden hat, ist das eine Extrem, die kulthaften Veranstaltungen von Musiker:innen wie Grigori Sokolow das andere. In den Konzerten des Pianisten wird das Publikum weggedunkelt, beim Spielen scheint er »wohl wenig bekümmert um uns«, wie Hölderlin es von der Nacht gesagt hat. Man muss dann aber im Saal anwesend sein, um in dieser Weise ausgeschlossen und zugleich auf die Sache verwiesen zu werden. Angemessen wäre wahrscheinlich der Zustand der stillen Aufmerksamkeit, in dem äußere Passivität und innere Aktivität als Konzentration zusammenkommen und auf die Ausführenden zurückwirken. Man schafft das aber selbst oft nicht sehr gut und nicht so selten bleibt die Magie der Live-Aufführung ein Versprechen. Jedenfalls sind Projekte, die das Publikum stärker einbeziehen, älter als die Corona-Krise. Ich selbst habe vor Jahren über ein Projekt des Pianisten Marino Formenti mit nur einem Publikumsgast für VAN geschrieben. Seit langem werden neben diversen Education-Projekten Mitmach-, Mittendrin- und moderierte Konzerte veranstaltet. Auch die ehrenamtlich arbeitenden Organisatoren der One-to-One Konzerte in Berlin haben das Format bereits vor dem Ausbruch der Pandemie entwickelt und die dialogische Aufführungssituation bei dem thüringischen Kammermusikfestival »Sommerkonzerte Volkenroda« 2019 ausprobiert. Ereignisse, die wie diese unvermeidlich mit hohen Erwartungen verbunden sind, kann man emotional leicht verpassen oder als Enttäuschung erleben. Ich höre von einem Fall, in dem das Experiment nicht richtig funktioniert hat und eine Kommunikation zwischen den beiden Beteiligten ausblieb. Die meisten sind aber von der Erfahrung bewegt, viele weinen, manche hinterlassen Briefe für die Musiker:innen.

So erzählt es mir Hagar Sharvit, die israelische Mezzosopranistin, die für mich gesungen hat und die ich Wochen später zu einem Gespräch treffe. Als begeisterte Liedsängerin – sie gewann 2015 den renommierten, von Thomas Quasthoff ins Leben gerufenen Wettbewerb »Das Lied« – ist ihr die direkte Kommunikation mit dem Publikum vertraut. Auch bei Liederabenden suche sie den Blickkontakt mit Zuhörenden, die aber natürlich nicht genau wissen können, ob nicht vielleicht eine andere, in der Nähe sitzende Person gemeint ist. Das lyrische Ich der vertonten Lieder ist ja eher eine Sprecher:innenposition als eine »Rolle«, die Anrede ans Publikum mitkomponiert.

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Hagar Sharvits Geduld zum »Aussingen« und ihr Gespür fürs Timing, die mich sehr beeindrucken, kann man in dieser Aufnahme von Mahlers Urlicht erleben.

Sharvit kam nach ihrer Ausbildung ins Opernstudio der Oper am Rhein und wurde dann direkt ans Staatstheater Oldenburg engagiert. Ihre Festanstellung dort hat sie Anfang 2019 aufgegeben, die vielversprechend angelaufene Karriere als freie Künstlerin ist von der Pandemie unterbrochen worden; zu den abgesagten Projekten gehört ihr Debüt an der Bayerischen Staatsoper. Sie klagt dennoch keine Sekunde, zumal die Planungen für Opernauftritte und Liederabende inzwischen wieder realistischer geworden sind. Die Sängerin erzählt aber doch, wie schwierig es sei, sich ohne Deadlines zu motivieren. Wegen der unbegrenzt verfügbaren Zeit komme man sich wie ein »Vampir« vor, der ja im wörtlichen Sinne von dem Nahen der Deadline befreit ist. Die Erfahrung der eins-zu-eins-Konzerte, die sie inzwischen an verschiedenen Orten aufgeführt hat, bedeutet ihr erkennbar viel. Ich frage, wann für sie der Moment da ist, mit dem Singen zu beginnen.  Wenn die Anspannung vom Zuhörenden abgefallen sei. Dann bemerke sie beim anderen »Traurigkeit«, sagt sie erst, um sich dann zu korrigieren: Nicht »sadness«, sondern »vulnerability« [Verletzlichkeit]. Ob sie beim Singen selbst bewegt ist? Eher erinnere sie sich an den Moment, in dem die Musik sie ursprünglich berührt habe. Dadurch entstehe eine Art von Distanz, die das Gefühl im besten Fall für den Gast freigebe. Von den One-to-One Konzerten lasse sich lernen, mutiger zu sein, stärker im Moment, sich noch direkter mit dem Publikum zu verbinden.   

Der Gesang, den ich in diesem Konzert höre, wird vom Luftdurchzug und von gedämpften Geräuschen von der Straße begleitet. Die Musik ist mir fremd, nur das mittlere Stück glaube ich wiederzuerkennen. Es ist Ravels Kaddish, wie ich später erfahre. Ich versuche, auf die Struktur zu achten und warte auf Refrains oder Reprisen, habe dann aber eher den Eindruck von musikalischer Prosa. Ich fühle mich nicht überwältigt oder aufgewühlt, sondern eher von der Ruhe und Gefasstheit der Musikerin angesteckt. Nach einer Viertelstunde beendet sie den Vortrag, setzt sich wieder auf den Stuhl und legt die Hände auf ihre Knie. Nach kurzer Stille verabschieden wir uns mit einer angedeuteten Verbeugung voneinander.

Benedikt von Bernstorff beim One-to-One Konzert mit Hagar Sharvit in @vanmusik.

Der ausgehaltene Blickkontakt hat sich mir aus diesem Konzertbesuch neben der Stimme Sharvits am stärksten eingeprägt. Das Senken des Blicks als Geste der Scham ist in Corona-Zeiten vermutlich selbst pandemisch geworden. ¶

... studierte Literatur- und Musikwissenschaften und arbeitet als freier Dramaturg und Journalist unter anderem für den Tagesspiegel.