Letzten Monat schrieb ich für die New York Times über mein aktuelles CD-Projekt: die Goldberg-Variationen für Harfe. Dabei wurde mir klar: Sooft ich in meiner Musiker-Biografie Instrumente und Repertoire gewechselt habe – immer begleiteten mich, als einziges Kontinuum, Bachs Goldberg-Variationen. Mit von der Partie war dabei – genauso kontinuierlich – meine Unzufriedenheit mit dem Werk. Bitte nicht falsch verstehen: Die Variationen sind natürlich unfassbar großartig. Vom Klavier übers Cembalo bis zur Orgel fand ich aber, bedingt durch die jeweiligen Eigenheiten der Instrumente, bestimmte Aspekte des Werkes immer auf die eine oder andere Art enttäuschend. Jetzt habe ich die Variationen auf meinem Hauptinstrument, der Konzertharfe, eingespielt – ein Novum, aber eins mit Tradition. Die Geschichte der Goldberg-Arrangements ist lang (tatsächlich gab es auch vorher schon welche für Harfe). Sie spielten eine entscheidende Rolle bei der Verbreitung und Bewahrung dieser Musik. Für VAN habe ich mein ganz persönliches Best-of zusammengestellt.
Irgendwann in den 2000ern, ich muss damals so um die 11 Jahre alt gewesen sein, bekamen meine Schwester und ich jeweils einen Plattenspieler zu Weihnachten geschenkt. (Wenn man bedenkt, wie weit die digitale Revolution damals schon fortgeschritten war, vermute ich mal, dass wir damit unter den Babyboomer-Kids eher eine Ausnahme bildeten. Die anderen in unserem Alter haben wahrscheinlich eher irritiert gefragt, was das denn für Dinger seien, wenn sie zufällig über die Plattensammlung ihrer Eltern stolperten.) Während meine Schwester in ihrem Zimmer auf voller Lautstärke Rubber Soul und Graceland rauf und runter spielte, krallte ich mir alles, was ich an Cembalo-Aufnahmen im Plattenregal unserer Eltern fand, unter anderem Wanda Landowskas Goldberg-Variationen – meine erste Begegnung mit diesem Werk. Obwohl sie sich mit ihrem Spiel (einige recht langsame Tempi, kein Rubato, hier und da eigenwillige Verzierungen) eindeutig als Kind ihrer Zeit präsentiert, ist diese Einspielung doch revolutionär: Landowska war die erste, die für eine Aufnahme der Goldberg-Variationen das Cembalo wählte. Damit ebnete sie den Weg für das Revival des Instruments im 20. Jahrhundert. Das Arrangieren berühmter Werke für andere Instrumente oder Besetzungen wurde und wird oft eher belächelt – ganz anders im Fall Landowska. Sie brach mit dem Gewohnten, stellte Konventionen infrage und suchte durch das Instrument, das Bach selbst verwendete, aktiv nach einem modernen Zugang zu seiner Musik.
Nach meinem Umzug von Tennessee nach Großbritannien beschallte ich, wenn mich Anflüge von Heimweh heimsuchten, unser Wohnheim mit den Dixie Chicks oder hörte samstagnachts in quasireligiöser Andacht die Radiosendung »Prairie Home Companion«. Im Zuge dessen habe ich Bluegrass und Folk wiederentdeckt. Kurz darauf verliebte ich mich in die Alben von Chris Thile, besonders die aus seiner Zeit beim Nickel Creek Trio. Seine Version der ersten Goldberg-Variation mit dem Zupfkollegen Mike Marshall bringt mich immer wieder zum Lächeln. Seine sehr natürlich fließenden Sechzehntelnoten ähneln den Notes inégales, jenen kleinen Schwankungen der Tondauer eigentlich gleichlanger Noten, die in der historischen Aufführungspraxis verwendet werden.
Während der Highschool vertiefte ich mich beim Klavierüben zum ersten Mal richtig in die Goldberg-Variationen, was mich dazu brachte, das Internet nach guten Aufnahmen zu durchforsten. Das Jacques Loussier Trio kannte ich schon von meinem Vater (einem Posaunisten, der sich früher in Nashville als Studiomusiker verdingt hat), aber ich hatte die Gruppe immer sträflich ignoriert – bis ich ihre Version der zweiten Variation hörte. Eigentlich gibt es unter allen Goldbergs nur drei Moll-Variationen. Pianist Loussier, Bassist Pierre Michelot und Perkussionist Christian Garros fügen hier quasi noch eine weitere hinzu, drehen die ganze harmonische Struktur durch den Fleischwolf und würzen den Kontrapunkt mit einem eisigen e-Moll. Die Goldberg-Variationen sind so sehr dominiert von der immer gleichen Akkordfolge, dass man oft überhört, wie schön eigentlich die Melodien sind. Das Jacques Loussier Trio bringt sie hier zu ihrem eigenen Recht.
Während meines Bachelorstudiums in Cambridge wurde eines der Top-Ensembles der Stadt, die Academy of Ancient Music, von Richard Egarr geleitet. Wir verehrten ihn beinahe kultisch, gingen wann immer möglich zu seinen Konzerten. Wieder und wieder war ich beeindruckt von seiner Fähigkeit, eine Klanglichkeit und Strahlkraft zu erzeugen mit dem Cembalo, einem Instrument, dem man eigentlich nachsagte, etwas zu spitz und überartikuliert zu klingen. Die 20. Variation spielen viele sehr nervös oder staccato. Egarr schafft hier einen Klang, der vielmehr an den zarten Ton einer Laute oder Theorbe erinnert.
So wie man an Glenn Gould und Gustav Leonhardt nur schwerlich vorbeikommt, wenn man die Goldberg-Einspielungen des 20. Jahrhunderts erkunden will, ist es quasi unmöglich, über die Variationen in den USA des 21. Jahrhunderts zu sprechen, ohne dass der Name Jeremy Denk fällt. Als ich am Oberlin College studierte, war er der Absolvent, über den alle redeten, und mit seinem Blog ein Vorbild für die, die verständlich und zugänglich über klassische Musik schreiben wollten, ohne dabei platt zu sein. Ein paar Tage vor meinem Master-Abschlusskonzert, bei dem ich die Goldberg-Variationen auf der Harfe spielen wollte, stolperte ich über Denks NPR-Artikel »Why I Hate the Goldberg Variations«. Ich hatte mir mit diesem Werk für mein Master-Recital zu viel vorgenommen, Denks Text tröstete mich etwas in meiner Verzweiflung. Seine Einspielung ist auch für sich allein wundervoll. Aber durch den in seinen Texten vermittelten intellektuellen Überbau erscheint sie nochmal in einem ganz neuen Gewand.
Seit meinem Umzug nach New York mutiere ich mehr und mehr zum Dan Tepfer Fangirl. Es erfordert einiges an Mut, in ein Werk vom Format der Goldberg-Variationen eine Solo-Improvisation einzubauen. Tepfers Live-Auftritte genieße ich immer sehr, auch wegen ihres Abwechslungs- und Einfallsreichtums. Diese Improvisation nach Variation 22 aber hat eine wundervolle Nonchalance, die die Geradlinigkeit von Bachs Kontrapunkt fortführt. Tepfer ist als Interpret wie als Improvisator gleichermaßen sensibel – das Ergebnis hätte Bach, der selbst bekannt für seine Improvisationen war, sicher sehr gefallen.
In New York arbeite ich besonders gerne mit der Flötistin und Sängerin Emi Ferguson zusammen. Auf ihrem Album »Fly the Coop« erfindet sie zusammen mit dem Alte Musik Ensemble Ruckus Bachs Flötensonaten neu, mit größerer Continuo-Section und Einflüssen aus Folk und Americana. Außerdem lässt das Album uns ahnen, wie es in Bachs Gehirn zugegangen sein könnte: Die fünfte Variation der Goldbergs wird hier verwoben mit der Flötensonate in C-Dur. Oft heben wir die Goldberg-Variationen auf einen Sockel, betrachten sie irgendwie getrennt von Bachs restlichem Schaffen. Aber in dieser Version werden wir daran erinnert, dass auch der Komponist im Laufe seines Lebens sein eigenes Material immer wieder recycelt und neu interpretiert hat.
Die Playlist schließen möchte ich mit Fretworks Version der Goldberg-Variationen für Gambenconsort. Während alle übrigen Sätze von diesem Ensemble mit Souveränität und Eleganz interpretiert werden, erwacht das Quodlibet durch eine Zeitreise zu besonderem Leben. Die gesamten Variationen über spielt Bach mit Fughettas, dem galanten französischen Stil und virtuosen Cembaloidiomen – nur am Ende nicht. Indem er zwei Volkslieder in einem madrigalähnlichen Stil verbindet, schaut Bach zurück auf das 16. Jahrhundert, in dem das häusliche Musikleben geprägt war von Gesang – und eben dem Gambenspiel. Bei der Übertragung dieses letzten Satzes auf Gamben wird dieses überlebensgroße Werk nicht nur zeitlich zurückversetzt, sondern auch räumlich verschoben, von der Bühne ans Herdfeuer der Lauschenden.¶